Fotos: © Ingrid Schindler
«Mit dem Bärenjäger aufs Eis»
Von Ingrid Schindler
Neue Eiszeit in Finnisch Karelien: Schlittschuhwandern wird im Land der tausend Seen im Norden Finnlands immer populärer.
Wir sehen rein gar nicht nach Eisprinzessin und Eisprinz aus: Jari Heiskanen wappnet uns gegen die Minusgrade mit Thermoanzügen Marke Blaumann, neongelben Sicherheitswesten, dicken Fäustlingen, Wollmützen und Stricksocken. Und erst die Schlittschuhe!
So etwas haben wir noch nicht gesehen: klobig-unförmige Wanderstiefel wie aus den Fünfzigern, an die man sich 45 cm lange Aluminiumschienen mit Stahlkufen schnallt. „Früher waren die Schienen aus Holz und die Kufen aus Tierknochen. Damit sind die Finnen schon vor 4000 bis 5000 Jahren über die Seen gerutscht“, erklärt unser Guide. Die Finnen haben das Schlittschuhlaufen also erfunden, was Forscher von den Universitäten Oxford und Manchester bestätigen.
Das wird nichts mit elegantem Pirouettendrehen. Links, rechts, links, rechts fahren wir die überlangen Kufen aus und heben kaum die Beine, damit wir nicht darüber fallen. Bei Jari sieht das so einfach, rhythmisch und dynamisch aus, wie er mit den Stöcken Gas gibt und rasant dahingleitet. Wir dagegen martern das Eis und uns, rattern, kratzen, stolpern und scharren schwerfällig über den Boden, bis wir nach ein paar Hundert Metern Sicherheit gewinnen und der Spass beginnt.
„Das Eis ist bis zu einem Meter dick und trägt sicher bis weit in den März hinein. Ihr landet nicht bei den Fischen“, deutet Jari unseren skeptischen Blick auf ein Loch im Eis. Das tiefschwarze Nichts unter unseren Füssen ist einer der unzähligen Ausläufer des Saimaa-Sees, des grössten Wasser- und Waldlabyrinths Europas, das fast so gross wie Belgien ist. Darin tummeln sich Saimaa-Ringelrobben und -Lachse, die es nur hier gibt, weil sie bei den eiszeitlichen Landaufwerfungen den Anschluss ans Baltikum verpasst haben und seither im Saimaa-See leben.
Wasser und Wald
Ausgangspunkt unserer Schlittschuhwanderung ist Porosalmi, die Rentierenge. Das ist ein winziger Flecken im Herzen des Seenlands, das mit 12 Einwohnern pro km2 sehr dünn besiedelt. Da freut man sich doch, einem anderen Tourenskater oder einsamen Fischer auf dem Eis zu begegnen, der auf seinem Campingstühlchen vor seinem Eisloch neben seinem Eisbohrer festgefroren scheint. In Ufernähe kann man auch mal auf einen Langläufer treffen und ein unter Birken verstecktes rotes oder gelbes Mökki, Ferienhäuschen, erspähen.
Es herrscht Ruhe auf dem See. Im Gegensatz zum blechernem Schlagerlärm in mitteleuropäischen Eisstadien vernimmt man nur das Aufsetzen der Kufen, das Heulen des Winds und das Pochen des eigenen Herzens in den Ohren. Das Gleiten durch die weite, weisse Schärenlandschaft nimmt beinahe meditative Züge an. Doch bevor man ins Nichts versinkt, ändert sich auf einmal die Szenerie, passiert man eine Engstelle zwischen Felsen, eine Insel, eine Landzunge oder zweigt sich der Weg.
Jari steuert einen Landausläufer an. Nun zeigt sich, wie praktisch das Schuhwerk ist. Wir schnallen die Kufen ab, steigen problemlos mit Stock und Stiefel eine Anhöhe hinauf, um an der anderen Seite des Landrückens wieder aufs Eis zu gehen und die Route abzukürzen.
Auf dem kurzen Landgang erfahren wir, dass Jaris Grossvater Bärenfänger war. „Früher ging ich mit ihm oft auf Bärenjagd. Im Winter muss man wissen, wo der Bär wohnt, dann ist es ein Kinderspiel“, sagt der 59-Jährige und klopft kräftig an eine mächtige Baumwurzel. Hoffentlich ist niemand zuhaus‘. „Der Bär baut sich seinen Unterschlupf unter umgestürzten, grossen Fichten, im Wurzelwerk umgestürzter Bäume, in Senken und Felsen. Man muss schon laut klopfen, damit er aus dem Winterschlaf erwacht.“ Die Jäger brauchten sich bloss um den Bärenbau postieren und abdrücken, sobald das wütende Tier erschien. Hin und wieder landet bei Jari auch heute noch Bärenfleisch im Topf.
