Jakob Kellenberger, Bild: zvg
«Mittendrin und doch aussen vor: Die Schweiz in Europa»
Von Jakob Kellenberger
Die Schweiz gilt als Friedensinsel und liegt mitten in Europa. Trotzdem gehört sie nicht zur europäischen Friedensgemeinschaft EU. Wie ist das möglich? Der ehemalige Spitzendiplomat Jakob Kellenberger nennt die Dinge beim Namen und erklärt Zusammenhänge, die in den Diskussionen über das Verhältnis Schweiz–EU oftmals ausgeblendet werden. In ungewöhnlich klaren Worten stellt Jakob Kellenberger die Deutungshoheit des Verhältnisses der Schweiz zur EU infrage und untersucht die gängigen Denkmuster zur Souveränität oder Neutralität. Er erklärt wichtige und oftmals ausgeblendete Zusammenhänge, wie zum Beispiel jenen um den Grund und den Zeitpunkt für das Beitrittsgesuch des Bundesrats im Mai 1992. Die EG wurde in der Schweiz nie als das angesehen, was sie in ihrem Kern ist: Eine Friedensgemeinschaft.
Seit es die Europäische Gemeinschaft gibt, prägen die immergleichen Wort- und Propagandakämpfe die Diskussionen über die Beziehung der Schweiz zur EU. Die Fronten reiben sich an Begriffen wie ‚Neutralität‘ oder ‚Souveränität‘. Warum das Begriffliche so wichtig ist, erklärt Jakob Kellenberger in seinem Buch «Wo liegt die Schweiz?»: «Begriffe beeinflussen Wahrnehmung, Gefühle und Handlungsbereitschaft der Menschen». Und er stellt fest: «Nationalkonservative Kreise liefern seit Jahrzehnten die Begriffe, in denen über das Verhältnis Schweiz – EU diskutiert wird. Sie liefern diese Begriffe, und sie deuten sie». Mit seinem Buch stellt der ehemalige Spitzendiplomat überraschend direkt die Deutungshoheit infrage. Er erklärt wichtige und oftmals ausgeblendete Zusammenhänge, wie zum Beispiel jenen um den Grund und den Zeitpunkt für das Beitrittsgesuch des Bundesrats im Mai 1992.
Die EG wurde in der Schweiz nie als das angesehen, was sie in ihrem Kern ist: Eine Friedensgemeinschaft. Jakob Kellenberger erinnert mit Nachdruck daran, dass sie nach den verheerenden Kriegserfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist: «Une Fédération européenne indispensable à la préservation de la paix», zitiert Kellenberger aus Robert Schumanns Erklärung vom 9. Mai 1950. Die Föderation sollte Deutschland und Frankreich «et les autres pays qui y adhéreront» wirtschaftlich aneinander binden, um künftige Kriege zu vermeiden. Wie reagierte die Schweiz darauf?
Die schweizerische Europadiskussion verläuft oft in Unkenntnis der geografischen Lage des Landes und deren Folgen. Das kann zu ärgerlichen Missverständnissen über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen führen. Der Buchtitel nimmt diese Feststellung auf. Der Widerstand gegen eine offene Auseinandersetzung darüber ist verständlich, obwohl sich das Land zur Lage im heutigen Europa eigentlich nur beglückwünschen kann. Diese Auseinandersetzung ist nicht zu trennen von der Beschäftigung mit Grössenordnungen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Das bereitet Mühe, besonders uns Schweizern: Bald schrumpfen wir uns peinlich klein, bald blasen wir uns auf, was noch fast peinlicher ist.
