FRONTPAGE

Diversity ist das Gebot: «Die Wahrheit über Eva und die Erfindung der Ungleichheit»

Von Ingrid Isermann

 

Der Gender Data Gap, die Datenlücke, die aus der jahrtausendealten Priviligierung der Männer resultiert, ist das Ergebnis einer Geschlechter-Anomalie. Sie markiert das fehlende Wissen von Frauen in der Geschichtsschreibung. Diversität ist das Gebot der Stunde, um patriarchale Verkrustungen aufzubrechen.

Zu diesem Schluss gelangen der Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Carel von Schaik und der Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel mit ihrem aufklärenden Buch «Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern».

Die Autoren präsentieren die Faktenlage, dass vor Jahrtausenden die Geschlechter egalitär waren und unsere geltende Gesellschaftsordnung der Ungleichheit von Frauen und Männern alles andere als normal ist.

Am Anfang ihrer Forschung stand ein Déjà-vu, wie Evas Geschichte an die evolutionären Geschehnisse erinnere und die Bibel die Unterdrückung der Frauen als historisches, jedoch nicht von der Schöpfung intendiertes Geschehen charakaterisiere. Und wie viel die biblische Eva mit ihren biologischen Schwestern gemein hat: neugierig und eigenständig gibt sie nichts auf Autoritäten und fragt schon gar nicht ihren Mann um Erlaubnis.

Die weibliche Erfindung der Landwirtschaft bescherte den Menschen neue Erkenntnisse, die der patriarchalen Unterdrückung und der Gut-und-Böse-Ordnung. Frauen leben weltweit in einer Welt der Ungleichheit, die für sie nicht geschaffen scheint. Dieses Ergebnis führen die Autoren auf die patriarchale Matrix zurück, die Unterordnung der Frauen als kulturelles Produkt und nicht als biologischer Tatsache.

Daher wurde ein Mythos zur Legitimation geschaffen, dass Gott die Frauen zur Strafe für Evas Tat den Männern untertan gemacht habeEr sollte die Frauen blind machen für die Wahrheit, indem behauptet wurde, «euer Schicksal ist hart, aber ihr büsst für eure Urahnin, und wenn ihr nicht gehorcht, ereilt euch Gottes Zorn». Das jedoch ist eine Lüge, so die Wissenschaftler, weshalb sie sich auf die Suche nach der Wahrheit begaben.

 

 

Jahrtausende männlicher Dominanz

Denn würde die Biologie die Schuld an der Geschlechter-ungerechtigkeit tragen, hätte es die Sündenfall-Geschichte gar nicht gebraucht. Dann wären keine Splitter im Verstand der Frauen geblieben, der sie stets schmerzhaft spüren lässt, dass mit dieser Welt etwas für sie nicht stimmt. Wäre es nur die Biologie, lebten Frauen ohne geringsten Protest ein unterwürfiges Leben, die natürliche Selektion hätte längst dafür gesorgt, dass sie sich ihrem Schicksal fügen. Doch es geht um Gerechtigkeit.
Während der Jahrtausende männlicher Dominanz gab es immer weiblichen Widerstand. Solange die «Patrix» zu mächtig, die Protestierenden zu isoliert waren, konnte die Subversion der Frauen keine gesellschaftliche Resonanz entfalten und stand auf verlorenem Posten. Trotzdem ist dieser Minderheitsdiskurs nie verstummt, immer wieder poppt er neu auf und gewinnt an Stärke, auch als der kirchlich-staatliche Komplex als Urheber der Patrix zu schwächeln begann.

 

Die Revolten und Revolutionsversuche, Reformationen und Glaubenskriege, Aufklärung, Liberalismus und wissenschaftlicher Fortschritt setzten der Selbstherrlichkeit der alten Allianz von Thron und Kirche (die katholische Kirche als «Fort Knox des Patriarchats») zu. Immer breitere Gesellschaftskreise partizipierten an den öffentlichen Diskursen und damit auch immer mehr Frauen. Emanzipationsthemen jeglicher Couleur gewannen an Brisanz, addierten und verstärkten sich und erreichten den «Tipping point», die Flut brach los, so die Autoren.
Es ist das alte Evolutionsrezept des «Gemeinsam sind wir stark». Denn die Natur arbeitet in Netzwerken. Dank Kooperation bezwingt man Stärkere. Das ist auch im Zuge der digitalen Revolution zu beobachten. Neue Formen der Vernetzung machten das Internet zum Medium der Selbstermächtigung. Isolation wird überwunden und neue Allianzen ermöglicht. Das versetzte auch dem Feminismus einen neuen Schub, bis zu den pluralen LGBTQ-Bewegungen.