Fire on Ice
Apropos Topf, nach zwei Stunden knurrt uns der Magen. Der erfahrene Naturguide hat vorgesorgt. Wir legen eine Pause auf einer Felseninsel im Linnansaari Nationalpark ein. Sie gehört Jari, wie andere Inseln und das grosse Blockhausresort Järvysidän in Porosalmi auch. An einer Feuerstelle steht schon eine Kiste für den Lunch bereit. Während wir es uns auf den Rentierfellen um die Feuerstelle bequem machen, erledigt Jari den Küchendienst. Holz hacken, Späne machen, Feuer entfachen, Eintopf übers Feuer hängen. Die kulinarische Schatzkiste enthält nämlich nicht nur Kaffeepulver, Käse, Schinken, Kuchen und Getränke, sondern einen gusseisernen Topf mit Elchstew, den man nur noch mit Schnee verdünnen und am Dreibein übers Feuer zu hängen braucht.
Während das Süpplein köchelt, giesst der Grossgrundbesitzer alkoholfreies, finnisches Bier und warmen Punsch in Holztassen, die angenehm die Hände wärmen. Vor dem ersten Schluck murmelt er ein paar unverständliche Worte – „für den Waldgott“ – und erzählt, wie die Familie zu Land und Wohlstand kam: „1658 kamen meine Vorfahren nach Porosalmi und lebten davon, Baumstämme, die beim Transport übers Wasser auf den Grund gesunken waren, zu bergen, zu trocknen und zu verkaufen. Porosalmi lag damals an der Grenze zwischen Russland und Schweden und befand sich an der Strasse zwischen St. Petersburg und Oulu im Norden des Baltikums.“ Strasse? Weit und breit ist nichts zu sehen. Gemeint ist die Wasserstrasse über den Saimaa-See, über die man seit 350 Jahren im Sommer Waren, Waffen, Soldaten und Holz auf Booten und im Winter mit Pferdeschlitten übers Eis transportierte. „Das war mit Abstand der schnellste, beste und sicherste Weg von St. Petersburg nach Oulu“, so Jari.
Winterdienst
Der schwedische König machte zur Auflage, dass an dieser Eisstrasse alle zehn bis 20 km eine Station zum Pferdewechseln eingerichtet werden müsse. Weil die Heiskanens dem König dabei gute Dienste leisteten, schenkte er ihnen ein riesiges Stück Land, das damals kaum etwas wert war. Heute befindet sich darauf u.a. der Familienbetrieb Järvisydän, den mittlerweile Jaris Sohn Markus leitet. Dazu gehören neben exklusiven Villen und Blockhäusern aus versunkenem, jahrhundertealtem Holz ein auf Mittelalter getrimmtes Restaurant, eine Lappenkota und Rauchsauna mit Hotpot sowie ein Outdoor-Zentrum mit breitem Angebot, das vom Schneeschuhwandern, Langlaufen und Schlittschuhtrekking bis zum Outdoor-Picknick reicht.
Jari ist für die Outdoor-Aktivitäten zuständig, inklusive Pflege der Natureisbahnen. Gut gut vier Stunden Zeit pro Tag beansprucht das Schneeräumen mit dem Pickup-Schneepflug. Schliesslich kommen inzwischen über 50 km Natureisbahn zusammen und jedes Jahr werden es mehr. Die Paradestrecke führt von Porosalmi durch den Linnansaari Nationalpark ins 18 km entfernte Oravi, eine andere führt ins 37 km entfernte Savonlinna.
Trainierte Skater bewältigen die Strecke nach Oravi in dreieinhalb bis vier Stunden, die meisten Touristen übernachten jedoch und gleiten erst am nächsten Tag zurück. Wir zählen in jedem Fall zu den Schnecken unter den Läufern, zumal uns auch noch eisiger Nordwind entgegenbläst und das Eis nicht perfekt geräumt ist. Immer wieder stossen wir auf Risse, Rillen, Schwellen und Dellen, über die wir wie ungelenke Michelin-Storche staksen.
Eis verbindet
Jari hat gut zu tun. Die Nachfrage an Natureisrouten, Kursen und Exkursionen steigt kontinuierlich, die Zahl der Schlittschuhtouristen nimmt jährlich um etwa 20 Prozent zu. Schlittschuhwandern sei zum grünen Trendsport geworden, meint der Fachmann, es wäre günstig, unkompliziert und belaste die Natur in keiner Weise. Generell ist Schlittschuhlaufen in Finnland beliebt. Alle Welt drehe am Abend in den Städten am Saimaa-See seine Runden, weil man dabei so gut entspannen, tratschen und Geschäfte machen könne.