Vor 25 Jahren herrschte eher die Schrumpf-, heute eher die Aufblasphase. Die bösen Schwankungen versperren uns emotional den Weg zum normalen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein eines europäischen Landes. Störungen können durchaus harmlose Formen annehmen und treten in allen Ländern auf. Eine eher harmlose Störung liegt vor, wenn sich der Selbstwert in erster Linie am Pro-Kopf-Einkommen oder an der Wettbewerbsfähigkeit misst, die dem Land von irgendwelchen, selten uneigennützigen Publikationen zugeordnet wird. Die Schwierigkeit, die angemessene innere Temperatur zu finden, äussert sich gerne in dem, was ich als ruppigen «Dreitakt» zu bezeichnen pflege: Ein zuvor fast zum Identitätsmerkmal verklärter Gegenstand gilt als unverhandelbar; drohen als Folge der Unverhandelbarkeit grosse wirtschaftliche Nachteile, wird er verblüffend rasch verhandelbar. Die rhetorische Wiederaufrüstung nach Aufgabe des Unverhandelbaren und die Feier der Kontinuität im sich wandelnden Umfeld folgen auf dem Fuss. Von daher ist es durchaus stimmig, wenn im Parlament bald ein Souveränitätsgesetz behandelt werden soll, nachdem Washington die Grenzen der Selbstbestimmung äusseren Handelns im Steuerbereich unmissverständlich deutlich gemacht hat. Das Risiko hat nach den gemachten Zugeständnissen abgenommen, dass der Entscheid zwischen Lieferung von Kundendaten und möglichem Konkurs einer Grossbank so bald wieder gefällt werden muss. Das Souveränitätsgesetz kommt spät für die aussenwirtschaftliche Anwendung, aber vielleicht nicht für interne souveränitätspolitische Aufrüstungsversuche. Das «integrale» Bankgeheimnis gehört der Vergangenheit an. Die Weissgeldstrategie ist keine Erfindung aus einer schweizerischen Leidenschaft. Eine breite abstrakte Souveränitätsdiskussion kann die Erinnerung an die letzten Jahre doch in ein milderes Licht tauchen. Der Dreitakt wird nicht ungern gekrönt von politischen oder medialen Aufrufen zum Selbstbewusstsein. Die Aufrufe erfolgen in der Regel, wenn sich die gröbste Gefahr verzogen hat, weil andere die dafür notwendigen Zugeständnisse gemacht haben.
Diese Stimmung und diese Gewohnheiten erschweren die richtige Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Sie erklären auch die Langeweile aus den immergleichen Wort- und Propagandakämpfen, die das Verhältnis Schweiz – EU zum Gegenstand haben. Entwicklungen im unmittelbaren Umfeld der Schweiz wecken, wenn überhaupt, beschränktes Interesse und spielen eine untergeordnete Rolle im Vergleich zum Kampf mit Begriffen und Redensarten, die als Mittel zum Verständnis tatsächlicher Verhältnisse an Bedeutung eingebüsst oder längst ausgedient haben. Das beschränkte Interesse für die europäische Wirklichkeit lädt ein, sich mit der geografischen Lage des Landes und deren Bedeutung zu befassen. Bürger und Bürgerinnen müssen tatsächlich auf gelegentliche Abstimmungen warten, um zu erfahren, dass die Schweiz gleich viele Güter in die Lombardei exportiert wie nach ganz China. Es hat unter anderm damit zu tun, dass die Schweiz keine Insel im südchinesischen Meer ist, obwohl der Umzug manch einem Politiker gefallen könnte, der sich in autoritäreren Räumen wohler fühlt. Das Buch handelt also auch vom Prinzip der Nähe.
Entstanden ist dieses Buch in erster Linie aus dem Wunsch, Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen oder bewusster zu machen. Es geht um aussenpolitische Zusammenhänge und solche zwischen Innen- und Aussenpolitik. Es geht um Zusammenhänge, die bald mit Absicht, bald aus Unkenntnis im Dunkeln blieben. Manche Kritik am Beschluss des Bundesrats, im Herbst 1991 den EU-Beitritt als neues Ziel zu setzen und
im Mai 1992 Beitrittsgesuche zu den damals drei Europäischen Gemeinschaften (EG) einzureichen, ist nur aus Unkenntnis wichtiger Zusam-menhänge erklärbar. Dazu gehören die europäischen Entwicklungen seit 1989 und der Verlauf der EWR-Verhandlungen. Wer sich für die Verknüpfung von Inkrafttreten und Geltungsdauer der Verträge interessiert, die unter der Bezeichnung Bilaterale I segeln, wird sich etwas Zeit für die damaligen innenpolitischen Entwicklungen in der Schweiz und die Verhandlungsgeschichte nehmen müssen.
