FRONTPAGE

«Modern Times: William Turner in München im Lenbachhaus»

Von Ingrid Schindler.

Dem Lenbachhaus ist mit der Ausstellung «Turner Three Horizons» ein Coup gelungen. Auf dem Kontinent waren noch nie so viele Werke aus Turners Nachlass zu sehen. Berühmten Werken stehen Ölgemälde, Skizzen und Studien aus dem Nachlass gegenüber, die der Vorreiter der Moderne und gewiefte Stratege nie zeigte.

Links die berühmten dramatischen Seestücke, verschwommenen Landschaftsimpressionen, atmosphärischen Nebel- und Unwetterbilder, rechts noch diffusere Stimmungen in Venedig, über dem Vierwaldstättersee oder an der Donau, auf denen in flirrendem Licht und irrlichternder Farbe fast nichts zu erkennen ist. Wären die langen Titel nicht, dann könnten die Szenen alles und nichts sein.

«Feenland», wie manche zeitgenössischen Kritiker dazu sagten, sofern sie dem weitgereisten Joseph Mallord William Turner freundlich gesonnen waren. Oder mit Wischmopp, Kakao, Eigelb und Übleren hingeschmiert, wie ihm weniger Freundliche unterstellten. Ganz Erboste reihten Turners Bilder unter die «schlimmsten und dabei lächerlichsten Verirrungen, in welche die Malerei gerathen ist» ein. Dergestalt liess sich ein Rezensent im «Morgenblatt für gebildete Stände/ Kunstblatt» 1846 über das Ölgemälde «Die Eröffnung der Walhalla 1842» aus, das Turner als einziges Werk überhaupt jemals von London ins Ausland geschickt hat. Genauer gesagt, im Jahr 1845 nach München zur Eröffnung des Tempels der Kunst und der Industrie. Das Bild, das König und Volk erfreuen sollte, kam in Bayern gar nicht gut an.

 

Rasante Karriere dank Talent – und Präzision
Früh zeigte sich die Begabung des am 23. April 1775 in London geborenen Barbierssohn. Der Vater stellte dessen Zeichnungen, Aquarelle und kolorierte Kupferstiche in seinem Salon aus, wo Förderer das junge Talent entdeckten. Mit 14 Jahren wurde Turner bereits an der Royal Academy aufgenommen, mit 20 war er finanziell unabhängig, nicht zuletzt dank seiner präzisen Architekturzeichnungen. Mit 24 Jahren war er bereits ausserordentliches Mitglied der Royal Academy of Arts und galt neben John Constable als führender englischer Landschaftsmaler, wobei dieses Genre in einem geringeren Ansehen als die Historienmalerei stand. 1807 wurde er als Professor für Perspektive an die Royal Academy berufen (bis 1837).
Seines atemberaubenden Aufstiegs ungeachtet provozierten und polarisierten die ungewöhnlichen, in jeder Hinsicht aus der Reihe fallenden Gemälde Turners seit jeher. Seine frühen Werke wurden dabei weit gnädiger beurteilt und mit grösserer Begeisterung aufgenommen als die späten, denen manche einen wirren Geist nachsagten. Dass der unbequeme, eigenwillige Mister Turner zu dem herausragenden Vertreter der britischen Malerei und einem der bedeutendsten Künstler der Welt überhaupt werden würde, haben die wenigsten seiner Zeitgenossen geahnt.

 

 