 

 

Gender Data Gap zu Big Data?
Sind die Zeiten vorbei, wo Männer die unausgesprochene Selbstverständlichkeit sind, und von Frauen gar nicht geredet wird? Ob Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Gesundheit, Soziales oder Kultur, in allen Gesellschaftsbereichen dominieren bisher männerbezogene Daten, was negative Folgen für Frauen hat, die existenziellsten vielleicht in der Medizin. Die Gefahren sind gross, dass sich der Gender Data Gap in die mit Big Data operierenden männlich orientierten digitalen Welten und Künstlichen Intelligenzen einschreibt. Erlebt der «Patrix» digital die Wiedergeburt? Wird die Datenwirklichkeit männlich sein?
Doch mittlerweile ist die Sensibilität zu hoch, und die Frauen zu weit auf ihrem Weg in die Positionen der Macht in Gesellschaft und Politik, so die Autoren. Und dass die Frage gesellschaftlicher und globaler Ungleichheit neue Konzepte braucht, die alle Formen der Diskriminierung sichtbar macht, ist längst Teil des Bewusstseins. Die Enwicklungen der letzten Jahrzehnte, der Prozess der Gleichberechtigung und die Erfolge des Feminismus sind nicht reversibel.

 

 

Die Macht der Patrix
Geht es jedoch darum zu erklären, warum Frauen in unterbezahlten Jobs immer noch überrepräsentiert und in überbezahlten Jobs unterrepräsentiert sind oder warum die Frauenquote in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) so gering ist, taucht fast automatisch die Vermutung auf, dass daran doch «biologische» Faktoren wie das «weibliche Gehirn» schuld sein könnten.

Der Attributionsfehler lockt, zumal er eine ebenso simple wie bequeme Erklärung liefert, die den Status quo stützt und die Patrix an der Macht hält. Es braucht also mehr Aufwand zu erklären, wie es zu den heutigen Anomalien im Geschlechterverhältnis kam und wie diese auf subtil-perfide Weise weiterwirken, die sich auf mögliche biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern konzentrieren, während der kulturelle Spielraum viel grösser ist.
Eine weitere Argumentation aus religiösen Kreisen für die Schlechterstellung der Frau galt seit langem die Begründung: Es ist Gottes Wille. All das, was die Religion heute so umstritten und zuweilen auch gefährlich macht – die Intoleranz, der Machtwille, der Glaubenszwang, die moralischen Vorschriften, die dogmatische, veraltete Welterklärung und Fixierung auf das Böse, die Sexualitätsfeindlichkeit und Frauendiskriminierung -, ist nichts, was genuin religiös wäre. Denn es sind Züge der männlich dominierten Herrschaftsreligion, die dazu diente, Macht abzusichern und Konkurrenz zu beseitigen, was seit Jahrtausenden wirksam war.

Hier ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Gleichberechtigung und Förderung von Diversität, das unsere Spezies und ihre evolutionäre Geschichte begleitet, denn unsere Gesellschaft ist für das Überleben auf Kooperation und nicht für übergrosse Ungleichheiten prädestiniert. Lesenswert!

 

 

Carel van Schaik, geboren 1953 in Rotterdam, ist Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe. Er erforscht die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz bei Menschenaffen. Er war Professor an der Duke University in den USA und von 2004 bis 2018 Professor für biologische Anthropologie an der Universität Zürich, wo er als Direktor dem Anthropolgischen Institut und Museum vorstand. Carel van Schaik ist Autor des Standardwerks «The Primate Origin of Human Nature» und ein korrespondierendes Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Zürich.

 

Kai Michel, geboren 1967 in Hamburg, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er hat von GEO über Die Zeit bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung für deutschsprachige Medien geschrieben. Gemeinsam mit Carel van Schaik las er die Bibel aus einer evolutionären Perspektive als «Das Tagebuch der Menschheit», mit dem Archäologen Harald Meller legte Kai Michel den Bestseller «Die Himmelsscheibe von Nebra» vor. Er lebt als Buchautor in Zürich und i Schwarzwald.