Das eigentliche Tourenskaten ist in Holland zuhause. Da jedoch die Niederländer mangels zugefrorener Kanäle immer seltener in den Genuss langer Skatetouren kommen, reisen sie mit zunehmender Begeisterung nach Finnland. Ein Must für die Freaks unter den Skatern aus aller Welt ist der Finland Ice Marathon, der seit 1984 jährlich in Kuopio auf dem Kallavesi See stattfindet. Dieses Jahr findet das Ereignis am 19. Februar statt, bei dem sich wieder Tausende von Skatern aus aller Welt im 200 km, 100 km und in kürzeren Marathons auf dem Eis messen werden.
Finnen und Russen
Ganz oben in der finnischen Touristenstatistik stehen die Schweden und Russen. Die Saimaa-Region ist insbesonders bei St. Petersburgern beliebt, Ostfinnland liegt ja praktisch vor der Tür. Russen treten hier anders auf, als man es von St. Moritz kennt. „Sie suchen Ruhe und Erholung, lieben die Natur, finnisches Design und die Sicherheit. Denn hier wird das Ferienhaus eben nicht gleich ausgeraubt“, sagt Jari.
Ostfinnland bildete mit dem benachbarten Nordwestrussland die historische Region Karelien. Erst 1917 wurde Finnland unabhängig, bis dahin unterstand es entweder der schwedischen Krone oder dem russischen Zaren. Im II. Weltkrieg stellte es sich auf die Seite Hitlers und verlor nach Kriegsende grosse Teile Kareliens an Russland. Die Russen siedelten die Karelier nach dem Krieg zwangsweise um und zerstörten ihre Kultur, weshalb sich in Ostfinnland mehr karelische Tradition findet als in Russland.
Dies gilt auch für die Küche. Man sagt, in Finnland könne man besser Karelisch essen als in Russland. Zum Beispiel im Gutshaus von Anttolanhovi, in dem vieles, das Lomonossov Porzellan, das Mobiliar, die Speisekarte an den russischen Fürsten Demidov erinnert, der auf der Flucht vor der Russischen Revolution mit grossem Staat am Saimaa-See residierte. Unter sämigen Fischgerichten, kräftigen Elcheintöpfen und mit Rentierhack oder Hering gefüllten Piroggen entscheiden wir uns für Gänsebrust und -leber mit Pilzen und süssen Randen, eine typisch russisch-karelische Komposition. Und nach dem üppigen Mahl stossen wir mit russischem Wodka und finnischem Lakritz- und Tannenspitzenlikör an, auf einen herrlichen, langen und energiespenden Tag auf dem Eis.
Land der tausend Seen
Finnische Seenplatte
Die Saimaaregion befindet sich in Ostfinnland an der Grenze zu Russland und ist das grösste zusammenhängende Seengebiet Europas. Das weitverzweigte System von Tausenden von Seen, Flüssen und Wasserwegen besitzt eine Wasserfläche von 4‘782 km2, die Uferlinie ist mit 30‘000 km länger als Frankreichs Küstenlinie. Info www.visitsaimaa.com.
Reisezeit
100-%ige Schneesicherheit gibt es in Karelien nicht. Die Temperaturen liegen im Januar/ Februar bei –8° C, im März bei -3° C. Bei . Von Januar bis März ist der Saimaa-See zugefroren.
Anreise
Flug Zürich-Helsinki retour bei www.finnair.com ab ca. 555 CHF, bei www.blue1.com ab ca. 390 CHF.
Die Zentren des Seenlands sind Mikkeli und Savonlinna. Beide Städte sind mit dem Mietwagen, Zug, Bus und Flugzeug von Helsinki aus in 2,5 bis 3,5 Std. zu erreichen. Mikkeli ist 230, Savonlinna 335 km von Helsinki entfernt, St. Petersburg liegt näher an der russisch-finnischen Grenze als Helsinki.
Unterkunft, Angebote
Blockhaus Resort: Järvisydän, Porosalmi bei Rantasalmi, www.jarvysidan.com, alle Preisklassen; Gutshof mit Gestüt: Kekkolan Kartano, Mikkeli, www.kekkolankartano.fi, mittlere Preisklasse; Designvillen: Antollanhovi, Anttola, www.artdesignvillas.fi, gehobene Preisklasse; Blockhäuser: Oravi, www.saimaaholiday.net/oravi/, günstig; Bauernhof: LomaMokkila, nahe Savonlinna, www.lomamokkila.fi, günstig.
Alle Unterkünfte bieten Essen, Sauna, sportliche Aktivitäten an.
Schlittschuhsafari im Linnansaari Nationalpark von Porosalmi nach Oravi: Package von Fr bis So 119 bzw. 145 Euro/ Pers. (mit Ausrüstung), www.saimaa-holiday.fi.
Glur Reisen in Basel bietet eine Reise „Schlittschuh-Wandern auf dem Saimaa-See“ an, www.glur.ch.