Das Buch will der Spur einer ungewöhnlichen Situation nachgehen. Ungewöhnlich ist die Situation, dass die Schweiz mit ihrer geografischen Lage und Geschichte nicht Mitglied der Europäischen Union (EU) ist. Wie konnte erreicht werden, dass sich im Bewusstsein vieler Köpfe der natürliche Weg als der ungewöhnliche, als der abenteuerliche, im Extremfall als der existenzgefährdende festsetzte? Sich mit Geschichtsdeutungen und Begriffsturnen in diesem Zusammenhang zu befassen, ist zwingend, wie alt und teilweise überholt die Begriffe auch sind, an denen geturnt wird. Es ist keine geringe Leistung, eine weitgehend zur europäischen Geschichte parallel laufende Schweizer Geschichte als grundsätzlich gegenläufig darzustellen und für die Deutung noch Abnehmer zu finden. Der Gegenläufigkeitszauber schweizerischer Geschichte im Verhältnis zur europäischen ist ein Thema. Ich finde es ungewöhnlich, dass die Schweiz nicht Mitglied der EU ist. Einem seit Jahrzehnten mit Unterbrüchen herrschenden Denk- und Deutungsmuster wird ein anderes zur Seite gestellt. Viel mehr wird nicht erwartet, als dass das zweite das erste leicht durchlüftet.
Wenn Wirklichkeit Wirkungsgeschichte ist – und das ist sie auch –, dann spielen die Begriffe, mit denen wir uns mit der EU auseinandersetzen, eine wichtige Rolle. Wer über Begriffe, Redensarten und Bilder bestimmt, die im Verhältnis zur EU zur Anwendung kommen, übt einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung europäischer Wirklichkeit aus. Souveränität innenpolitisch bezeichnet auch Macht und Fähigkeit zu bestimmen, worüber und worüber nicht geredet wird und wie geredet wird über das, worüber geredet werden darf. Das siebte Kapitel ist mir entsprechend wichtig, auch im Wissen darum, dass die Weichen in der Schweiz auf absehbare Zeit gestellt sind.
Leserinnen und Leser werden spätestens im neunten Kapitel feststellen, dass ich die Schaffung der EU als das grösste politische Projekt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansehe. Diese Wertung hängt damit zusammen, dass ich Frieden für wichtig und nicht für selbstverständlich halte, vor allem nicht in Europa. Die EU hat mit ihrer Erweiterungsbereitschaft zur Festigung von Demokratie und Rechtsstaat in Europa und, trotz aller Schwierigkeiten, auch zur Förderung des Wohlstands entscheidend beigetragen, namentlich mit der fünften Erweiterung. Mit «entscheidend» meine ich unvergleichlich viel mehr als jede andere europäische Organisation. Die gelegentliche Leistung ‚Guter Dienste‘ lässt sich mit der Mitgliedschaft in einer solchen Gemeinschaft nicht vergleichen. Die Mitgliedschaft würde die Dienste überdies nicht verunmöglichen.
Ohne gelegentliche Ausflüge in die Geschichte kann ich es nicht machen, wird doch oft auch historisch argumentiert, wenn Empfehlungen zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union abgegeben werden. Wie gleichläufig oder wie gegenläufig verlief die Geschichte in Europa im Allgemeinen und auf dem heutigen Gebiet der Schweiz im Besonderen?
Auch Geschichte auf dem Gebiet der Schweiz kann verschieden dargestellt werden, mit verschiedenen Zwecken. Der Wille zur Wahrhaftigkeit kann wie anderswo hinter die Zwecke zurücktreten. Die Dreiteilung zwischen dem losen Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft, den Umwälzungen zwischen 1798 und 1848 und dem Bundesstaat scheint mir vor Missbrauchsversuchen den besten Schutz zu bieten. Emotionale Entfremdung der Schweiz von der EU darf nicht der Zweck der Geschichtsdarstellung sein. Wir handeln von der Geschichte eines europäischen Gebiets betroffen, beeinflusst und geprägt von europäischen Entwicklungen.
