FRONTPAGE

«Niklaus von Flüe – Ins Zentrum – Radbilder und Räderwerke»

Von Niklaus Oberholzer

 

 

2017: Vor 600 Jahren wurde Niklaus von Flüe geboren. 1487 starb der Einsiedler vom Ranft im Kanton Obwalden, hoch angesehen als Mystiker und Friedensstifter. Zum Jubiläum organisiert ein breit abgestütztes Obwaldner Komitee unter Leitung von Landammann Franz Enderle eine reiche Palette von Veranstaltungen.

Vorträge, Konzerte, ein literarischer Wettbewerb, ein Festspiel und offizielle politische und religiöse Gedenkanlässe werden teilweise verbunden mit dem Reformations-Jubiläum. Einen wesentlichen Akzent bildet die Ausstellung «Ins Zentrum – Radbild und Räderwerk» im Museum Bruder Klaus in Sachseln. Niklaus von Flüe war als Bauer und Politiker weit über seine Heimat hinaus eine geachtete Persönlichkeit, als er sich im Alter von 50 Jahren in die Ranft-Schlucht nahe seinem Anwesen ob Sachseln zurückzog – und bald von Ratsuchenden um Hilfe in Konfliktsituationen gebeten wurde. So auch von der Schweizer Tagsatzung, die 1481 in Stans tagte und nach den Burgunderkriegen um ein diplomatische Lösung ihrer inneren Probleme rang. Was der Eremit im Ranft dabei sagte, ist nicht überliefert, dass er hier – und anderswo wie kurz darauf im Tessin – zu Konfliktlösungen beitrug, ist jedoch sehr wohl aktenkundig. Sein von nationalistisch ausgerichteten Kreisen oft als Argument verwendete und auch missbrauchte Ausspruch «Macht den Zaun nicht zu weit» ist von ihm allerdings nicht überliefert. Er findet sich erst 1537 überliefert in der Bruder-Klaus Biographie des Luzerner Geschichtsschreiber Hans Salat (1498-1561), der seinerseits mit dem Zitat politische Ziele anpeilte – im Sinne eine Opposition der katholischen Teile der Eidgenossenschaft gegen engere Beziehungen zu Genf.
Meditationsbild als Ausgangspunkt
Die Ausstellung im Museum Bruder Klaus in Sachseln handelt allerdings nicht in diesem oder ähnlichem Sinn von Bruder Klaus auch nicht vom Friedensstifter, der im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder und immer wieder anders in aktuelle politische Zeitströmungen eingebunden wurde. «Ins Zentrum – Radbild und Räderwerk» geht aus vom Meditationsbild von Niklaus von Flüe und damit auch vom Mystiker, der Bruder Klaus in einem an mystischen Strömungen reichen Jahrhundert vor allem war. Dieses Meditationsbild zeigt ein Rad mit sechs Speichen, von denen drei ins Zentrum hinein und der vom Zentrum hinaus führen. Das Bild signalisiert: Alles geht von Gott als der Mitte aus und alles führt zu Gott als Mitte hin. Es ist, weit über die Person von Bruder Klaus hinaus, ein Zeichen das in grundsätzliche existenzielle Tiefen des Lebens führt.
Grosse Spannweite
Urs Sibler, der sich als Leiter des Hauses nach zehnjähriger Tätigkeit zurückzieht, suchte nach Schweizer Künstlerinnen und Künstlern, die Werke zu weit gefassten Thematik des Kreises und der Mitte schufen. Ein grosser Teil entstand eigens für die Ausstellung, andere, bereits bestehende Arbeiten fügen sich zwanglos in den von Sibler angepeilten Rahmen ein. Die Spannweite der Teilnehmer ist gross: Lissy Funk (1909-2005) und Heinrich Eichmann (1915-1970) sind vor mehreren Jahren verstorben, die jüngsten Künstlerinnen und Künstlern wurden 1988 (Jan Hostettler) 1983 (Claudia Kübler) geboren. Und ganz verschiedene Medien fanden den Weg in die Ausstellung: Skulptur, Malerei, Aquarell, Zeichnung, Video. Vor allem ist es Urs Sibler gelungen, mit der teils prominenten, teils aber auch recht eigenwilligen Künstler-Wahl und den beziehungsreichen und teils auch vielschichtigen Werken im Museum eine anregende und auch meditative Atmosphäre zu schaffen.
