«Norbert Lange: Unter Orangen»
Von Ingrid Isemann
Jetzt ist die Zeit der Orangen, die Farbe ins Novembergrau bringen. Als Signalfarbe leuchtet sie in weite Ferne, setzt ihr Licht als Zeichen von Enthusiasmus und Diesseitigkeit mit ihrem ausgestellten Optimismus, meint Norbert Lange in seinem neuen Gedichtband «Unter Orangen».
Der mythische Sänger Orpheus & Orangen? Wie geht das zusammen? In 3 Kapiteln und 3 Variationen des Orpheus-Mythos stellt Norbert Lange sich in seinem neuen Gedichtband wagemutig der Frage nach dem lyrischen Subjekt.
Der Band beginnt mit einer Transkreation von Gedichten des US-amerikanischen Kultautors Jack Spicer, die spotlightartig die Stationen der Orpheus-Geschichte wiedergeben, gefolgt von einer Komödie, die in die Gegenwart führt und sozusagen nichts Göttliches an sich hat: ein episches Langgedicht, in der Tradition lyrischer Epen von den Suren des Korans und den Terzinen Dantes über die rhythmische Prosa französischer Autoren wie Aloysius Bertrand oder Victor Segalen.
Übertreibungen findet man in diesen Texten, die von Orangen und Parasiten erzählen, die man für groteske Spiegelbilder des Sängers Orpheus halten könnte, deren Lächerlichkeit aber zunehmend einen höllischen Narzissmus aufdeckt, dem selbst die Zerstörung des Planeten eine willkommene Bühne ist.
Das 3. Kapitel greift das danteske Schreckensszenario der Orangen wieder auf und schlägt den Bogen zurück zu den tragischen Orpheusgedichten am Anfang: eine Künstlernovelle in Briefen und mit essayistischen Passagen des 1965 verstorbenen Dichters Jack Spicer an Norbert Lange. Eine Parabel über das Leiden an dem Egoismus und selbstgenügsamen Narzissmus des Dichterstandes.
Norbert Lange führt in diesem epischen Kraftakt seine »Arbeit am Mythos« aus, als Abbrucharbeit direkt am Fundament. Ein erregendes und anregendes Stück Poesie.
Die Geschichte von Orpheus,
nach einem Bericht Jack Spicers, aufgeschrieben von Norbert Lange
1 (Die Hölle)
Bei seinem ersten Auftritt in der Hölle
Spielte er mit einem Selbstvertrauen seine Hits,
Dass ihn selbst das Knistern der wabernden Flammen
Oder das heiße Yolo der Jukebox, in die Verdammte Münzen warfen,
nicht erschüttern konnten. Da oben
Auf Erden hatte er Steinen das Hören beigebracht,
Seiner Musik lauschend, waren ihnen Beine gewachsen,
Mit denen sie den Tanzboden erbeben ließen.
Wie anders war es hier unten. Die Leute im Publikum
Waren nicht die Alten geblieben. In ihren Gesichtern suchte er Nach einer Antwort: War die ganze Hölle
unmusikalisch?
Er hatte einen Evergreen auf den Lippen, doch Schmerz Dröhnte aus den Boxen, die Flammen loderten
Und verzogen die Gesichter wie Wachs.
Jemand rief seinen Namen
Schon stand er am Ausgang
Und an der Türe kläffte ein dreiköpfiger Rüde.
Später hingen ihm die Toten alle noch in den Ohren Und er nannte sie Eurydike.
Orangen [1]
Väterliche Dichter waren da, große Brüder, denen ich etwas erzählte; einmal unter ihren wohlmeinenden Blicken ins hohe Horn geblasen, und alle fraßen aus meinen voll austeilenden Händen. Nicht nur Backpfeifen, es waren Fürsten da, die sich die Münder stopften mit Gedichten. Mäuler, vorgewölbt wie runde Orangen, aus denen der Saft lief, Mäuler, ausgedehnt als lutschten sie an Bratpfannen. Die Augen rauchten das Dauphin-Haar der Prinzen, die saßen, wo man gerade Platz fand. Göttermaschinen weinten Blut, von meinen Lippen tropfte eine rötlichweiße Träne. Und ein Besucher lüpfte den Hut, darunter Uhrwerk, Lineal, Stempelwalze, Metermaß, Geldbörse. Die applizierten Gegenstände machten den hölzernen Perückenkopf perfekt. Doch man wünschte Scheren. In einer Ecke sitzend, sein nach Vorlage gestyltes Haar mit Speichel in seine Form zwingend, brütete das überkritische Kind und suchte verzweifelt im Raume nach den Ohren, dem Esel der Gesellschaft. Kind-Poeten waren die Orangen eigentlich.
