FRONTPAGE

«Mit dem Velo durch Suffolk: Schlösser, Küste und Dörfer»

Von Ingrid Schindler

 

Die Region East Anglia, im Nordwesten Londons abseits der grossen Touristenströme gelegen, bietet englische Lebensart und Landschaften, die aussehen wie sie John Constable (1776-1837) gemalt hat. Ostengland ist kein Land für Velofahrer und gerade deshalb doch! Idylle, wohin man das Velo lenkt.

 

Über weite Strecken sind Fasane und Rebhühner unsere Begleiter. Seelenruhig spazieren die Wildvögel die einsamen Landstrassen entlang. Vernehmen sie das Surren der Tourenräder, suchen manche Schutz in Hecken und Gräben, andere betrachten uns neugierig aus der Nähe. Das kontinentaleuropäische Velo-Insekt, erkennbar an Helm, Polsterhose, Funktions-T-Shirt, Gelsattel und -Handschuhen, ist ein Exot in der ostenglischen Countryside.

Ausser Vögeln staunen Kinder und Bauern, und liebenswürdige, ältere Damen in Museen und Shops, denen wir beim Sightseeing zu Fuss unsere Satteltaschen anvertrauen, fragen, ob wir mit dem Töff unterwegs seien. Auf den verkehrsarmen Nebenstrassen und alten Wegen – eigentliche Radwege sind die offiziellen Suffolk Cycle Routes nicht – begegnen uns deutlich mehr Menschen hoch zu Ross, im Aston Martin Cabrio, Jaguar Oldtimer oder auf dem Traktor als Reisende auf dem Rad. All jene passen auch besser ins ländlich antiquierte Bild.
Vor allem in Suffolk scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Grafschaft wurde im 14. bis 16. Jahrhundert reich durch Wollhandel und Tuchmacherei, vor allem die bestens erhaltenen Wollstädte Lavenham, Bury St. Edmunds und Dedham. Nach dem Niedergang der Wollindustrie kam nichts grosses Neues mehr nach. Die Region verarmte, Altes blieb erhalten, etliche Einwohner wanderten aus, z.B. aus Dedham auf der Mayflower. Heute sind gerade dort wegen des historischen Ortsbilds die Immobilienpreise hoch, wobei auch hier die Finanzkrise ihren Tribut fordert. Viele Häuser in East Anglia stehen zum Verkauf.

Ein bis zwei Stunden Autofahrt von Stansted Airport entfernt trifft man kaum mehr auf ausländische Touristen, höchstens auf ein paar Holländer, die mit den Schnellfähren von Hoek van Holland nach Harwich herüberkommen. Hierher ziehen sich am Wochenende gestresste Londoner in ihre Strohdach-Cottages zurück, schwärmen Birdwatcher, Evolutions-Touristen oder Professoren aus Cambridge – die Universitätsstadt ist 2009 das Zentrum der Darwin-Festivitäten – in die Campagna aus und spüren mit ellenlangen Objektiven Käfer, Rohrdommeln, Wildgänse und Säbelschnäbler in Vogelschutzgebieten wie der Minsmere oder Wicken Fens Reserve auf. Ansonsten kommt man, wie die Royals auch, um in den weiten Heide-, Dünen-, Marsch- und Flusslandschaften aufzutanken.

 

Ein flaches, grün-graues Veloland haben wir erwartet, eine liebliche, hügelige Landschaft in Himmelblau, Rosarot und Sonnengelb haben wir vorgefunden. Das Ale im Pub hat man sich nach dem sanften, aber ständigen Auf und Ab beileibe verdient. Das Blau verdankt Suffolk dem wärmsten und trockensten Klima in Grossbritannien. Das Rosa stammt ursprünglich von Schaf- und vor allem Schweineblut, das man traditionell in den Kalkverputz der Häuser mischte – Suffolk ist bekannt für seine Schweinezucht. Logischerweise steht Pork in vielen Pubs auf der Karte, von Rillettes über Casserolle, Haxe, Pie bis zu Wurst mit Zwiebelsauce.