Intimes und Auftrumpfendes
Im Keller bilden drei Autoreifen, in labilem Gleichgewicht aufgeschichtet, eine Pyramide. Die Speichen der industriell gefertigten Räder erinnern in ihrer konkreten Ausformung ganz direkt an das Betrachtungsbild von Bruder Klaus (Roman Signer). Draussen Im Barockgarten steht ein Kalkstein-Rad mit acht Speichen, daneben eine filigrane Holz-Skulptur; die senkrechten Speichen des Rades führen nach oben weiter und werden zum Teil einer Leiter (René Küng). Ebenfalls im Garten steht ein riesig auftrumpfendes und schwergewichtiges eisernes Räderwerk (Vincenzo Baviera) – eine Art Antithese zur bescheidenen Zurückhaltung der Lebensführung des Ranft-Heiligen.
In eine intime und stille, beinahe einsame Raumsituation im zweiten Obergeschoss des herrschaftlichen Hauses zurückgezogen hat sich Christian Kathriner mit seiner Bronze-Skulptur „Zirkelschlag“; es handelt sich um den Abguss eines zu einem Ring gebogenen Astes – ein natürlicher Kreis ohne Anfang und Ende. Im Treppenhaus lässt die kreisrunde Uhr in Claudia Küblers Video buchstäblich die Zeit verstreichen: Ein sinnfälliges Bild über das Nutzen der Stunde. In einem kleinen Raum daneben zieht das Aquarell «Das grosse Auge» die Besucherinnen und Besucher in die Tiefe (Monika Dillier). Daneben fügen sich die feinen Metallobjekte von Jean Mauboulès – Kreise, Segmente, Umrissfragmente – zu einer luftigen Kreisform.
Gang ins Zentrum
Übers ganze Treppenhaus verteilen sich Acrylmalereien auf Sperrholz: In vielfacher Übermalung verweisen rotierende Pinselbewegungen auf ein permanentes Kreisen ohne Anfang und ohne Ende (Stefan Steiner). Jan Hostettler nahm die Idee des Weges ins Zentrum wörtlich: Er wanderte während mehrerer Tage von seinem Wohnort Basel zum geographischen Mittelpunkt der Schweiz – zur Älggi-Alp auf 1650 Metern Höhe, zur grössten Alp im Gemeindegebiet Sachseln. Die Broschüre mit der Beschreibung der Wanderung liegt in der Ausstellung zum Mitnehmen auf. Sandra Ulloni paraphrasiert mit ihrer Installation, einer glänzend-schwarzen segmentierten Kreisform mit einem Durchmesser von drei Metern (Schellack auf Buchenholz) das berühmte Foto «Speltrini auf dem Korbrand stehend» und verweist so auf Konzentration auf die Mitte und gleichzeitig auf ein Überwinden der Schwerkraft. Weitere finden sich in der Ausstellung Werke von Gianfredo Camesi, Vincent Fournier, Roland Heini, Beatrice Maritz, Gillian White und Andrea Wolfensberger.
Bruder Klaus und Albrecht von Bonstetten
Der historische Teil des Museums widmet sich in einem neu gestalteten Bereich der Beziehung zwischen Niklaus von Flüe und Albrecht von Bonstetten (1442-1504), der als Dekan des Klosters Einsiedeln Bruder Klaus besuchte und über seine Begegnungen berichtete – auch an deutsche Fürstenhöfe. Bonstetten zeichnete auch die erste Karte der Eidgenossenschaft, in der sich eine merkwürdige Nähe zum Betrachtungsbild von Bruder Klaus zeigt: Bonstetten gestaltete seine geographische Ansicht als Rad und setzt die Rigi ins Zentrum der Eidgenossenschaft.
«Ins Zentrum – Radbild und Räderwerk»