Was missfällt mir am gegenwärtigen Zustand der EU? Es ist die Unlust und/oder der Unwille, für die Zukunft dringende und wichtige innere Verhältnisse zu klären. Die Klärung der Beziehung zu Grossbritannien ist besonders überfällig. Wohlklingende Wortmissbräuche wie Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) führen Bürger über den tatsächlich erreichten Integrationsstand in der EU in die Irre. Sie hätten vielmehr ein Anrecht zu wissen, dass der Wunsch nach einer GASP gerade nicht dem Wunsch aller Mitgliedstaaten entspricht. Wache Beobachter werden rührende Zeichensetzungen und gelegentliche Beschlüsse über zivile und militärische Missionen nicht mit einer GASP verwechseln. Interessieren könnte sie immerhin die Frage, wo Zeichen gesetzt werden und wo nicht und weshalb wo nicht. Sie werden die so beliebten Zeichensetzungen und gelegentlichen Beschlüsse über zivile und miltärische Missionen auch nicht mit einer GASP verwechseln. Der Emanzipationsbedarf der aussen- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit der EU- Mitgliedstaaten von den USA ist unübersehbar, vom Nahen Osten bis zu den Beziehungen zur Russischen Föderation. Eine Partnerschaft schliesst dies nicht aus, aber bitte auf Augenhöhe. Der Weg vom gegenwärtigen Abhängigkeitsverhältnis zu einer solchen Partnerschaft ist aber weit und voraussetzungsreich.
Ich halte die Schaffung der Währungsunion für ein Projekt, das leichtfertig und zu früh in die Welt gesetzt wurde. Der für einen solchen Schritt notwendige Integrationsstand und der Grad des Zusammengehörigkeitsgefühls waren 1992 nicht erreicht. Die mangelnde Ernsthaftigkeit in der Durchführung des Projekts kann dieses Gefühl nur bestätigen. Das Gemeinschaftsgefühl wurde durch das Projekt nach meinem Dafürhalten nicht gestärkt, eher im Gegenteil. Die Antwort auf die Frage, ob der Versuch, den Euro in der jetzigen Zusammensetzung der Eurozone zu retten, Zusammenhalt oder Zwietracht in der EU fördert, halte ich für offen. Die bisherigen sozialen und politischen Begleitschäden der sogenannten Rettung sind namhaft, auch wenn gerade die Letzteren ungern angesprochen und mit Zeichensetzungen überklebt werden. Ich denke an kaum mehr für möglich gehaltene Ausbrüche nationaler Ressentiments und sich verbreitende Zweifel an der EU als Rechtsgemeinschaft. Mir fällt auf, wie selten daran erinnert wird, dass der EU-Binnenmarkt, das EU-Kernstück, schon ohne Währungsunion leidlich gut funktionierte. Das Versprechen, einen entscheidenden Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten, lösten bisher weder der Binnenmarkt allein noch der Binnenmarkt und die Währungsunion zusammen in einigen Mitgliedstaaten ein.
Das ist aber einmal mehr ein Hinweis auf die anhaltende Bedeutung nationaler Wirtschafts-, Haushalts- und Sozialpolitik. Die Diagnose «unumkehrbar» und «alternativlos» taugt für die Währungsunion so wenig wie für andere Einrichtungen. Der Einsatz solcher Worte eignet sich ohnehin eher für leicht zu verunsichernde Gemüter. Sie soll jetzt ihren Mehrwert beweisen, ihren politischen und ihren wirtschaftlichen. Ausgeschlossen ist ja nicht, dass eine neue Ernsthaftigkeit einkehren wird. Für bereits eingekehrt halte ich sie nicht.
Die künftige Gestaltung der Beziehungen zur EU und die weitere Zukunftsvorbereitung haben meines Erachtens auf zwei Ebenen zu geschehen. Eine Alternative zum sektoriellen bilateralen Ausbau der Beziehungen zur EU ist nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 auf absehbare Zeit nicht erkennbar. Mit dem Post-92-Bilateralismus und der Rückkehr zum Freihandelskonzept von 1972 stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Die Vertreter des ersten Konzepts wollen den seit 20 Jahren eingeschlagenen Weg fortsetzen, die Vertreter des zweiten legen den Akzent auf eine autonome Ausländerpolitik und scheinen bereit, im Austausch dafür bescheidenere Ansprüche an die Qualität des Zugangs zum EU-Binnenmarkt und die Zusammenarbeitssicherheit mit der EU zu stellen. Souveränitätspolitische Empfindlichkeiten im Zusammenhang mit dem Post-92-Bilateralismus und seinen institutionellen Voraussetzungen sind vielleicht auch als Teilkompensation für die im Verhältnis zu den USA brutal sichtbar gewordenen und akzeptierten Grenzen der Souveränität zu sehen, um einer Grossbank ein angeblich existenzgefährdendes Strafverfahren zu ersparen. Breitspurige Souveränitätsdiskurse haben seither bös an Glaubwürdigkeit verloren.