 

 

Carel van Schaik & Kai Michel
Die Wahrheit über Eva
Die Erfindung der Ungleichheit
von Frauen und Männern
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
Hardcover, geb. 701 S.
CHF 41.90
ISBN 978-3-498-00112-4

 

 

«50 Jahre Frauenstimmrecht: 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung»

 

 

50 Jahre nach der Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts in der Schweiz ziehen 25 Frauen Bilanz, schauen zurück und nach vorn. Warum dauerte es über 100 Jahre bis zur politischen Gleichberechtigung? Welche Rolle spielt das Stimmrecht heute für Frauen? Wählen Frauen anders? Wie steht es um die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Öffentlichkeit heute?

 

Ist es erst oder schon 50 Jahre her, seit in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt wurde? Wohl beides. Es ist noch nicht lange her, dass die Frauen stimmen können. Und doch ist die Zeit schnell vergangen… was seither alles passiert ist, darüber geben Frauen aus Politik, Wirtschaft und Kultur Auskunft.
Am 7. Februar 1971 stimmten die Schweizer Männer nach mehreren gescheiterten Plebisziten endlich mehrheitlich für das allgemeine Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Der Durchbruch kam spät – viel später als in den Nachbarländern –, doch der Kampf hatte auch in der Schweiz eine lange Geschichte. Welche Rolle spielt das Stimmrecht heute für Frauen? Wählen Frauen anders? Was wurde erreicht, wo gibt es Handlungsbedarf?

 

«50 Jahre Frauenstimmrecht» versammelt Texte und Interviews von und mit bekannten Schweizer Frauen aller politischer Couleur und jeden Alters, die sich aus ihren  unterschiedlichen Perspektiven mit den Themen Wahlrecht, Demokratie und Gleichberechtigung befassen. Es geht um die Geschichte und Gegenwart, aber vor allem um die Zukunft der Gleichberechtigung – denn es gibt noch immer viel zu tun!

 

Petra Volpe, *1970, u.a. Regisseurin des erfolgreichen Gender-Spielfilms über den Kampf für das Frauenstimmrecht «Die göttliche Ordnung» meint, dass «die Frauen in der Schweiz immer so wahnsinnig bescheiden sind. Ich finde, man hätte sagen müssen: Ja, wow, wir haben es geschafft, wir sind stolz und schweigen nicht mehr über unsere Unterdrückung! Die Geschichte der Frauen ist keine kleine Nebengeschichte. Das ist eine grosse Geschichte, die viel aussagt über unser Land».

 

Elisabeth Kopp, *1936, war von 1984 bis 1989 die erste Bundesrätin der Schweiz und damit die erste Frau in der Landesregierung: «Ich wollte in jeder Beziehug so gut sein, dass niemand sagen kann: Die Frauen können das nicht». Sie setzte sich auch fürs Frauenstimmrecht ein. Als ihr Mann, Rechtsanwalt, in zwielichtige Geschäfte verwickelt schien, liess ihre Partei, die FDP, sie fallen. Kopp trat zurück.

 

«Iris von Roten hat die Leute mit knallharten Fakten dazu gezwungen, die Frauenfrage, ernst zu nehmen», sagt Anne-Sophie Keller, *1989, Gesellschaftsjournalistin, Kolumnistin und Autorin, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter engagiert. Iris von Roten war Wegbereiterin und Hassobjekt und definierte mit ihrem Buch «Frauen im Laufgitter» die Situation der Frauen in den 50er und 60er Jahren. Im Strauhof Zürich findet im Januar eine Ausstellung zu Iris von Roten statt.

 

 

Mit Porträts, Gesprächen und Beiträgen von Viola Amherd, Kathrin Bertschy, Margrith Bigler-Eggenberger, Adrienne Corboud Fumagalli, Fanni Fetzer, Fina Girard, Serpentina Hagner, Gardi Hutter, Cloé Jans, Anne-Sophie Keller, Bea Knecht, Elisabeth Kopp, Zita Küng, Lea Lu, Andrea Maihofer, Samira Marti, Christa Rigozzi, Ellen Ringier, Isabel Rohner, Irène Schäppi, Christine Schraner Burgener, Regula Stämpfli, Katja Stauber, Petra Volpe und Nathalie Wappler.

 

 

Isabel Rohner & Irène Schäppi

50 Jahre Frauenstimmrecht

25 Frauen über Demokratie, Macht und

Gleichberechtigung

Limmat Verlag, Zürich 2020

Geb., 256 S., CHF 34

ISBN 978-3-85791-891-9

 

 

 

 

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