Museum Bruder Klaus, Sachseln.

 

Bis 1. November 2017. Publikation im Verlag Agon Press Zürich/Bad Ragaz mit Beiträgen zu den Künstlerinnen und Künstlern, zum Meditationsbild von Bruder Klaus und zur ersten geographischen Ansicht der Karte von Albrecht von Bonstetten in Form eines Rades sowie mit einem Essay des Philosophen Paul Good.

 

 

Das Museum Bruder Klaus
Das Museum Bruder Klaus im herrschaftlichen Bürgerhaus von 1784 am Sachsler Dorfplatz erinnert an Niklaus von Flüe (1417 bis 1487). Der französische Garten im barocken Stil lädt zum Aufenthalt ein. Unter dem Titel «Vom Turm zum Brunnen» sind im Aussenraum Darstellungen der Visionen Niklaus von Flües zu sehen. Sie stammen von Obwaldner Künstlern.
Das Museum sieht sich einer doppelten Zielsetzung verpflichtet: Auf der einen Seite hat das Haus mit seinen Informationen zum Ranft-Heiligen den zahlreichen Pilgern, die sich in Sachseln einfinden, zu dienen: Es gibt in seiner Dauerausstellung Einblick in Person und Wirken von Niklaus von Flüe. Das früheste Zeugnis seiner Verehrung ist ein Altarflügel von 1492 mit dem ältesten Bildnis. Auf der anderen Seite machen Ausstellungen das Museum mit seinen schönen historischen Räumen zu einem Ort der Begegnung mit aktueller Kunst, die, dem Geist des Ortes entsprechend, spiritueller Deutung offensteht.
Leiter des Hauses ist Urs Sibler. Er verabschiedet sich mit der Ausstellung «Ins Zentrum» nach zehnjährigem nachhaltigem Einsatz für das Museum Bruder Klaus. Seine Nachfolge tritt die Museologin Carmen Kiser an, die während acht Jahren als Geschichtsvermittlerin und Projektmanagerin am Museum Aargau auf Schloss Lenzburg wirkt.
www.museumbruderklaus.ch

 

 

«Der Prado auf Besuch in Basel»

2015, während der Umbauzeit des Kunstmuseums Basel, wanderten 15 Werke von Pablo Picasso nach Madrid zu einer Ausstellung im Museo Nacional del Prado. Nun fanden 24 Werke aus der Prado-Sammlung den Weg nach Basel ins Kunstmuseum zur Ausstellung «¡Hola Prado!».
Josef Helfenstein, der neue Direktor des Kunstmuseums Basel, und Konservator Bodo Brinkmann liessen sich weit mehr einfallen als eine übliche Parade der Meisterwerke – auch wenn viele der aus Madrid angereisten Malereien tatsächlich den Titel „Meisterwerk“ verdienen. Sie suchten vielmehr nach Beziehungen zwischen den Sammlungen der beiden Häuser, nach Querverbindungen oder Gegensätzen. Und sie wollen den Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit zu vergleichendem Sehen bieten und zugleich einig bedeutende Werke der Basler Sammlung in einem neuen Umfeld vor Augen führen – in einem Umfeld, das ihre Qualitäten und Eigenheiten in neuem Licht erscheinen lässt. Sie wählten aus der Prado-Sammlung denn auch nicht primär die bekanntesten Werke aus, sondern 24 Malereien, die sich sinnvoll in den Kontext der Basler Sammlung einfügen. Das Resultat ist eine Prunk-Schau, aber nicht nur. Die Ausstellung ist, ohne aufdringlich und ohne allzu pädagogisch zu sein, eine Schule der Wahrnehmung, die jenen Besucherinnen und Besuchern, die sich darauf einzulassen bereit sind, durchaus neue wertvolle Erfahrungen bescheren kann.

 

 

Beispiele der Gegenüberstellungen
Dazu ein Beispiele: Neben Holbeins «Totem Christus» (Kunstmuseum Basel) von 1521/22 hängt Zurbarans «Agnus Dei» von 1635, das kleinformatige Bild eines Lammes, dessen gefesselte Beine es als Opferlamm, bereit zur Schlachtung, ausweisen. Das dritte Werk an dieser Wand stammt wiederum von Zurbaran und ebenfalls aus dem Prado: «Der Gekreuzigte mit dem Maler» von 1655/70 ist eine realistische und zugleich höchst persönliche Malerei, welche die beiden Figuren fahl aus dem düster-dunklen Bildraum leuchten lässt. Dreimal also das gleiche Thema, stets realistisch, doch im Falle des «Agnus Dei» zugleich als sinnfällige Metapher und ebenso – in der präzisen Schilderung der weichen Merino-Wolle – als perfekte Materialstudie.
Ein weiteres Beispiel: Der Basler Botaniker und Arzt Thomas Platter gab 1608 dem Maler Hans Bock d.Ä. den Auftrag, seinen dreijährigen Sohn Felix zu malen. Bock zeigt den Buben auf einer Bühne, flankiert von grauen schön drapierten Vorhängen, mit einem Streckenpferd und einem Blumenstrauss in der Hand. Er zeigt ihn nackt – das realistische Bild eines Kindes also. Nichts deutet auf seine Zukunft hin, auch wenn das goldene Kettchen um den Hals und die Korallen-Armbändchen auf eine gut bürgerliche Abstammung schliessen lassen. Das Bild gehört dem Kunstmuseum Basel. Daneben hängt das dem Prado gehörende Bildnis des zweijährigen Philipp Emanuel von Savoyen, 1587 gemalt von Jan Kraeck, der nicht ein auf jede Zukunft hin offenes und auch wehrlos dem Leben ausgesetztes Kind zeigt, sondern einen allerdings kleinen Fürsten mit allen Insignien seiner künftigen Macht – mit exotischem Papagei, grossem Hund, mit einem Speer in der Hand und einem prunkenden Brokatkleid. Kinderbildnis ist nicht gleich Kinderbildnis…
Ein drittes Beispiel schliesslich: Basel besitzt ein wunderbares Stillleben mit Kalbskeule (und manch anderem, mit Käfern, Schnecken, Trauben, Nüssen, Spiegeleiern) von Georg Flegel von 1615 – ein Meisterwerk, das sich vor dem Gast aus Madrid von Felipe Ramìres von 1628 keineswegs zu schämen braucht. Auch Stoskopffs «Vanitas» (1631, Basel) besteht problemlos vor Linards Bild zum gleichen Thema (1640, Prado).
Meisterwerke von Tizian bis Goya
Die Reihe liesse sich fortsetzen. Es bleibt noch der Hinweis auf einige Spitzenwerke Tizians, Baroccis oder auf einen famosen Goya – alle aus dem Prado, aber auch auf Basler Bestände von Weltrang, zum Beispiel von Memling, Holbein, Baldung Grien – und auf die Grafik-Serie der „Capriccios“ von Goya aus dem Basler Kupferstichkabinett.
«¡Hola Prado!».

