FRONTPAGE

«Nicole Seifert: Eine erhellende Gesellschaftsstudie über die Autorinnen der Gruppe 47».

Von Ingrid Isermann

Nicole Seifert erzählt die Geschichte der Gruppe 47 aus einer Perspektive der Autorinnen, die deutsche Gegenwartsliteratur zu überdenken und die literarische Landschaft neu zu ordnen. 

Mit einem Zitat von Ingeborg Bachmann, der einzigen Schriftstellerin der Gruppe 47, die sich einen vergleichbar grossen Namen machen konnte wie Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass oder Martin Walser, eröffnet Nicole Seifert ihre Gesellschaftsstudie und Rezeption auf die Nachkriegsliteratur, die bis in die Gegenwart wirkt.
 
20 Jahre hat die Gruppe 47 existiert, vom ersten Treffen 1947 am Bannwaldsee im Allgäu bis zum letzten Treffen 1967 im Gasthof Pulvermühle in Oberfranken. Auch Ilse Schneider-Lengyel gehörte dazu; sie stellte der Gruppe ihr Haus zur Verfügung, kümmerte sich ums Essen und holte burschikos auf dem Motorrad Kartoffeln. Sie war nicht nur Künstlerin, sondern Fotografin, Ethnologin und  Schriftstellerin. Doch heute kennt kaum noch jemand ihren Namen. Mit dem ungarischen Architekten und Maler Lászlo Lengyel, war sie 1933 nach Paris emigriert und hörte dort beispielsweise Vorlesungen von Paul Valéry.
 
«Wir wissen um die mannigfaltigen Beziehungen, deren Anschauungen uns noch fehlen. Wir ringen um sie. Beziehungen, die unsichtbar und trotzdem konkret sind, da wir sie vernehmen. Das Weltall verlangt nach neuer Anschaulichkeit. Es muss geschaffen werden, fühlbar und tastbar gemacht werden, wie die Wissenschaften neue Theorien mit Einstein und Lise Meitner und anderen aufstellen, so steht die Kunst vor neuem Ausdruck». Ilse Schneider-Lengyel
 

Christa Wolf wurde nie zur Gruppe 47 eingeladen. Auch Christa Reinig, 1926 geboren, queer und in Ost-Berlin aufgewachsen, nahm nur einmal teil, dann hatte sie vom chauvinistischen Männerclub genug. Ingrid Bachér war eine der vier Frauen auf der «Frauentagung» 1958 in Grossholzleute; ihre Erzählung «Unaufhaltsam vor Jamaika» kam gut an, im Gegensatz zu Griseldis L. Fleming, die 1964 im schwedischen Sigtuna so verrissen wurde, dass sie sich wie vernichtet fühlte.
 
Bei den Treffen der Gruppe 47, der wichtigsten literarischen Gruppierung in Nachkriegsdeutschland, gab es neben den berühmten Autorinnen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger viele Schriftstellerinnen, die in Vergessenheit gerieten, die meist nicht miterzählt wurden und wenn doch, nicht als Autorinnen ihrer Texte, sondern als begehrenswerte Körper oder als tragische Figuren. Nicole Seifert berichtet von den Erfahrungen der Autorinnen bei der Gruppe 47, von ihrem Leben und ihren Werken in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der BRD. Schriftstellerinnen wie Gisela Elsner und Gabriele Wohmann werden neu gelesen, Schriftstellerinnen wie Ruth Rehmann, Helga M. Novak und Barbara König neu entdeckt.

 

«Einige Herren sagten etwas dazu…»

… «viel blondes Haar, sanftbraune Augen, still und scheu in Ausdruck und Rede», schrieb Der Spiegel über die Lyrikerin Ingeborg Bachmann, die 1953 den Preis der Gruppe 47 erhielt, die die beiden Gedichtbände Die gestundete Zeit und Anrufung des Grossen Bären veröffentlichte. Der Spiegel widmete ihr 1954 seine Titelgeschichte und porträtierte sie als Lyrik-Ikone. Das hatte es zuvor noch nicht gegeben, eine Frau auf dem Cover. Von der Lesung in der Gruppe 47 machte sich Ingeborg Bachmann Notizen:
 
(…) Am zweiten Tag wollte ich abreisen, am dritten Tag las ich ein paar Gedichte vor, vor Aufregung am Ersticken, ein freundlicher Schriftsteller las sie nochmals laut und deutlich vor, einige Herren sagten (etwas) dazu, und nachher kam ein Herr, der sagte, ich solle am nächsten Tag in Hamburg dasselbe nochmals im Rundfunk lesen (…).
 