# Republik der Dichter
Orangen [2]
Orangen? Welche Orangen? Wie aufwendiges Liebesspiel richtete der Henker seinen Galgen auf, und die Hänglinge fragten: »Die Dichter, die mit einer Orange in ihrem Mund sprechen, wohin sind sie verschwunden?« Es war denkbar einfach, aber langgestreckt und schwer.
Die bekloppten Sieben Säulen der Frauen, mit ihren Zeigefingern heraufwedelnd zur Bühne, auf deren Brettern stehend ich angestrengt hinunterzulauschen versuchte: »Ahh, ohh, du hast Puschkin angeschissen!«
Verschlafen, der Familienschein des Widerspruchs, saß ich kopflos auf der Matratze und versuchte ein ums andere Mal die Noten davon aufzufädeln. Oben kreiste, was ich nicht erkennen konnte.
Mit seinen Lippen auf den Abfluss gepresst war der Poète maudit. Doch es gab nichts.
Nun leide ich also am Verhältnis-Schwachsinn meiner Freunde.
Hände an den Ohrmuscheln, bereits in der Hocke und bald schon auf den Knien; Puschkin? Angeschissen? Ich?
Zum Bleistift geworden.
# Große Schelte
Orangen [3]
Was für Orangen? Ich hörte die Registriermaschine kichern? Alle waren auf einem Stuhl. Und wieder: nicht. Schlafend auf meiner Matratze, und beim Versuch, eine um die andere Note des Vogelgesanges aufzuperlen, mit einer Nadel vom Revers meines Schlafanzugs, wobei die Töne verrutschten. Undenkbar, ich wurde undankbar. Es war die Denkweise, in aller Deutlichkeit, nunmehr schläfrig, dass die Tage zu weit auseinanderlagen, um die Ereignisse rückwärts wieder herzurichten. Monate mal mit obszön und mal gähnend aufgesperrten Mündern, in denen Zahnreihen funkelten. Eine Perle fiel zwischen die Falten des Rocks, den mir jemand angezogen hatte, bloß wer? Dann musste ich suchen. Im Schneidersitz. Nun hörte ich die Karten neu mischen, eine Geldzählmaschine. Im Trott der Stempel etwas weiter weg, in deren wohlriechendem Sog und bei einem Lied die Frauen das Blut aus meinem Hals gezogen haben. Ein Pokal, zwei Konsonanten und jede Menge unbekannter Variablen.
# Pique
Orangen [4]
So viele Orangen? Als hätte ich auf einem Stuhl den Platz gefunden, als der Showmaster näherkam, um in die Menge zu greifen. Wen er herausfischte, den schälte er mit einem Jagdmesser, ein Prozedere, das dauerte; mich schmerzte, zu sehen, wie schnell der Haufen aufgebraucht war. Plötzlich in die Höhe gezogen, oder geschnellt, und wieder geschwinde herabgelassen, waren meine Arme verrenkt. Ich tanzte, überschlug mich, so gut ich konnte, alles in allem, sprang durch Reifen, fing kleine Äpfel mit zwei Messern auf, ahmte den Gesang der Vögel nach. All das, als ich wieder zu mir gekommen war. Noch immer spielte ich für alle den Lustigmacher. Vor dem Podium aber qualmte die erste kritische Stimme, die meinte, ich hätte zu viel Seil. Langsam kehrt das Leben zurück. Die Orangen auf dem Stuhl fordern lautstark, das mathematische Problem zu lösen. Dem Manegehengst, den man vorführt, quillt aus klaffender Halswunde Blut. Er rezitiert uns daraus, und dann wird ihm der Lorbeer um die Schultern gehängt. Der Showmaster zog an einem Ende, doch die Kommentare blieben unverändert bissig. Als ich die Grimassen sah, schrieb ich in lupenreinem Latein, dass die Deutschen es mit Armen treiben, die von ihrem Rumpf geschnitten wurden. »Seht ihr«, daraufhin der Showmaster, »noch immer zu viel Seil.«
Norbert Lange, 1978 in Gdynia geboren, Kindheit- und Jugend an Rhein, Mosel und Lahn, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Sein Tätigkeitsfeld sind Übersetzungen und Herausgaben von Dossiers zu grösstenteils US-amerikanischen und britischen Dichter:innen in der Zeitschrift Schreibheft und in Buchform. Zuletzt: Jerome Rothenberg und Charles Bernstein. Norbert Lange ist als Übersetzer von Charles Bernstein mit dem Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie ausgezeichnet worden.