Kunstmuseum Basel. Bis 20. August. Katalog. www.kunstmuseumbasel.ch

 

 

 

«Zug: Pepperstein lässt Picasso auferstehen»

Das Kunsthaus Zug wartet auf mit einem interessanten, witzig-ironischen Projekt des Moskauer Künstlers Pavel Pepperstein (geboren 1966), der in Malereien, die das ganze Haus in Beschlag nehmen, mit Texten sowie mit auf Video festgehaltenen Interviews mit „Fachleuten“ die Auferstehung Picassos im Jahr 3111 feiert.

 

Zu neuem Leben erweckten den Meister aller Meister russische Wissenschafter – oder, in 45 neuen, grossen Malereien, eben Pavel Pepperstein, der in Zug schon oft gearbeitet hat – nicht nur im Kunsthaus: Seine witzigen kleinen Zeichnungen überraschen in einer Strafanstalt und in einer Schule.

 

Nicht rosa oder blau sind die Perioden im Werk des wieder zum Leben erweckten Künstlers aller Künstler, sondern rot, schwarz, grau, violett, grün und weiss. In der grauen Epoche entstand in sanftem Stil eine Porträt-Galerie, die schwarze gilt dem Harlekin-Motiv, die rote der Erotik, die violette einer Hinwendung zum Konstruktivismus. Und alle Bilder entstanden 2016 – oder 3111, wie P.P. sie signierte? P.P? Pablo Picasso – oder Pavel Pepperstein? Am besten alle beide: Picasso ist auferstanden im Multitalent Pepperstein, der mit seinen Rösselsprüngen mühelos alle Gattungsgrenzen überspielt. Er inszeniert die toll ausgedachte Geschichte mit Malerei, Zeichnung, Video, Text. Todernst geht es zu, wenn in den Videos die Wissenschafter des Moskauer Instituts in klugen Worten die Hintergründe ihrer Errungenschaft darlegen. Doch handkehrum blitzt geistvolle Ironie auf. Ist Picasso, der am Ende, nachdem er in der weissen Periode, einen Saal mit Pepperstein’schen Mondgesichtern ausschmückte, vor sich selber fliehen will, wirklich der Grösste? Ist Kunst oder bloss Nachahmerei, was da an alle den Museumswänden hängt – Nachahmerei, weil es eben nach all dem bereits Gemachten auch für den Spieler Pepperstein nichts Neues zu produzieren gibt? Geschickt gehandhabte Nachahmerei ist es natürlich, denn Pepperstein, der als Maler in die Picasso-Rolle schlüpft und da weitermacht, wo Picasso stehen blieb (etwa auf dem Weg hin zum russisch geprägten Konstruktivismus), versteht sich ausgezeichnet auf den eleganten Strich des Meisters. Und er steht zur Abkupferei.
«Die Auferstehung Pablo Picassos im Jahr 3111». Kunsthaus Zug, bis 21.Mai. www.kunsthauszug.ch

 

 

 

«Swiss Pop Art – Formen und Tendenzen der Pop Art in der Schweiz 1962-1972»

 