Ingeborg Bachmann ist die einzige Autorin, die in keiner Darstellung, keinem Sammelband und keiner Erinnerung an die Gruppe 47 fehlt, so Nicole Seifert. In den Texten über die Gruppe wird sie zu ihrer mythenumrankten «Grande Dame», ihrem «Covergirl» oder, wie Helmut Böttiger schrieb, zu einer «Art Fetisch der Gruppe». 1956 wurde Bachmann mit dem Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen ausgezeichnet, 1955 und 1958 wurden ihre Hörspiele Die Zikaden und Der gute Gott von Manhattan gesendet. In ihrer 1961 erschienenen Erzählung Unter Mördern und Irren schrieb sie:
 
«Damals, nach 45, habe ich auch gedacht, die Welt sei geschieden, und für immer, in Gute und Böse, aber die Welt scheidet sich jetzt schon wieder und wieder anders. Es war kaum zu begreifen, es ging ja so unmerklich vor sich, jetzt sind wir wieder vermischt, damit es sich anders scheiden kann, wieder die Geister und die Taten von anderen Geistern, anderen Taten. Verstehst du? Es ist schon soweit, auch wenn wir es nicht einsehen wollen».

 

«Die Dame ist fürs Feuer»
Schriftstellerinnen mussten sich bei den Lesungen der Gruppe sexistische Kommentare anhören, die von «Hexe» bis zur «Schlange» oder «Die Dame ist fürs Feuer» wie für Ruth Rehmann reichten. Nicht nur Hans Werner Richter, Gründer der Gruppe 47,  konnte nicht zwischen literarischem Talent und körperlichem Aussehen der Autorinnen unterscheiden, die im Schatten ihrer männlichen Kollegen standen.
 
Nicole Seifert beschreibt, wie Schriftstellerinnen aus der Literaturgeschichte herausgeschrieben wurden und ordnet die gesellschaftlichen Verhältnisse einer Zeit ein, die Frauen nur zögerlich gleiche Rechte gewährte, während sich Männer trotz durchschnittlichem literarischem Talent oft durchsetzen konnten. Dabei zitiert Seifert auch männliche Autoren und Äusserungen von Autorinnen, die nicht auf ihre äussere Erscheinung reduziert werden wollten, wie beispielsweise Helga M. Novak und Gisela Elsner, die ihre eigenen Wege gingen. Seifert zeigt eine eklatante Ungleichheit auf, wenn Schriftstellerinnen von Anfang an keine Chance hatten, weil sie nicht ernst genommen oder bestenfalls als Dekoration akzeptiert wurden. 

 

«Fräulein Kafka»

«Ilse Aichinger war eine schöne Frau, die einige meiner Tagungsteilnehmer so stark anzog, dass sie ganz ausser sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig die Contenance verloren», schrieb Hans Werner Richter über die Autorin, die ihrerseits meinte: «Mich hat eigentlich die Literatur interessiert».

Richter lud Ilse Aichinger 1951 ein, vor der Gruppe 47 zu lesen, sie stellte ihre Erzählung Der Gefesselte vor, in der ein Mann beim Aufwachen feststellt, dass er im Schlaf gefesselt wurde. Er passt sich einem Leben mit der Fessel zunehmend an und lernt, jeden kleinsten Spielraum, den sie ihm lässt, als Freiheit zu betrachten. Zwar kann er die Fessel keinen Augenblick vergessen, aber er bleibt als Subjekt in diesem Zustand äusserer Unfreiheit handlungsfähig.
 