Perspektiven für Studenten, Grenzüberschreitung inklusive
Heute ist unbestritten, dass das kontrovers diskutierte Genie der entscheidende Vorreiter der Moderne ist, der den Impressionismus vorwegnahm und, wenn so man so will, auch die abstrakte Malerei. Keiner verschob die Grenzen des Darstellbaren derart radikal zugunsten der Wirkung von Farbe und Licht und löste Form und Kontur bis zur Unkenntlichkeit auf. Statt klarer Kante setzte er auf fliessende Vermischung von Farbe, Licht und Raum bis hin zu vollkommener Nebulosität. Und doch: Wenn man weiss, dass es sich beispielsweise um eine Ansicht Venedigs von der Academia-Brücke in Richtung Santa Maria della Salute handelt oder um den Blick von der Rigi über den Vierwaldstättersee oder eine Ansicht der Walhalla über der Donau, dann stimmt im Grunde alles. Die Dimensionen, Perspektive, Anordnung, die GPS-Koordinaten sozusagen.
Dass der Professor die Gesetze der Geometrie, insbesondere der Perspektive beherrschte, wird in der Ausstellung «Turner Three Horizons», bis 10. März 2024 im Kunstbau des Lenbachhauses in München, deutlich. Zum ersten Mal, und wohl auch einmalig, werden die perspektivischen Schautafeln und geometrischen Studien, die er für seine Vorlesungen anfertigte, ausserhalb Londons gezeigt. Sie bilden das Mittelfeld der dreiteilig konzipierten Ausstellung, die insgesamt rund 40 Gemälde sowie Aquarelle und Skizzen aus allen Schaffensphasen umfasst.
Seinen Studenten empfahl Turner: Man muss die Grenzen kennen, die man überschreitet. In einem seiner Vorlesungsmanuskripte findet sich ein Satz, der für seine Malerei steht: «Licht ist deshalb Farbe und Schatten ihr Fehlen». Turners nuschelnde Diktion, sein Cockney-Akzent und das zügige Tempo seiner Präsentation stellten die Zuhörer vor gewisse Herausforderungen.

 

 

Kluger Marketingstratege
Co-Kurator Nicholas Maniu, der mit Karin Althaus die gemeinsam mit Tate Britain, London, organisierte Ausstellung kuratiert hat, erläutert das Konzept der Schau: «Links hängen die von Turner zu Lebzeiten ausgestellten Gemälde. In der Mitte werden, teils unter dem Stoffbaldachin wie in Turners Atelier, Studien, Skizzen und Entwürfe gezeigt. Auf der rechten Seite sind Werke zu sehen, die er der Öffentlichkeit vorenthalten und niemals gezeigt hat. Seien es unfertige, nicht für gut befundene oder im Stadium der Vorarbeit, des Experiments befindliche Werke». Ein Überblick über rund 200 Jahre Turner-Rezeption vervollständigt das Bild, das die Ausstellung dem Münchner Publikum vermitteln will.
Der langgezogene Kunstbau lädt geradezu zu einem chronologisch aufgebauten Parcours durch das Werk Turners ein. «Je tiefer man beim Vorwärtsschreiten in das Werk eindringt, desto sichtbarer wird, dass sich die beiden Seiten – die sichtbar gemachten und unsichtbaren Bilder – annähern», findet Maniu. Die schöpferische Imagination in Form von Licht und Farbe gewinnt zusehends Kraft, während sich die Kritiker immer heftiger und ausfallender äussern. «Als Opportunisten kann man den begnadeten Selbstvermarkter deshalb absolut nicht bezeichnen», ist der Kurator überzeugt.
Der gedrungene, weitgereiste und belesene Londoner Eigenbrötler war zeitlebens ein ausgewiesen erfolgreicher Künstler, der sich strategisch so überlegt und klug verhielt, dass er seine Werke exzellent verkaufte und ein grosses Vermögen aufbauen konnte. Seine Haltung galt als hartnäckig, zielgerichtet und durchsetzungsstark. Er bestimmte genau, welche seiner Stücke in der Royal Academy ausgestellt und wo sie am wirkungsvollsten hängen sollten; bis zur letzten Sekunde optimierte er seine Gemälde an den Firnistagen und liess sich auf keine Kompromisse ein. Aus diesem Grund gründete er 1804 auch eine eigene Galerie.

 

 

Turner Bequest und Münchner Coup
Nichts überliess Turner dem Zufall. Das galt auch für die Zeit danach. Nach seinem Tod (19.12.1851) sollte, laut testamentarischer Verfügung, ein genau festgelegter, grosser Teil seiner Gemälde und anderer Arbeiten der britischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Ausserdem sah er Stiftungen für notleidende Künstler vor und verhalf der britischen Landschaftsmalerei durch die Verleihung von Medaillen, Preisen und Awards nachhaltig zu grösserem Ansehen.