Von Niklaus Oberholzer
Eine schweizerische Erfindung war Pop Art, eine dominierende Kunst der 1970er Jahre, sicherlich nicht. Doch die Welle schwappte von Amerika und Grossbritannien über die ganze westliche Welt und damit auch über die Schweiz. Doch wie? Im Aargauer Kunsthaus gehen Madeleine Schuppli und Katrin Weilenmann in einer grossen Ausstellung dieser Frage nach.
Begrüsst werden die Besucherinnen und Besucher im Kunsthaus Aarau in der Ausstellung „Swiss Pop Art“ von Bildern einer tief roten glänzenden Tomate, eines dunkelbraunen Schokoladepuddings, dekoriert mit Schlagrahm, eines geöffneten Kühlschranks mit Weinflaschen (alle Peter Stämpfli, 1963 und 1964). In einem grossen Saal prangt die riesige, in knalligen Farben gehaltene Badehosen-Malerei mit dem schlichten Titel „Lahco“ (Markus Müller, 1970). In einem anderen Saal begegnen wir dem Bild eines Autoreifens, der eine weite Spur hinterlässt; die ganze Breite des Raumes ist damit besetzt (Peter Stämpfli, 1970). Ein ganzer Raum mit formal und farblich extrem formalisierten Rolling-Stones-Bildern macht die musikalische Atmosphäre der 1960er Jahre greifbar (Franz Gertsch, 1968). Und später begegnen wir der Malerei „Dracula-Ehepaar“, flächig und in eindeutigen Farben gemalt: die nackte, vor dem in gestreiften Pyjama gekleideten Mann liegende Frau als Sex-Objekt – als sei‘s von Tom Wesselmann (Margrit Jäggli, 1969). Oder wir stossen auf ein auf Rot, Blau und Grün reduziertes und wie eine Reklame wirkendes Schriftbild „Wandel“; es sieht aus, als hätte Robert Indiana, bekannt durch sein Markenzeichen LOVE, die Buchstaben zur Grafik gefügt (Marcel Stüssi, 1968).
Unscharfe Ränder
Dass diese Werke Pop Art sind, wird niemand bezweifeln, auch wenn sie oder er die 1960er und 1970er Jahre nicht miterlebte. Doch was ist Schweizer Pop, was Pop Art überhaupt? Pop Art ist eine Kunst, die sich in den oft riesigen Bildern von Reklame, Konsumwelt, Autos, Unterhaltungsindustrie, Medien wie TV oder Mode anregen liess und sich dabei auf der einen Seite hemmungslos kommerznahe gebärdet, auf der andern Seite sich aber durchaus auch einmal konsum- und staatskritisch äussert. Allerdings sind, wie bei jedem Begriffssystem, das man über kulturelle Phänomene stülpen will, auch hier die Ränder unscharf – zum Beispiel die Ränder hin zum Nouveau Réalisme ohnehin, aber auch zu Teilen des amerikanischem Hard Edge oder gar zu Konstruktivem oder zur Abstraktion. Daniel Spoerri und Jean Tinguely, „klassische“ Nouveaux Réalistes, sind in Aarau vertreten, auch Hans-Peter von Ah (mit glänzenden monochromen und illusionistischen Kunststoff-Flachreliefs). Und ist Livio Bernasconis „Town“ (1964) Pop? Trotz des Titels lässt das qualitätvolle Bild kaum an eine pulsierende städtische Atmosphäre denken; da geht es schon eher um auf Konstruktion basierende Abstraktion.
Eine Episode
Nicht nur Tinguely, Spoerri und von Ah haben, wenn sie sich überhaupt je der Pop Art zugehörig fühlten, dieses Feld bald einmal verlassen. Das gilt auch von sehr vielen anderen der rund 50 Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung. Für viele war Pop wohl eher eine Episode. Prominente Beispiele: Markus Raetz, Urs Lüthi, Dieter Roth, Niki de Saint-Phalle. Oder der 2007 verstorbene Christian Rothacher, ehemals Mitglied der Aarauer Ziegelrain-Gruppe, der einen völlig eigenständigen Weg als kluger und oft verschmitzt lächelnder Objektkünstler einschlug. Auch von den anderen genannten Künstlern gilt: Es gibt in ihrem Werk – für viele völlig überraschend auch beim damals erst 20jährigen Urs Lüthi – in der grafischen Behandlung der Bildfläche, in harten Konturen, flächiger Malweise, Zitaten aus Reklamewelt oder mit Pin-ups Anklänge an Pop Art, doch der Weg führte sie rasch weiter. Wieder andere wurden höchstens in geringfügigen Details von der Pop-Welle erfasst – Friedrich Kuhn zum Beispiel, 1972 nur 46-jährig gestorben. Auch in seinem Werk gibt es eine Art „Markenzeichen“ oder „Brands“ (die immer wieder beschworene Palme) und hier und dort ein posierendes knapp bekleidetes Mädchen, doch Kuhn war eine so singuläre Künstlererscheinung, dass er sich in keine Schublade einfügen lässt.
Veritable Entdeckungen
Nun machen Madeleine Schuppli und Katrin Weilenmann aber niemals geltend, sie würden ausnahmslos reine Pop Art zeigen. Der Untertitel der Ausstellung „Formen und Tendenzen der Pop Art in der Schweiz 1962-1972“, darauf legen die beiden Wert, signalisiert ja, dass sie in der Schweizer Kunst dieser Zeit Tendenzen und damit Pop-Art-Spuren sichern wollen. Und dass gelingt ihnen auch, womit sie die Schweizer Kunstgeschichtsschreibung nicht gerade umschreiben, wohl aber korrigieren: Ihre Ausstellung, die erste grosse übrigens, welche dem Phänomen Pop in der Schweiz nachgeht, fördert doch bis hin zu Design, Mode oder Plakat-Grafik sehr viel zu Tage, was als Niederschlag der damaligen beinahe schon globalen Grosswetterlage gelten kann. Sie bereitet den Besucherinnen und Besuchern überdies, je nach Alter oder Informationsstand, den Genuss einiger veritabler Entdeckungen.