In der Presse hiess es später, Aichingers Erzählung sei «an Kafka geschult», sie selbst wurde als «Fräulein Kafka» bezeichnet. Dabei betonte die Autorin, so Seifert, nicht nur bei dieser Gelegenheit, noch nichts von Franz Kafka gelesen zu haben, und das traf Hans Werner Richter zufolge zu diesem Zeitpunkt auf die allermeisten der Gruppe 47 zu, da Kafkas Texte von den Nationalsozialisten verboten worden waren und gerade erst entdeckt wurden. Noch 1982 sagte Ilse Aichinger in einem Interview, vor Kafka «eine solche Scheu immer schon gehabt» zu haben, dass sie ihn noch nie gelesen habe. Ihr gehe es nur um das, was sie beschrieben habe, so Aichinger mehrfach.

 

Subversiv und aktuell

In ihren Texten arbeiteten die Autorinnen der Gruppe 47 von Ilse Schneider-Lengyel über Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Gisela Elsner bis hin zu Barbara Frischmuth, Elisabeth Plessen, Elisabeth Borchers und Renate Rasp daran, die Gewalt der Systeme sichtbar zu machen, schreibt Seifert. Sie zeigten nazistische Strukturen in gesellschaftlichen Institutionen wie der Ehe und den Schulen auf, die Machtverhältnisse in Paarbeziehungen und die Zusammenhänge mit patriarchaler und faschistischer Gewalt; sie bereiteten den Weg dafür, dass Themen wie Mutterschaft, Familie, weiblicher Alltag und eine realistische Darstellung des weiblichen Körpers Eingang in die Literatur fanden und als literaturfähig betrachtet wurden.
 

Eine Auseinandersetzung mit diesen Inhalten blieb in der Gruppe 47 jedoch aus und die den Texten der Autorinnen inhärente Gesellschaftskritik verhallte immer wieder ungehört. Die Schriftstellerinnen fanden eigene Wege, eine eigene Sprache, mit der sie sich von der unmittelbaren Vergangenheit, von den inhaltlichen und ästhetischen Vorstellungen der nachwirkenden Nazizeit abgrenzten. Viele Texte der Autorinnen der Gruppe 47 waren ihrer Zeit und ihren Kritikern voraus und lesen sich siebzig Jahre nach ihrem Entstehen subversiv und aktuell, schreibt Nicole Seifert, denn diese Autorinnen beeindruckten mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe, ihrer Sensibilität, ihrem Mut und ihrer kritischen Intelligenz, die Eingang in die Literatur fanden.

 

Bildlegenden:

  1. Die Gruppe 47, vorn Ingeborg Bachmann (Mitte), mit u.a. Günter Grass, Willy Brandt, SPD-Vorsietzender.
  2. von links: Martin Walser, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann.
  3. von links: Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Günter Eich.

 

Leseprobe

 

Was 1958 für die Medien und die literaturinteressierte Öffentlichkeit, für den Buchhandel und das Feuilleton zu einem Ereignis wurde, hatte elf Jahre zuvor als Treffen ehemaliger Kriegsteilnehmer begonnen. Als sich im September 1947 insgesamt siebzehn ehemalige Mitarbeitende des Ruf am Bannwaldsee trafen, um sich ein paar Arbeiten für die geplante neue Zeitschrift vorzulesen, lagen der Zweite Weltkrieg und die NS-Diktatur erst zwei Jahre zurück. Hans Werner Richter und Heinz Friedrich, Walter Kolbenhoff, Wolfdietrich Schnurre, Ilse Schneider-Lengyel und die anderen hatten den Wunsch, eine Wiederholung des Erlebten zu verhindern und «den Grundstein für ein neues demokratisches Deutschland, für eine bessere Zukunft und für eine neue Literatur [zu] legen, die sich ihrer Verantwortung auch gegenüber der politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bewusst ist» – so beschrieb es Hans Werner Richter fünfzehn Jahre später. (…)

Heinz Friedrich, der später den Deutschen Taschenbuch Verlag leitete, erinnerte sich an diesen Sommer 1947 als eine intensive Zeit: «überfüllte Züge, winzige Fettrationen, internationale Konferenzen und enttäuschte Hoffnungen. Es wurde viel von Frieden gesprochen, von Menschenwürde und von Kollektivschuld».   (…) In dieser «grossen Unordnung zwischen Nicht-mehr-Krieg und Noch-nicht-Frieden», schrieb Ruth Rehmann Jahrzehnte später in ihrem autobiografisch inspirierten Roman «Ferne Schwester», musste jeder «sehen, wie er zurechtkommt. Das Ineinanderstürzen von Endkriegs-Chaos und Besatzerordnung brachte irrwitzige Formen und Situationen hervor, darunter, wie Ostereier versteckt, Momente märchenhafter Leichtigkeit, in denen alles, alles möglich erscheint».
 