 

Das leuchtende Gelb bescheren blühende Raps-, Senffelder und Ginsterbüsche, die sich vom tief-satten Britisch-Grün der Wiesen und Wälder und dem hellen Grün der Kornfelder abheben. Aus den feuchten Senken und Flusstälern tauchen mittelalterliche Burgen, Mühlen und elisabethanische Manor-Houses, Bilderbuch-Dörfer mit Fachwerk und eckigen Tudor-Kirchtürmen aus Feuerstein auf. Bluebells, Flieder, Glyzinien, Kamelien und Rosen umspielen uralte Gemäuer und Eichen. Nur Rhododendren und Hortensien sind selten, weil die Böden in Suffolk, abgesehen von der Küste, nicht sauer sind, wie uns Velowart Ian erklärt. Der hat die Reifen der 21-Gang-Hybrid-Leihräder mit extra dickem Mantel ausgestattet, wegen der Feuersteine auf den Wegen: «Flintstones are like glass».


Framlingham, bislang nie gehört, bildet das erste Highlight unserer Tour.
Eine perfekte Postkartenschönheit, an einem verlandenden, fisch- und vogelreichen See, zwischen einem altehrwürdigen, Harry-Potter-tauglichen College und einem atemberaubenden Castle gelegen, das der Herzog von Norfolk 1190 erbauen liess. Maria Stuart weilte hier, als sie noch hoffte, Königin von England zu werden. Zu Füssen der Burg schlagen wir unser windgeschütztes Lager auf und ahnen, dass die Picknickdecke – neben der Duschhaube, die immer griffbereit unter der Kamera im Lenkerkorb liegt – eine bedeutende Rolle auf unserer Tour spielen würde. Herrlich, in der warmen Abendsonne dem Konzert des vielstimmigen Vogelchors zu lauschen, unterlegt von sanften Brisen und dem Lachen von Collegestudenten, die sich am Fuss des Burgfrieds niedergelassen haben. Am nächsten Tag wollen wir uns fürs Picknick rüsten: mit süssem Suffolk-Schinken und scharfem Coleman’s Mustard aus Norwich, frischen Nordseekrabben aus Cromer, Lemon-Cheese-Cake, Käse und Wein aus der Region. Von wegen fette Fish’n’Chips und pampiges Pubfood! Apropos, die besten Fish’n’Chips soll es in Aldeburgh am Strand geben.

 

Am Morgen zerrt uns reges Treiben aus den Federn. Hellhörig sind sie alle, die Landhotels mit den wuchtigen Balken, knarzenden Böden, schiefen Wänden und dem schräg- verstaubten Charme. Samstags ist ganz Suffolk auf den Beinen: auf dem Marktplatz von Framlingham ist die Gartenlust in vollem Gange. Setzlinge werden verglichen, bewertet, gehandelt und wie Trophäen davongetragen. «Das ist das wahre England», kommentiert der Kronenwirt die Anbauschlacht mit Attributen, die auf den ersten Blick einen Widerspruch zu bilden scheinen: «Friedlich, ruhig, keine Hektik, einfach echt und schön».


Die Gasträume des fünfhundertjährigen Crown Hotel sind schon morgens voll besetzt, seit Jahrhunderten der «meeting place, a hub for everybody », wie der Wirt erzählt.
Weiter geht es in slow motion auf dem Velo durch Raum und Zeit. Die Entschleunigung greift. Gern hätten wir noch mehr Zeit, etwa für die traumhafte Küste bei Dunwich und ihre blühenden Teppiche aus Heidekraut und Ginster, für den Schiffsfriedhof Sutton Hoo, das pittoreske Orford und sein Castle, für Abstecher nach Southwold und seinen viktorianischen Pier oder nach Colchester und den Award-winning Zoo. Immer wieder erreichen wir die Küste, setzen mit kleinen Fähren über den Orwell und den Stour über. Rasch wechseln die Eindrücke: Fischerbuden in Shotley, mondäne Strandvillen und bunte Badehütten in Felixstowe, geschäftige Hafenatmosphäre in Harwich.