Einige Beispiele unter vielen: Da wurden, zum Thema Auto, Werke zweier Künstler nach Aarau geholt: Der Tessiner Fernando Borodini kombiniert schnittige Karosserien mit aufreizend in Szene gesetzten Frauenkörpern. Marc Egger tritt mit seinen bereits um 1963 entstandenen Malereien gestylter Jaguar-Karosserien als eigentlicher Pionier in Erscheinung. Als Pioniertat können auch die um 1964 entstandenen Collagen von Roman Candio gelten, in denen der Solothurner Künstler Zeitungsausrisse mit Abbildungen von weiblichen Körperteilen und mit Wäschereklamen zu eigentlichen kleinen „Malereien“ zusammenfügte. Barbara Davatz gibt ihren Fotos aus der Appenzeller Alpenwelt poppig-grelle Farbigkeit und gibt dem Pop gar eine folkloristische Note.
Das sind kaum allseits und schweizweit geläufige Namen. Entdeckungen werden auch im Frühwerk bekannter Schweizer Künstler möglich. Beispiele sind die Tuschezeichnungen (1969) des Allrounders Anton Bruhin oder das Objekt „Milk Pack“ (1967) von Franz Eggenschwiler, ein kleiner Geniestreich; die beiden Tetrapack (aus vier Dreiecken zusammengefügte Behälter) aus Chromblech wirken wie die Reliquie einer längst aus den Verkaufsregalen verschwundenen und heute kaum mehr bekannten Alltäglichkeit.

 

Der Katalog
Ein umfangreicher Katalog begleitet die überraschungsreiche und auch unterhaltende Ausstellung. Neben Kurzbiographien der beteiligten Künstlerinnen und Künstlern und Abbildungen vieler Werke kreist die Publikation das Thema in zahlreichen Essays ein. Sie situieren den Schweizer Pop im internationalen Umfeld, fragen nach den regionalen Hotspots, skizzieren die Rolle der Pop Art im öffentlichen Raum und widmen sich der Rezeption von Pop Art. Sie zeigen auch Bezüge auf von der bildenden Kunst zum gesamten kulturellen Umfeld mit Schwerpunkt bei Design und Musik. Beigesteuert wird unter dem Titel „Bewegte Zeiten“ überdies ein Streifzug durch Politik, Gesellschaft und Kultur von den 1950er bis zu den 1970er Jahren. Das stattliche Buch hat das Zeug zum Standard-Werk über Pop Art und die Schweiz.
In der Ausstellung selbst gibt es überdies eine Lounge. Sie ist in einer Art Pop-Retro-Look gestaltet von L/B (Lang/Baumann) und bietet Gelegenheit, sich in ausgewählte Literatur zum Thema zu vertiefen und dazu Musik aus den 1960er Jahren zu hören.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 1. Oktober. www.aargauerkunsthaus.ch

Katalog: Swiss Pop Art. Formen und Tendenzen der Pop Art in der Schweiz 1962-1972. Herausgegeben von Madeleine Schuppli. Aargauer Kunsthaus und Scheidegger & Spiess. 550 Seiten, 69 Franken.