Norbert Lange
Unter Orangen
Gedichte
Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2021
128 S., geb., CHF 31.90. € 20.
ISBN 978-3-88423-655-0
«Annette von Droste-Hülshoff: Dichterin zwischen den Feuern»
«Denn in hundert Jahren möcht‘ ich gelesen werden…», notiert sie selbstbewusst über ihren Nachruhm: Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848), die wohl bedeutendste deutschsprachige Dichterin des 19. Jahrhunderts. Das facettenreiche Porträt einer vitalen Frau, feinsinnigen Poetin zwischen den Feuern der Liebe und der Revolution, des Umbruchs ihrer Epoche.
Als Siebenmonatskind kommt sie auf einer westfälischen Wasserburg zur Welt und ist kaum lebensfähig. Aber Annette kämpft, auch wenn sie zeitlebens kränklich bleibt, ziehen sich Stärke und Vitalität wie ein roter Faden durch ihre Biografie. Früh zeigt sich Annettes grosse Begabung: hochmusikalisch, formuliert sie schon früh meisterhafte Verse.
In einer Epoche voller Brüche steht die feinsinnige Poetin zeitlebens in Konflikt mit der Konvention, zwischen Gehorsam und Auflehnung. Ihre Beziehung zu dem siebzehn Jahre jüngeren Schriftsteller Levin Schücking gerät bald zu einer funkensprühenden «Liebesfreundschaft». Ihr wacher Geist, ihre lebhafte Fantasie faszinieren auch ihn, es ist ihre Dichtkunst, die Annette Flügel gibt. Und doch kommt es zur Trennung der beiden. Aber Annette zerbricht daran keineswegs, im Gegenteil, sie zieht sich auf ihr Kanapee zurück und schreibt weiter meisterhafte Verse.
Einmal in eine ganz andere Zeit und Welt eintauchen und an einer Fülle von dichterischen und gesellschaftlichen Höhepunkten einer prägenden Epoche teilnehmen, in dieser spannenden historischen Romanbiografie mit Figuren, die heute noch faszinieren.
Wer je über den Bodensee nach Meersburg fuhr und die stolze Burg besuchte, war angetan vom Zimmer der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Man spürte ihren Geist und las wieder ihre Gedichte, die übrigens in der Romanbiografie zitiert werden, sodass man dieser Dichterin ganz nahe ist.
Und man begegnet in dieser anschaulich und flüssig geschriebenen Lebensgeschichte vielen bedeutenden Persönlichkeiten der Epoche, wie dem Tübinger Dichter Ludwig Uhland, der im Oktober 1841 einige Tage auf der Meersburg verbrachte.
Am 24. Mai 1848 verstarb Annette von Droste-Hülshoff auf der Meersburg und wurde am 26. Mai 1948 auf dem Meersburger Friedhof beerdigt.
Maria Regina Kaiser entdeckt die Dichterin als vitale Frau und Kämpferin. Das einfühlsame Porträt einer grossen Poetin, deren Ironie und Humor, deren Leben und ihre Zeilen uns heute noch bewegen. Es geht um Freiheit und Selbstbestimmung, und nicht zuletzt auch um das eigene Stimmrecht, das Frauen in der Schweiz erst vor 50 Jahren gewährt wurde.
Das alte Schloss
Auf der Burg haus‘ ich am Berge
Unter mir der blaue See,
Höre nächtlich Koboldzwerge,
Täglich Adler aus der Höh‘,
Und die grauen Ahnenbilder
Sind mir Stubenkameraden
Wappentruh‘ und Eisenschilder
Sofa mir und Kleiderladen.
Schreit‘ ich über die Terrasse
Wie ein Geist am Runenstein,
Sehe unter mir die blasse
Alte Stadt im Mondenschein,
Und am Walle pfeift es wiedlich,
– Sind es Käuze oder Knaben? –
Ist mir selber oft nicht deutlich,
Ob ich lebend, ob begraben.
Maria Regina Kaiser, Dr. phil., 1952 in Trier geboren, studierte in Frankfurt am Main Alte Geschichte, Archäologie und Hispanistik. Nach ihrer Promotion war sie bis 1986 in der Forschung tätig, von 1987 bis 1991 arbeitete sie als Lektorin in einem Wissenschaftsverlag. Heute ist sie freie Autorin vor allem von historischen Romanen und vielbeachteten Romanbiografien.
Maria Regina Kaiser
Annette von Droste-Hülshoff.
Dichterin zwischen den Feuern
Romanbiografie
Südverlag, Konstanz 2021
336 S., geb. 10 Abb., mit Schutzumschlag,
CHF 33.90. € 22.
ISBN 978-3-87800-144-7