 

Je weiter wir landeinwärts am Stour entlang fahren, desto mehr schlägt uns der stille Reiz des Constable Country in seinen Bann. Wie gemalt schlängelt sich der Fluss, der die Grenze zu Essex bildet, zwischen Flatford Mill und Stratford St. Mary durch die Rieselwiesen. Jede Kuh und jeder Kahn, die Brücken, Birken und Mühlen, alles erinnert an John Constables Gemälde. «Those scenes made me a painter», sagte der bedeutendste englische Landschaftsmaler(1776 – 1837), nach dem der Uferweg benannt ist.
Einziger Nachteil der Pastorale ist das Velo. Auf dem Constable Walk geht man zu Fuss – wegen der zahlreichen Brückenbarrieren und Viehgatter. Es sei denn, man verfügt über genügend Kraft und Grösse für den Veloheber, um die Räder über die Hindernisse zu hieven. Besser parkt man sie in Dedham, wo es ohnehin viel zu sehen gibt: rosarote Häuser, hübsche Geschäfte, Galerien, Tea-Salons, romantische Gärten oder das Museum des Pferdemaler Alfred Munnings.

 

Im Dedham Vale, im Tal des Stour, befinden sich zwei Spitzenunterkünfte East Anglia‘s: das wunderschön eingerichtete, von Constable, Gainsborough und Wordsworth inspirierte Maison Talbooth, wo man auch klassischen High Tea mit Scones, Gebäck und Sandwiches zelebriert, das modernere Milsoms sowie das Talbooth Restaurant direkt am Fluss, die wegen ihrer Beliebtheit frühzeitige Reservation erfordern. Dort kann man sich, wie u.a. auch in Seckford Hall in Woodbridge, wo schon Elisabeth I. Hof hielt, oder in The Pier in Harwich, wo eine ausgezeichnete Fischküche mit Blick auf den Hafen serviert wird, überzeugen, dass die englische Küche besser ist als ihr Ruf. Ach, und was den Regen betrifft, so haben wir vorsorglich auf dem Weg durch weitere Filmkulissen-Orte wie Kersey, Cavendish, Orford und Lavenham fleissig in unseren Unterkünften Duschhauben gesammelt. 14 Stück haben wir mit nach Hause gebracht, keine einzige mussten wir über den Velohelm ziehen. Nass geworden ist in England nur die Picknickdecke. Vom feuchten Gras von unten.

 
Die Velotour: «Suffolk: Schlösser, Küste und Dörfer» (8 Tage, 7 ÜN mit Frühstück in 3-Stern-Hotels, täglicher Gepäcktransport, Karten, Routendokumentation, Pannendienst) bietet Eurotrek mit Leihrad an.

Die individuelle Rundtour kann bis 23. September täglich gestartet werden, Verlängerung ist möglich. Die Anreise ist nicht enthalten; am besten fliegt man mit Ryan Air oder Easy Jet nach London Stansted und reist mit dem Zug über Cambridge nach Bury St. Edmunds, dem Start und Ziel der Tour. Die Tour ist leicht (im Schnitt gut 50 km/ Tag), hügelig und Einsteigern zu empfehlen. Eurotrek (www.eurotrek.ch) ist schweizweit der grösste Anbieter von Velo- und Aktivferien in Europa. In East Anglia arbeitet Eurotrek mit Cyclebreaks, dem Spezialisten vor Ort, zusammen.
Aktuell: Es lohnt sich, eine Verlängerung einzuplanen, zum Beispiel in North-Norfolk, Colchester oder Cambridge. Die Universität besitzt die grösste Darwin-Sammlung der Welt und die Stadt bietet spezielle Darwin-Führungen an.
Ostengland eignet sich auch als Destination für Weekendtrips mit Leihwagen. Unsere Favoriten für ÜN sind die Milsom Hotels, www.milsomhotels.com, sowie das 5-Sterne B&B Incleborough House in East Runton bei Cromer, www.incleboroughhouse.co.uk.

 

Weitere Informationen: www.visitbritain.ch. Der beste Reiseführer (es gibt keinen Deutschsprachigen) ist der East Anglia Guide to Rural England von Country Living Magazine, www.travelpublishing.co.uk.

 

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