 

 

 

«Kunstmuseum Chur: Erosionen»

 

Von Niklaus Oberholzer
Das Bündner Kunstmuseum in Chur stellt in einer breiten Retrospektive den 1953 in Chur geborenen, in Zürich lebenden Hans Danuser vor. Das Haus präsentiert ihn als einen Fotokünstler, der einer konsequenten Forschungsarbeit mit dem Bild verpflichtetet ist. Sein Werk ist eine beeindruckende Befragung der Realität und ihren steten Veränderungen.

 

Wer im Museum in düsterer Gegenwart schöne bunte Bilder des schönen Trosts sucht, ist im zweiten Untergeschoss des neuen Erweiterungsbaus des Bündner Kunstmuseums fehl am Platz. Ein allererster Eindruck wird dominiert von einem Grau oder, in der neuesten Werkgruppe, von einem beinahe monochrom wirkenden lichten Ocker. Nicht-Farben also? Das Grau ist aber nicht eintönig. Es lebt von all jenen an Nuancen reichen Zwischentönen zwischen tiefem Schwarz und hellem Weiss, wie wir sie nur aus der analogen Photographie kennen, und wie sie den Betrachter und die Betrachterin, die sich auf die Sache einlassen wollen, faszinieren und bannen können. Da ist aber nicht nur dieses sinnliche Erleben einer der traditionellen Materialität verpflichteten Fotografie, denn die Faszination führt gradlinig weiter in jene Inhaltlichkeit, der sich Hans Danuser seit mehr als 30 Jahren mit bedächtigem Beharrungsvermögen widmet, und die ihn und auch uns Betrachtende zu immer neuen Fragen veranlasst: Was genau sehen wir? Wie genau sehen wir es? Was ist der bestimmende Hintergrund jener Oberfläche, die wir oft zu rasch als Wirklichkeit hinzunehmen bereit sind? Da gibt es keine raschen Antworten, sollen sie nicht an dieser Oberfläche halt machen.

 

 

«Strangled Body»
Ein Beispiel ist die 1995 entstandene achtteilige Serie «Strangled Body». Die einzelnen Teile, Hoch-oder Querformate, messen ca. 145 auf 235 cm und sind eisengerahmt. Die dunklen, stellenweise in tiefes Schwarz absinkenden Fotografien können wir als Bilder unbekannter versunkener Landschaften lesen oder als in Nahsicht gezeigtes Organisches. Der Titel verweist auf geschundene Körper, auf Gefährdung der Existenz und Verletzlichkeit. Hans Danuser schuf die Bilder in gerichtsmedizinischen Instituten. Es sind, obwohl sich keinerlei Details verifizieren lassen, Bilder der Gewalt, des Krieges, des dem Körper zugefügten Leides. Und doch strahlen sie, bei aller Unsicherheit, die sie im Betrachter hervorrufen, Ruhe, Abgeklärtheit und Würde aus. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, die Abgründen, die sich hinter diesen Bildern öffnen, zu ertragen.

 

 

«Erosion»
Veränderung des Körpers – Veränderung der Landschaft: Beim Betreten des grossen weissen Ausstellungssaales fällt der Blick auf die auf dem Boden ausgelegten mehr als 30 Bildtafeln der Serien «Erosion» (2000-2006). Die Barytabzüge messen je 59 auf 55 cm, sind auf Aluminiumplatten aufgezogen und liegen unter Glas. Die Fotografie hält hier, der Titel sagt es, Veränderungen der Erdoberfläche durch Erosion fest. Die Erosion scheint nicht ein abrupter Vorgang gewesen zu sein. Sie hinterlässt auf diesen Bildern eine weich modellierte, gleichsam organisch-lebendige Oberfläche, die wir in ihren subtil abgestuften Grauwerten – hier fehlt das tiefe Schwarz von «Strangled Body», und es gibt auch kein klares Weiss – als eine Art Haut wahrnehmen. Die Fotografie lässt die Veränderung definitiv erscheinen, könnte sich allerdings fortsetzen.

 

 