Unter der Überschrift »Die Gruppe 47 lebt auf« berichtete Joachim Kaiser nach der Tagung in der Süddeutschen Zeitung, Ruth Rehmann habe «ein überaus heikles Thema zum Spitzentanz zwischen eleganter, psychologisierender <Frauen‹-Literatur> und vorbehaltloser Schriftstellerei hinaufstilisiert». Eine Beschreibung, an der bei Lichte besehen nicht viel Positives bleibt und mit der Kaiser Rehmanns Text in die Schublade «Literatur von Frauen für Frauen» steckt. Den Text Blechtrommel von Grass beschreibt er als «Attacke», schwärmt von seiner «Energie» und «Kraft» und bezeichnet ihn gleich zweimal als «wild». So wurde ein Text als «männlich» und damit als wichtig und relevant gelabelt, ohne dass es so hätte genannt werden müssen.
 
Marcel Reich-Ranicki berichtete über das Treffen in Großholzleute, Ruth Rehmann habe «schamvollschnell ein durchaus nicht schamhaftes Prosastück von erstaunlicher psychologischer Feinfühligkeit» gelesen. Im Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird Ruth Rehmann mit Grass im selben Atemzug genannt – zusammen mit ihm habe sie auf dieser Tagung «Niveau geschaffen». Zugleich wird sie jedoch deutlich weniger ernst genommen, wenn es im Weiteren vor allem um ihre Erscheinung geht und sie als «bacchantischer wie scheuer Typ» beschrieben wird, der am Abend zuvor «zur Laute schallplattenreif Chansons mit einer wilden Stimme gesungen» habe. Ihr literarischer und hintergründiger Text wird als «höchst indiskrete Liebesgeschichte» völlig unangemessen in die Schmuddelecke geschoben, dazu passend wird das «ureigene Temperament« der Autorin herausgestellt, und: »Parfüm ist auch dabei. Aber es riecht gut, sogar ausgezeichnet».

Wurde ein Text von der Literaturkritik also als «weiblich» gelabelt, wurde er in die Schublade «Frauenliteratur» gesteckt, wie es bei Rehmann und Bachér geschah, ging damit automatisch eine Abwertung einher, wurde ihm damit Relevanz abgesprochen. Geschlecht war nicht nur eine Kategorie der Literaturkritik, es war eine diskriminierende Kategorie, die ganz wesentlich über Erfolg oder Misserfolg mitentschied.

 

 

Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und gelernte Verlagsbuchhändlerin und arbeitet als Übersetzerin und Autorin. Ihr Buch «Frauen Literatur – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt» löste 2021 eine Debatte über Frauen im Literaturbetrieb und weibliches Schreiben aus. Nicole Seifert ist Herausgeberin der Reihe «rororo Entdeckunge», in der Romane unbekannter Autorinnen des 20. Jahrhunderts (wieder-)veröffentlicht werden.

 

 

Nicole Seifert
Einige Herren sagten etwas dazu
Die Autorinnnen der Gruppe 47
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024
Geb., 341 S. CHF 33.90.
ISBN 978-3-462-00353-6

 

 

«Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die grosse Flucht der Literatur»

 

Uwe Wittstock schildert das dramatischste Jahr der deutschen Literaturgeschichte: «Marseille 1940» erzählt bewegend von der Flucht der Exilanten durch Varian Fry mit authentischen Briefen, Tagebüchern und Autobiografien.
 

Juni 1940: Die deutschen Truppen haben Frankreich besetzt. Unter den Flüchtenden befinden sich Hunderte von Exilanten aus Deutschland und Österreich, die nach 1933 aus Nazideutschland geflohen waren und in Frankreich Asyl gefunden hatten. Marseille 1940 berichtet vom Drama dieser zweiten Flucht, die Belege stammen aus Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiografien und Interviews einiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Theaterleuten, Intellektuellen, Künstlern und Künstlerinnen.