Beide Wege sind mir vertraut, als Sekretär der Gemischten Ausschüsse der beiden Freihandelsabkommen in den 1970er-Jahren in Brüssel und als Koordinator und Chefunterhändler der Verhandlungen über die sogenannten Bilateralen I 1994–1998. 1972 zählte die EU sechs Mitgliedstaaten, heute zählt sie 28. Sie hat zu Staaten, die heute als Drittländer einen Zugang zum EU-Binnenmarkt ähnlicher Qualität wie Mitgliedstaaten anstreben, eine andere Erwartungshaltung als zu Staaten, die 1972 Freihandelsabkommen abschlossen.
Es ist ein eindrückliches Beispiel für den Diskurs in der Enge, dass heute in einem Land wie der Schweiz nicht über EU-Beitritt und Nicht-EU-Beitritt diskutiert wird, sondern über zwei Konzepte bilateraler Beziehungsgestaltung. Eines von ihnen stammt aus den 1970er-Jahren. Wer wagte die Aussage, es gebe nicht noch Beispiele für den Sonderfall?
Zukunftsweisender wäre die gelegentliche Auseinandersetzung mit unserer Einstellung zur EU und zu ihren Mitgliedstaaten. Wie diese Einstellung zustande gekommen ist, ist dabei mindestens so lehrreich wie das vorläufige Ergebnis. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu dieser Auseinandersetzung kommt, ist gering; auch deshalb, weil sie fast unvermeidlich zu einer ehrlichen Beschäftigung mit uns selbst und unserer Geschichte führte. Nicht dass wir diese neue Erfahrung zu fürchten hätten. Die Konstruktion des Sonderfalls in «Wohlfühlbegriffen» würde allerdings erschwert. Der Sinn der Zeit könnte eher dahin gehen, dass wir uns vermehrt aufgrund unserer Lebensweise und unseres Verhaltens in zwischenstaatlichen Beziehungen definieren, vor allem wenn wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel stehen, etwa Bankenlizenzen oder Kriegsmaterialausfuhren. Es könnte schwieriger werden, Kriegsmaterialausfuhren nach Saudi-Arabien und humanitäre Tradition in einem Zug zu nennen. Der Aufwand für den Aufbau eines neuen Sonderfalls ist nicht zu unterschätzen. Aus dieser Beschäftigung mit unserer Verhaltensweise ginge ein normales erfolgreiches europäisches Land hervor, mit Errungenschaften, die nicht zur Disposition stehen.
Unser tatsächliches Verhalten im Verhältnis zu den USA lehrt uns mehr über uns selbst als spitzfindige Souveränitätspredigten. Der Stellenwert, den wir einem ausgreifendem Souveränitatsverständnis zuschreiben, lässt sich am besten am wirtschaftlichen Preis ablesen, den wir für seine Durchsetzung zu bezahlen bereit sind. Gross kann er bei einer solchen Betrachtungsweise nicht sein. Die Bedeutung, die auch heute noch nationaler Souveränität beigemessen wird, ist selbstverständlich keine schweizerische Besonderheit. Unterschiedlich ist allenfalls die Bereitschaft, in verbreiteten Souveränitätsvorstellungen die Wirklichkeit, die eigenen Möglichkeiten und die Grenzen eigener Möglichkeiten zu berücksichtigen. Ein EU-Mitgliedstaat fühlt sich kein Jota weniger souverän als wir. Der Beitritt war im Gegenteil auch mit dem Wunsch begründet, den Grad tatsächlicher Souveränität zu heben.