Der Turner Bequest, der dem Volk vermachte Nachlass, wurde zunächst von der National Gallery verwaltet und ging schliesslich in die Obhut der Tate Britain in London über, die rund 300 Gemälde und 30’000 Arbeiten auf Papier registrierte.
Es ist dem Künstler selbst zu verdanken, dass sein Opus maximus an einem einzigen Ort verblieben und nicht über die Welt verstreut ist. Da die heiklen, transport- und lichtempfindlichen Blätter und Leinwände extrem selten bis gar nicht ausgeliehen werden, sei dem Lenbachhaus ein echter Coup gelungen, so Maniu.

In Grossbritannien verbinde man den Expressionismus bisher weitgehend mit Filmkunst und nicht mit bildender Kunst. Um diese Lücke zu schliessen, bot sich ein für beide Seiten vorteilhafter Tausch an: die aussergewöhnliche Blaue Reiter Sammlung der Münchner gegen Exponate des Turner-Bestands aus London. Das Lenbachhaus bietet regelmässig Werken von Vorläufern der historischen Moderne Raum und war seit langem am britischen Grossmeister der Moderne interessiert. Als nun ihrerseits die Tate an der Sammlung der ungleich kleineren «Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau», so der offizielle Name, Interesse zeigte, fädelte man den Deal ein. Ein echter Coup sei damit den Münchnern gelungen, ist Maniu überzeugt.

 

 

Beste Bedingungen im Untergrund
Wie oft passiert das schon vor, dass zwei Sammlungen auf dem Landweg nur von einem Haus zum anderen transportiert werden? Hinzukommt, dass der unterirdische Kunstbau des Lenbachhauses perfekte Voraussetzungen bietet. Fensterlos – es gibt rückwärtig nur eine Glasfront über den U-Bahn-Rolltreppen – befindet er sich zwischen dem Königsplatz oben und den Bahngleisen im Untergrund. Kein Tageslicht dringt ein, Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit lassen sich optimal regeln und die Werke sind gut zu sichern.

Ab April 2024 sind 130 Exponate von Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Franz Marc und anderen Mitglieder der «Blue Rider Group» in der Tate Modern zu sehen. Doch zuerst sehen die Münchner Turner-Originale, und sie nehmen die Möglichkeit mit Begeisterung an. 25’000 Besucher haben davon bereits in der ersten Woche Gebrauch gemacht, und die erste Auflage des zweisprachigen Katalogs «Turner. Ein Lesebuch. A Reader» ist nach einem Monat bereits ausverkauft. Besucher sichern sich mit Vorteil online ein Zeitfenster.

 

 

Modern Times
Zu den Kronjuwelen der Ausstellung gehört das Ölgemälde Schneesturm (Snow Storm) von 1842. Der Titel ist lang, liest man ihn ganz: «Ein Dampfschiff im flachen Wasser vor einer Hafeneinfahrt gibt Leuchtsignale ab. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel Harwich verliess». Indem sich der Maler als Autor bezeichnet, weist er explizit auf die Authentizität des Erlebten hin. Turner betonte, dass er sich während des Sturms an einen Mast fesseln liess, um die Naturgewalt am eigenen Leib zu erfahren. «Ich habe das nicht gemalt, um verstanden zu werden, sondern ich wollte zeigen, wie eine solche Szene wirklich ist», soll er einem Besucher in seinem Atelier gesagt haben (Turner. Ein Lesebuch, S. 36).
«Snow Storm» wurde in der Royal Academy ausgestellt – und von den meisten Kritikern verrissen. Einer beschrieb es als «einen häuslichen Scherz an einem Waschtag: für unsere Augen ist es eine Menge herumwirbelnder Seifenlauge», ein anderer fand, «man habe mit einem Besen, der in einen Brei von schmutzigem Weiss und Grün getaucht wurde, über die Leinwand geschrubbt». Turner sollen diese Beurteilungen des Bilds sehr zu Herzen gegangen sein. Heute zählt es zu seinen millionenschweren Meisterwerken.
Inhaltlich ist es das Werk aktueller denn je. Dampfschiffe verkörpern bei Turner, wie auch Lokomotiven, die modernen Zeiten, sprich den Beginn der Industriellen Revolution. Auf zahlreichen Gemälden zeigen sie sich herkömmlichen Schiffen und Transportmitteln überlegen. Es sind die Dampfschiffe, die die stolzen britischen Kriegsfregatten bergen und zum Abwracken schleppen. In «Snow Storm» ist das Dampfschiff allerdings selbst nur ein Spielball der Wellen, die abgefeuerte Signalrakete scheint in diesem tobenden Hexenkessel nichts ausrichten zu können.
Dieses Sujet ist bei weitem nicht die einzige bedrohliche Wetterlage und Naturkatastrophe, die der an Wetterphänomenen und den Naturwissenschaften interessierte Joseph Mallard William Turner malerisch zum Ausdruck bringt. Auch in puncto Klimakrise scheint er seiner Zeit voraus.