 

Die Gestapo fahndet nach Heinrich Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und anderen deutsch-jüdischen Exilanten, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. In Nizza lauscht Heinrich Mann bei Bombenalarm den Nachrichten von Radio London. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuss aus Paris. Lion Feuchtwanger wird in einem französischen Internierungslager gefangen, während die SS-Einheiten näherrücken. Sie geraten schliesslich alle in die Küstenstadt Marseille, um von dort einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier übergibt Walter Benjamin seinen letzten Essay an Hannah Arendt, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbricht.

 

Hier in Marseille kreuzen sich die Wege der Exilanten mit dem jungen amerikanischen Journalisten Varian Fry und dessen Emergency Rescue Committee, die ihr Leben riskierten, um die Verfolgten ausser Landes zu bringen. Fry kannte keinen dieser Menschen persönlich, bevor er nach Frankreich kam, aber er kannte ihre Werke und fand für sein Anliegen Unterstützer, wie etwa den Karikaturisten Bil Spira, der sich zum Passfälscher umschulen liess.

Wittstock montiert die Geschichte der einzelnen Persönlichkeiten zu einer atemberaubenden Collage einer Literaturgeschichte der Verfolgung. Auch über die französische Kollaboration berichtet Wittstock in seinem an authentischen Quellen gehaltenen Werk.

Ein so brandaktuell wie wichtiges Buch, das von Menschlichkeit in unsicheren und düsteren Zeiten erzählt und dem Fluchthelfer Varian Fry (1907-1967) die längst verdiente Anerkennung widmet.

 

 

Leseprobe

 

Marseille, 14. August 1940
(…) Die Werfels laden Fry zum Essen im Basso ein, einem der elegantesten Restaurants der Stadt. Es liegt direkt am Alten Hafen und kann für einen Abend leicht vergessen machen, wie schlecht es um das Land steht. Der Blick fällt von hier auf die beiden Forts, St. Jean und St. Nicolas, die rechts und links die Hafenzufahrt sichern. Davor überspannt eine neunzig Meter hohe Stahlkonstruktion den Hafen, der Pont transbordeur, das moderne Wahrzeichen der Stadt. Von der Brücke hängt an Stahlseilen eine geräumige Gondel, die knapp über dem Wasser wie eine schwebende Fähre die beiden Hafenseiten verbindet.
Das Paar berichtet beim Essen, dass sie alle notwendigen Papiere für die Flucht beisammenhaben, das Einreisevisum in die USA, die Transitvisa für Spanien und Portugal, nur die Ausreiseerlaubnis aus Frankreich fehlt ihnen. Beide wissen nicht, was sie in Spanien erwartet, falls sie illegal über die Grenze gehen. Werfel befürchtet, verhaftet und den Deutschen ausgeliefert zu werden. Seine Frau, die weniger gefährdet ist als er, plädiert dafür, es zu riskieren.
«Sie müssen uns retten, Mr. Fry», sagt Werfel.
«Oh ja», wiederholt seine Frau, «Sie müssen uns retten».
Zurück im Hotel bestellt Alma Mahler-Werfel noch eine Flasche Champagner und bestürmt Fry weiter, ihnen aus dem Land herauszuhelfen. Aber Fry muss sie um Geduld bitten. Er ist erst vor ein paar Stunden angekommen, noch fehlen ihm verlässliche Informationen. Er verspricht, alles Nötige in Erfahrung zu bringen und die beiden auf dem Laufenden zu halten. Mehr kann er vorerst nicht tun.

 

Uwe Wittstock ist Schriftsteller und Journalist und war bis 2018 Redaktor des «Focus». Zuvor hat er als Literaturredaktor für die FAZ, als Lektor bei S. Fischer und als stellvertretender Feuilletonchef und Kulturkorrespondent für die «Welt» gearbeitet. Er wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis für Journalismus ausgezeichnet. Bei C.H. Beck ist sein Bestseller «Februar 33. Der Winter der Literatur» (2021) erschienen, der in neun Sprachen übersetzt wurde.

 

 

Uwe Wittstock
Marseille 1940
Die grosse Flucht der Literatur
Verlag C.H. Beck, München 4. Auflage, 2024
Mit 28 Abb., 2 Karten.
Geb., 351 S. CHF 39.90.
ISBN 978 3 406 81490 7

NACH OBEN

Literatur