Die erwähnten Voraussetzungen für eine Diskussion über das Verhältnis Schweiz – EU, die sich nicht in Diskussionen über Untervarianten der Variante Nicht-EU-Beitritt erschöpfen, werden so rasch nicht erfüllt sein. Mehr als 70 Jahre nach der Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaft und 20 Jahre nach den EU-Beitritten Finnlands, Österreichs und Schwedens mag es auch nicht mehr besonders eilen. Den Gegenwartsnutzen von Bekenntnissen zu einem längerfristigen EU-Beitritt halte ich für beschränkt, das hartnäckige Bestehen auf der Beantwortung von Fragen, die seit Langem einer klaren Beantwortung harren, für nützlicher.
Gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, es werde tatsächlich einmal eine offene europapolitische Diskussion stattfinden, werden die Folgen eines EU-Beitrittts – Vor- und Nachteile – zwangsläufig im Zentrum stehen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten prägen die europäische Wirklichkeit. Diese unwahrscheinliche Diskussion könnte mit der Antwort auf ein paar Fragen vorbereitet werden: Was sind der Schweiz die bestmögliche Absicherung des Zugangs zum grössten Binnenmarkt der Welt und der Anspruch auf Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten wert? Was ist ihr die Möglichkeit wert, im EU-Rat, dem Entscheidungsorgan der Mitgliedstaaten, mit gleichgesinnten Mitgliedstaaten Allianzen zur Förderung eigener Anliegen zu bilden? Was die gleichberechtigte Partnerschaft mit den Ländern, die ihr am nächsten liegen? Was die Mitentscheidung in Brüssel, vor allem wenn es um die längerfristige Ausrichtung der EU geht, die sich auf uns auswirkt, unabhängig davon, ob wir Mitglied sind oder nicht? Sind uns diese Vorteile beschränkte Anpassungen im Bereich der Volksrechte und vielleicht des Föderalismus wert, die das bestehende politische und gesellschaftliche System in keiner Weise infrage stellten? Sind sie uns einen mutmasslichen jährlichen Nettobeitrag von 3 bis 4 Milliarden Franken an den EU-Haushalt wert?
Ins Allgemeine gewendet: Begründungspflichtig für ein Land in der Lage der Schweiz ist nicht der EU-Beitritt, sondern seine Ablehnung. Vielleicht sind die Argumente der Beitrittsgegner zustimmungsfähig, Argumente müssen es aber endlich sein, und zwar kritikfähige Argumente. Den eigenen politischen Zwecken zurechtgelegte Geschichtsdeutungen, die Übertreibung eigener Verdienste und die Geringschätzung der EU-Leistungen im Interesse von ganz Europa, Begriffsturnen ohne Wirklichkeitkeitsbezug sind keine Argumente. Wem an Klarheit liegt, wird auch den irreführenden Eindruck vermeiden, es sei möglich, bedarfs- und wunschgemäss gleichzeitig innerhalb und ausserhalb der EU zu sein. Man möchte sich gelegentlich einen strategischen, mit Vorstellungskraft angereicherten Blick auf die EU wünschen.
Mehr in Einzelheiten eintretende Darstellungen sind in Anhängen untergebracht, um den Text leserfreundlicher zu halten. Wer Interesse am genaueren Verlauf der EWR-Verhandlungen und der Bilateralen hat, wird die eine oder andere Information finden, welche die Einordnung der Ereignisse und des Verlaufs der Verhandlungen erleichtert. Da ich an den Bilateralen II selbst nicht mehr beteiligt war, verzichte ich auf einen Anhang dazu. Was mir daran von allgemeinerem Interesse erscheint, ist im ersten Kapitel untergebracht. Ich war Chefkoordinator/- unterhändler der Bilateralen I und Stellvertreter des schweizerischen Unterhändlers in den EWR-Verhandlungen. Zur Zeit der Bilateralen II war ich bereits Präsident des IKRK.
(Buchauszug mit freundlicher Genehmigung des NZZ Buchverlages)
Jakob Kellenberger
Wo liegt die Schweiz?
Gedanken zum Verhältnis CH–EU
Buchverlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2014
256 Seiten, Format 15 × 22 cm, gebunden
CHF 39. € 34.
ISBN 978-3-03823-929-1