 

 

Lenbachhaus München.  «Turner. Three Horizons»
Ausstellung 28. Oktober 2023 bis 10. März 2024

 

Bildlegenden: 1) Snow Storm – Steam Boat off a Harbourth’s Mouth, exhibited 1842. 2) Grenoble seen from the river Drac with Mont Blanc in the distance, ca. 1802. 3) The Walhalla, on the River Danube at Donausrauf near Regensburg, at Sunset, ca. 1840. 4) Margate: The Great Beach with the Pier and Lighthouse and Jarvis’s Landing Place at Sunset, ca. 1829-40. 5) Venetial Festival, ca. 1845. 6) The Fall of an Avalanche in the Grisons, exhibited 1810.  7) Ausstellungsansicht Lenbachhaus München «Turner. Three Horizons», 2023. Foto Lenbachhaus, Simone Gänsheimer.

 

Zur Ausstellung ist die zweisprachige Publikation «Turner. Ein Lesebuch/ Turner. A Reader» mit Texten aus rund 200 Jahren erschienen. Hrsg. von Karin Althaus, Nicholas Maniu und Matthias Mühling. Edition Lenbachhaus 8, 404 Seiten, 102 Abbildungen, 22 Euro.

 

«Retrospektive der Pionierin der Performance Marina Abramović»

 

Von Marion Löhndorf
 
In der grossen Londoner Retrospektive in der Royal Academy of Arts stellen junge Kunstschaffende die verschiedenen Performances der in Belgrad geborenen Starkünstlerin Marina Abramović nach. 
 
Sie hat sich mit Psychopharmaka gefüttert, um zu erleben, wie sich der Körper eines katatonischen Patienten aus der Starre löst. Sie hat Medikamente gegen Schizophrenie eingenommen, deren Nebeneffekte sie umwarfen. Sie hat sich vom Kunstpublikum ausziehen und verletzen lassen. Und sie hat drei Monate lang an sechs Tagen der Woche stumm und reglos mehr als tausend Menschen jeweils einzeln im New Yorker Museum of Modern Art gegenübergesessen.

 

Die Schmerzensfrau der Bildenden Kunst
Marina Abramović war die Schmerzensfrau der Bildenden Kunst. Leiden in vielfältiger Form hat die Performance-Künstlerin am eigenen Leib erprobt. Es waren brutale Selbstversuche. Ihre Performances zogen sich über Stunden, Tage, Monate, als wollte sie in immer neuen Anläufen fragen: Was kann ein Mensch aushalten? Der eigene Körper stand im Mittelpunkt ihrer Kunst, in der es um Zeit und Wiederholung, Rituale, das Ertragen und die Überwindung von physischem Schmerz und um Erlösung geht.
 
Die Zeit der Vorstellungen mit extremem Körpereinsatz im Dienst der Kunst ist nun vorbei. Das jedenfalls sagte die Künstlerin zur Eröffnung einer grossen Retrospektive in der Royal Academy of Art in London. Marina Abramović will jetzt Spass haben, sie will jetzt leben. Denn in diesem Frühjahr hatte sie den Tod haarscharf verfehlt. «In einem der dramatischsten Jahre meines Lebens» war sie zum ersten Mal schwer krank gewesen. Die Folgen einer Lungenembolie überstand sie nach sechs Wochen auf der Intensivstation, drei Operationen und neun Bluttransfusionen.
Sie sei erst knapp genesen, erklärt sie in London. Trotzdem sieht die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin bei der Eröffnung ihrer Retrospektive keinen Tag älter als fünfzig aus, was in unserem Zeitalter des angeblichen Post-Ageism nicht zählen sollte, es aber doch tut. Mit langem schwarzem Haar, im bodenlangen schwarzen Kleid und mit knallrot geschminkten Lippen erscheint sie wie der Inbegriff einer Drama-Queen.

