FRONTPAGE

«Neue zweisprachige Gedichte aus der Schweiz»

Von Ingrid Isermann

 

Erstmals auf Deutsch zu lesen ist die Tessiner Lyrikerin Elena Spoerl-Vögtli. Sie hat bisher drei 
Gedichtbände in italienischer Sprache veröffentlicht, die mehrfach mit italienischen Preisen 
ausgezeichnet und von Janine Zumstein 
ins Deutsche übertragen wurden. Ebenfalls zu entdecken gibt es den Westschweizer Lyriker Jean-Pierre Schlunegger. Herausgeber Christoph Ferber hat seine Gedichte ins Deutsche übersetzt.

 

«Fenster/Finestre»

Jedes der Gedichte Elena Spoerls ist ein Fenster, das Ausblicke auf Landschaften und Lebensabschnitte, auf das Meer mit seinen Stränden und Spuren, Gärten aus Plastik und Blech oder den Wald eröffnet. Die Lyrikerin ruft einen Moment der Conditio Humana auf. Augenblicke der Wehmut, Trauer, Vergeblichkeit und der Zerbrechlichkeit des Lebens.

 

Im Vorwort spricht Anna Felder von den Gedichten, die mit geschickt eingearbeiteten (in)direkten Reden, auf einer Seite die Handlung eines ganzen Romans erzählen können, andererseits aber auch zur dichtesten Gedichtform im Stile des Aphorismus (oder Haikus) zu wechseln, zum geglückten, punktgenauen und scharfen Spiel mit Worten beeindrucken.

 

Die poetischen Texte präsentieren sich in vier thematischen Kapiteln «drinnen, draussen, Meer, Schnee», was sie verbindet, ist ein stets aufmerksamer, emphatischer Blick, der eine rege Lust am Erforschen und Beobachten erkennen lässt.

 

 

Falle

Den Tag werde ich damit verbringen,

das verworrene Knäuel der Nacht zu entwirren,

den Faden wieder aufzunähen,

ein ordentliches Bündel zu schnüren:

die Umarmungen, der Atem, wahr oder geträumt,

die Ängste und Hoffnungen des Erwachens.

Ich schliesse die Fenster, der Regen verstummt,

und während drinnen der Computer summt,

entwirre ich weiter. Ich unterscheide Schmerz

von Verdruss, Freude von Lust

und suche den Fehler,

um ihn wegzusperren. Sonst lockt er mich

früher oder später in die Falle.

 

 

 

Sonntag an der Grenze

Zuerst höre ich unsere Glocken schlagen, dann

höre ich jene vom anderen Seeufer antworten,

von jenseits der Grenze, vom Hang, wo Porphyr

den Wald durchbricht. Hier und dort wechselt

ein Europa, das sich schwertut, und eine Schweiz,

die gespalten ist, vor allem im Süden.

Kontinentale, durchmessene Schweiz,

wie schwer es dir fällt, dich zu dir zu bekennen.

Die Stahlbetonbauen warten auf die italienischen Arbeiter,

morgen geht die Baustelle nach den Ferien wieder auf.

Um den Kran kreisen Schwalben auf Urlaub,

hier und dort ist für sie überhaupt nicht wichtig.

Ich höre den Nachbarn üben, den Trompeter,

er spielt auch an der Scala. Hier oder dort reicht sein Atem

zu anderen Balkonen, anderen Sonntagmorgen.

So stehen wir an der Grenze und spiegeln uns darin.

 

 

 

Elena Spoerl-Vögtli

Fenster / Finestre
Gedichte italienisch und deutsch
Aus dem Italienischen von Janine Zumstein
Mit einem Vorwort von Anna Felder

Limmat Verlag Zürich, 2014
184 S., gebunden mit Schutzumschlag
CHF 38. € 32.
ISBN 978-3-85791-756-1

 

 

Elena Spoerl-Vögtli, *1952 in Bellinzona, lebt in Lugano. Redaktorin bei der Tageszeitung «La Regione Ticino». Sie veröffentlichte bisher drei Lyrikbände und Erzählungen und erhielt mehrere italienische Literaturpreise. «Fenster/Finestre» ist ihre erste Veröffentlichung in deutscher Sprache.

 

 

 

«Bewegtes Leuchten / Lueur mobile»


Schon früh von Hölderlins Sprachschönheit beeinflusst, veröffentlichte der Waadtländer Jean-Piere Schlunegger (1925-1964) innert zehn Jahren vier Lyrikbände, in denen er Dunkelheit und Ängste verarbeitet und in ungewohnten Bildern auch die Liebe, die Musik und die Schönheit der Natur wie eine expressionistische Malerei beschwört. 

 

Ein halbes Jahrhundert nach seinem tragischen Tod, – mit nur 39 Jahren stürzte sich Jean-Pierre Schlunegger 1964 von einer Brücke oberhalb von Vevey in die Tiefe, vergeblich hatte er sich dagegen gewehrt, sich im gleichen Alter wie sein Vater das Leben zu nehmen -, werden erstmals in einer repräsentativen Auswahl 77 Gedichte dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt.

 

 

Ich sage

Ich sage: Licht, und ich sehe das zitternde Laub.
Ich sage: See, und im Einklang tanzen die Wogen.
Ich sage: Blatt, und ich spür auf den Lippen den Kuss.
Ich sage: Flamme, und schon kommst du als lohender Busch.

Ich sage: Rose, und ich seh die sich öffnende Nacht.
Ich sage: Erde, argloser Schlaf und verborgene Liebe.
Ich sage: Liebe, wie man zärtlich Levkoje sagt.
Ich sage: Frau, und das Echo deines Namens, schon ist es da.

 

 

Heckenrose auf Birke

Die leichte und zarte Blüte auf dem Weiss der Rinde,

Klarheit, wie ich sie eines Tages besingen möchte,

Heitere Schönheit, Helligkeit von sechs Stunden

Im Juli, wenn der Raum zu erschallen beginnt

Bis in die Tiefe der Lichtungen.

 

 

Jean-Pierre Schlunegger

Bewegtes Leuchten 

Gedichte französisch und deutsch

Ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber

Mit einem Nachwort von Barbara Traber

Limmat Verlag Zürich, 2014

184 S., geb. mit Schutzumschlag

CHF 38. € 32.

ISBN 978-3-85791-755-4

 

 
Jean-Pierre Schlunegger (1925-1964) wächst in Vevey auf. Studium an der Universität Lausanne, Tätigkeit als Französischlehrer. 1950 Mitgründer der Zeitschrift «Rencontre» und Publikation seiner Gedichtkolumnen. Veröffentlichung von vier Gedichtsammlungen. 1968 erschien postum sein Gesamtwerk unter dem Titel «Oeuvres» mit einem Vorwort von Yves Velan.

 

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