«Landschaft in Bewegung»
In der jüngsten Serie der Ausstellung, «Landschaft in Bewegung /THE LAST ANALOG PHOTOGRAPH» (2007-2017), werden Bewegung und Veränderung zu den einzigen Konstanten: Hans Danusers Grossformate zeigen die Oberfläche einer Sandwüste. Der Wind löscht jede Kontur, jede Grenze und damit auch jeden Halt, der sich dem Auge anbieten könnte. Einmal nur bleibt der schwach durch den aufgewirbelten Sand schimmernde Lichthof der Sonne wahrnehmbar. Auch diese Arbeiten sind analoge Fotografien – schwarzweiss aufgenommen und mit einer eigens entwickelten und aufs Papier aufgetragenen Emulsion in hellem Ocker eingefärbt: Damit beschreitet der Künstler erneut zukunftsweisende Wege der analogen Fotografien – wie er, stets experimentierfreudig, das schon in den 1970er Jahren tat, als er mittels fotografischer Technik das Bild eines fragilen Eis auf eine harte Marmorfläche zauberte.
Die Anordnung der neuen Serie «Landschaft in Bewegung» an der Stirnwand des Saales hat Danuser ganz bewusst gewählt. Je nach Betrachterstandort spiegelt sich das helle Ocker in den auf dem Boden teils leicht abgewinkelt angeordneten Platten der Serie «Erosion». Die Bilder scheinen zu schweben und der Raum zu schwingen. So werden die neuen Arbeiten zur selbstverständlichen Fortsetzung der früheren. Beide Werkgruppen zusammen lassen sich lesen als Kommentar zu einer Zeit, in der gesellschaftliche und kulturelle Grenzen durchlässig werden – oder sich bis zur völligen Entgrenzung aufzuweichen beginnen.
Bewegung, Veränderung und Auflösung sind auch die Themen der Serie «THE PARTY IS OVER». Da zeigt sich Danuser allerdings von völlig anderer Seite: Während eines Atelier-Aufenthalts in New York (1984) hielt der Fotograf, der spezifischen Atmosphäre der kriselnden US-Grossstadt nachspürend, in Farbaufnahmen (Kleinbild oder Mittelformat) Eindrücke sich auflösender Subkulturen am Rand der Gesellschaft fest: Auch da also eine Erosion, die nicht aufzuhalten ist. Mehr als 20 Jahre später, 2016, bearbeitete er das Material und fügte es zu einer 21-teiligen, grossformatigen, in Chur nun erstmals gezeigten Serie von durchaus malerischen Qualitäten. Es sind dies die einzigen Digitalprints der sonst durchwegs der Analogfotografie verpflichteten Churer Ausstellung.

 

 

«IN VIVO» und Zumthor Project
In der Churer Ausstellung gezeigt wird auch Hans Danusers bekannte Serie «IN VIVO», der seine Arbeit in den 1980er Jahren schwergewichtig galt. Die 93 Schwarz-Weiss-Bilder führen die Betrachter buchstäblich in eine «Dunkelkammern der Fotografie» – so der Titel der Ausstellung – , in allgemeinem Zugang verschlossene Zentren von Atomenergie, Medizin, Chemie, Pathologie und damit in für Aussenstehende unheimliche, aber manche Aspekte der Gesellschaft prägende Bereiche von Macht.
Ebenfalls in die Präsentation einbezogen sind Hans Danusers Fotoessays über Bauten von Peter Zumthor – über die Kapelle Sogn Benedetg bei Sumvigt im Bündner Oberland, über die Schutzbauten für die Ausgrabungen römischer Funde in Chur und über die Therme in Vals. Die Subtilität, mit der Hans Danuser die Architektur ins Bild überträgt, bezeugt eine tiefe Wesensverwandtschaft zwischen Architekt und Künstler.

 

 

Hans Danuser 

Dunkelkammern der Fotografie.

Bündner Kunstmuseum Chur. Bis 20. August 2017.

Ein Katalog mit Texten verschiedener Autorinnen und Autoren

erscheint am 3. August.
www.buendner-kunstmuseum.ch
Hans Danuser (1953 in Chur geboren, in Zürich lebend) widmete sich nach einer Assistenz beim deutschen Werbe- und Modefotografen Michael Lieb anfangs der 1970er Jahre künstlerischen Experimenten mit lichtempfindlicher Emulsion. 1980 begannen seine Arbeiten am grossen Projekt «IN VIVO», in dem er sich schwer darstellbaren, der Öffentlichkeit unzugänglichen Bereichen in Forschungs- und Wirtschaftszentren annäherte. Auf diese auch als Buch erschienenen Arbeit folgten weitere fotografische Projekte, in denen er sich kritische Fragen zur komplexen aktuellen Wirklichkeit, aber auch zum Realitätsbezug des Medium Fotografie stellte, sowie viele raumgreifende Installationen und Kunst-am-Bau-Vorhaben. Hans Danusers fotografisches Werk fügt sich nahtlos in die Arbeitsfelder der zeitgenössischen bildenden Kunst ein.
Hans Danuser, der u.a. auch eine Gastprofessur an der ETH Zürich erhielt, pflegte stets auch die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, Schriftstellern und Architekten. 2001 wurde im der Bündner Kunstpreis zugesprochen.

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