 

Pathos, Messer, Schlangen, Feuer und Wolken
Ihre Kunst lebt von der Übertreibung und davon, die Dinge bis zum Äussersten zuzuspitzen. Das hat auch mit Pathos zu tun. Es ist kein Zufall, dass Messer, Schlangen, Feuer und Wolken als immer wiederkehrende Dinge von Symbolwert in ihrem Werk auftauchen.
Tatsächlich war ihr Leben – das sie 2012 mit Bob Wilson im Theaterstück «The Life and Death of Marina Abramović» in Szene setzte – voller Extreme. Die Mutter, eine Partisanin des Zweiten Weltkriegs, wollte ihre Tochter mit Prügeln und Demütigungen zur Härte erziehen. Ein Jahr, das Marina im Krankenhaus verbringen musste, in Sicherheit vor der Mutter, bezeichnete sie als das beste ihres Lebens.
Das Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter reichte bis weit ins Erwachsenenalter hinein. Mag sein, dass ihre künstlerischen Projekte lange Zeit auch Befreiungsschläge waren. Sie war die Frau, die in der Kunst den Schmerz suchte und besiegen wollte. Heute wirkt sie wie der unabhängigste Mensch auf Erden.
Bei der Verleihung eines Preises an junge Kunstschaffende in London und bei der Eröffnung ihrer grossen Retrospektive in der Royal Academy einige Tage später wirkt Abramović gutgelaunt und entspannt. Jeder Art von Fragen begegnet sie mit Humor, zum Beispiel derjenigen, ob sie – aufgrund ihrer neu gewonnenen Lebensfreude – demnächst in Musicals auftreten wolle. Tatsächlich nimmt die English National Opera demnächst ihr Opernprojekt über die von ihr geliebte Maria Callas von 2020 wieder auf («The Seven Deaths of Maria Callas»).

 

Abramović gründete das Marina Abramović Institute (MAI) in New York, um Künstlern der nächsten Generation den Stafettenstab ihrer Performances weiterzureichen: Junge Kunstschaffende sollen ihr nachtun, was sie vor Jahren vorgemacht hat. Denn «die Zeit ist eine andere, der Kontext hat sich verändert», erklärt ihr Kurator Andrea Tarsi, der zugleich der Ausstellungsdirektor der Royal Academy ist. Den Schmerz und das Vergrössern des Privaten und Intimen in den Performances, deren ungeschützter Mittelpunkt Abramović selbst war, das müssten nun andere stellvertretend für sie übernehmen.

Auch in ihrer Ausstellung sind eine Reihe von Abramović-Stand-ins zu sehen. Am spektakulärsten in «The House with the Ocean View», einer Performance, die auf das Jahr 2002 zurückgeht: Drei Frauen stehen auf Plattformen an einer Wand der Royal Academy, 24 Stunden am Tag über zwölf Tage hinweg. Sie betrachten das Publikum, und das Publikum betrachtet sie. Sie sprechen nicht und trinken nur Wasser. Für den Notfall können ein Arzt, ein Psychologe und ein Ernährungsexperte schnell zur Stelle sein – diese Notfallärzte nennt die Künstlerin «den ganzen Kram, den ich nie hatte, als ich das gemacht habe». Sie fügt aber hinzu: «Es sind grossartige Darstellerinnen. Ich vertraue ihnen».
Im Juni 1977 stellte Abramović sich mit ihrem Lebensgefährten, dem in Deutschland geborenen Künstler Ulay, nackt am Eingang der Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna an die Wand. Auch diese Performance («Imponderabilia») der «lebenden Türen» wird in London mit neuem Personal nachempfunden; aber niemand muss sich mehr zwischen dem eng zusammenstehenden Paar hindurchzwängen wie damals die Besucher in Bologna.

 

Tod als letzte Erfahrung
Ein Türbogen aus Licht und Stahl («Portal», 2022) lädt in einem der letzten Räume der Ausstellung zum Durchgehen ein. Es ist ein neues Werk und als Tor ebenfalls eines der von ihr geliebten Symbole des Kommens und Gehens. Auch den Körper versteht sie als Portal, als Medium, das von einem Zustand in den anderen übergeht, bis zuletzt: «Wenn der Tod an meine Tür klopft, möchte ich diese Erfahrung sehr bewusst machen, ohne Bitterkeit, Furcht und Zorn. Es ist die letzte Erfahrung, die wir im Leben machen können».
Zwar ist die Interaktion ein Gegenstand ihrer Arbeit. Aber ihre künstlerischen Methoden sind nicht nur nach aussen – ans Publikum – gerichtet. Sie haben auch mit dem Übergang in andere Zustände des Bewusstseins der Künstlerin selber zu tun. Jemandem endlos in die Augen zu schauen, stundenlang still zu sitzen oder zu stehen: Mit den von ihr hergestellten extremen Zuständen jenseits des «Normalen» erschafft sie quasihypnotische Situationen, die wir im normalen Leben nicht erleben – auch das ist ein Zugang zu anderen Sphären.

 

   Sieben Jahre dauerte die Arbeit an der Londoner Retrospektive, die danach unter anderem auch – leicht variiert – im Kunsthaus Zürich zu sehen sein wird. Einer strengen Chronologie folgt der Parcours nicht, aber Schlüsselwerke sind in lockerer chronologischer Abfolge zu sehen. Denn es handelt sich um ihre erste grosse Werkschau im Vereinigten Königreich – und übrigens unglaublicherweise um die erste einer Frau gewidmeten Ausstellung in der 1768 gegründeten Royal Academy of Arts.
Die theatralische Rückschau entstand in Zusammenarbeit mit der Künstlerin selbst und war ein dynamischer Prozess. Vor der Pandemie lag der Schwerpunkt der Schau noch auf dem Thema Tod. «Nach Covid hatten wir genug davon und wollten etwas anderes machen», berichtet der Kurator Andrea Tarsi. Daher nun der Fokus dieser Retrospektive auf das Nachleben von Marina Abramovićs Performances in der Umsetzung junger Performance-Künstler.
Das ist möglich, weil Marina Abramović vom Beginn ihrer Karriere an für die Film- und Foto-Dokumentation ihrer ephemeren Performances gesorgt hat. Die Frage, wie deren Energie repräsentiert, kommuniziert und erhalten bleiben kann, löste Abramović durch junge Darstellerinnen und Darsteller, die in ihr Werk eingeführt wurden, sowie mit einfachen, aber mit maximalem dramatischem Effekt eingesetzten Mitteln der Technik.

Überdimensional vergrösserte Fotos ihrer Performances, die wie Standbilder von Kinofilmen auf grosser Leinwand erscheinen, und stark maximierte Videoaufnahmen gehören ebenso zu dieser Schau wie auch im wahrsten Wortsinn anfassbare oder betretbare Objekte: so etwa «Shoes for Departure» (1991/2015), Pantinen aus Kristallquarz, in die man hineinsteigen kann.

 

Kunst und Leben

Kunst und Leben sind in Marina Abramovićs Werk eng verknüpft geblieben, und so war es auch bei ihrer Krankheitserfahrung im Frühjahr: Sie sagt, ihre Extremerlebnisse als Künstlerin hätten ihr im Krankenhaus das Leben gerettet. So habe sie sich in der Lage gesehen, trotz fast unerträglichen Schmerzen Opiate abzulehnen, in der Überzeugung, ihren Heilungsprozess auf diese Art beschleunigen zu können.
Trotzdem vergleicht sie ihre Performances nicht mit einer Fast-Begegnung mit dem Tod im wirklichen Leben: «Wenn man sich entschliesst, schwierige Dinge vor einem Publikum zu tun, um anderen damit vielleicht ein gewisses Mass an Kraft zu geben, dann ist das die eigene Entscheidung». Im Krankenhaus sei das nicht zu steuern. Vor ihrer Krankheit sei sie vom Tod besessen gewesen. Heute konzentriert sie sich lieber aufs Leben.
 
Royal Academy of Arts, London, bis 1. Januar 2024; im Kunsthaus Zürich von Oktober 2024 bis Februar 2025.
 
(Erstveröffentlichung NZZ, 21.10.2023)

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