«Reinkarnation mal anders oder Wer hat Angst vor Not Vital?»
Von Simon Baur
Lange wurde er als Geheimtipp gehandelt. Seit seinem Erwerb von Schloss Tarasp im Unterengadin und der kürzlichen Werkschau im Bündner Kunstmuseum, Chur ist damit Schluss. Not Vital gilt neben Alberto Giacometti und Giovanni Segantini als bekanntester Künstler des Engadins und dies zu Recht.
Nicht, dass er unter Fachleuten und Kunstinteressierten unbekannt gewesen oder gar vergessen gegangen wäre, er hat an der Aura, die seine Kunst und Person umgibt, seinen eigenen Anteil, in dem er bisher nur punktuell Einblicke in sein Werk gewährte. Heterogen und disparat ist sein Gesamtwerk, einzelne Arbeiten gar vielschichtig, mehrdeutig und hermetisch, geprägt von einer Person, die oft spontan auf situative Gegebenheiten reagiert und Geschichten, aber auch Emotionen in seine Werke verpackt, die einer individuellen Zeichensprache folgen. Seine unentwegte Rückbesinnung auf kulturelle individuelle Eigenheiten und Prägungen, wie sie sich spätestens mit Harald Szeemanns «documenta 5» durchgesetzt hat und mit dem Begriff der «individuellen Mythologien» bekannt und für diverse Künstler auch stilbildend geworden ist, ist in seinem Werk präsent. Sicher ist Not Vitals Werk nicht einfach zu verstehen. Dies wäre vermutlich auch nicht in seinem Sinn. Es verhält sich oft enigmatisch, geheimnisvoll, oft von einer spröden Eleganz und er biedert sich nicht an. (Abb. 01) Doch wer sich darauf einlässt, seine Zeichen, Formeln und Architekturen wie Spiele zu erklären versucht, erkennt, dass es eine Ähnlichkeit zum Werk von Joseph Beuys aufweist und sich gleichzeitig aus vom Künstler intendierten Inhalten und von den Betrachtern implizierten Interpretationsebenen zusammensetzt. Die Inhalte, über die Not Vitals Werke erzählen, müssen, um verstanden zu werden, zu einer Art sozialen Plastik beziehungsweise zu einem persönlichen Identifikationsobjekt des Betrachters werden. Sich auf seine Werke einlassen, bedeutet also gleichzeitig, dass der Betrachter sich auf sich selbst einlässt, sich mit sich selbst beschäftigt und in diesem subjektiven Zugang einen Mehrwert erkennt.
Nomadisieren
Not Vital wurde am 15. Februar 1948 in Sent, einem Dorf im Engadin, im Kanton Graubünden geboren. Seine Familie wohnt hier seit dem 13. Jahrhundert. Der Vater arbeitete wie die Vorfahren im Holzgeschäft, da dieses aber nicht von allen drei Söhnen weitergeführt werden konnte, entschied sich Not Vital dazu, Kunst zu machen. In Sent wird Vallader gesprochen, ein Idiom der rätoromanischen Sprache, zu der Not Vital ein besonderes Verhältnis hat. Seit Jahren baut er eine bedeutende Bibliothek auf mit Originalausgaben, die in Rätoromanisch gedruckt wurden. Kunst spielte in der Familie eine untergeordnete Rolle, er hatte aber das Glück in seiner Jugend mit dem Kunsthistoriker und einstigen Direktor des Kunstmuseums Bern Max Huggler (1903-1994) befreundet zu sein, der ihm oft seine eigene Kunstsammlung zeigte und ihn für Gegenwartskunst sensibilisierte. Nach Abschluss der Schule und dem Militärdienst, reiste Vital nach Paris, wo er von 1968 bis 1971 eine Kunsthochschule besuchte. Von da an, bereiste er als Nomade die Welt, kehrt jedoch jedes Jahr für einige Monate in sein Heimatdorf zurück. Trotz allen fremden Einflüssen und neuen Impulsen, bleiben Herkunft, landschaftliche Prägung der Bergwelt und die existentielle Verbindung von Mensch und Tier wichtige Bezugspunkte für Not Vitals Kunst. Vielleicht war es das grossstädtische Umfeld von New York, das ihn besonders für die archaischen Dimension jener Landschaft empfindsam machte, in der er aufgewachsen ist. Not Vital entwickelte in New York eine plastische Bildsprache, die ähnlich derjenigen Louise Bourgeois’ stark von archaisch-mystischen Formeln geprägt war und auf einen mythisch-fantastischen Bilderschatz zurückgeführt werden kann. Seine Figurationen sind urtümlich und scheinen schamanischen Ritualen zu entstammen. Es sind einfachste Erinnerungsbilder aus seiner Jugend und Kindheit, die sich nahtlos in die Gegenwart einordnen, aber gleichwohl auf Vitals ureigenste und individuelle Mythologie verweisen, deren Substanz durch die jährliche Rückkehr in seine Heimat neu aufgeladen wird.
«Pole Animal»
«Pole Animal» ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Kombination aus Stab und Tier erinnert an Joseph Beuys’ Performance «I like America and America likes me», die er zusammen mit einem Kojoten im Mai 1974 in der Galerie von René Block in New York realisierte. Interessant ist, wie stark die eigene Herkunft auch konzeptionell in seine Werke einfliesst. So betont Not Vital etwa, dass seine Vorliebe für die Farbe Weiss, die in zahlreichen seiner Werke zu finden ist, letztlich auf die Erfahrung einer Landschaft zurückgeht, die viel Schnee und lange Winter kennt und über die Jahre seine Wahrnehmung von der situativen Positionierung von Objekten im Raum bestimmte. Und an anderer Stelle erwähnt er in Bezug auf «Pole Animal»: «Ein Pfahl hebt einen Gegenstand in eine Höhe, die für mich angenehm ist. Dieser Ansichtswinkel scheint für einen Menschen, der in den Bergen lebt, besser zu sein. Kürzlich ist mir aufgefallen, dass die Leute in Sent ihre Blicke meistens nach oben richten. Dort geht die Sonne auf und wieder unter, dort sind die Gemsen, dort fällt der erste Schnee.» Die Betonung der Vertikalen spielt auch in New Yorks Stadtlandschaft eine Rolle. In allen Medien der Kunst, von der Plastik über die Zeichnung, zur Druckgrafik und neu auch wieder zur Malerei, hinterlässt diese Auseinandersetzung mit dem Archaischen, dem Mythischen, der Natur und der Erinnerung ihre Spuren. Ab Mitte der 1980er-Jahre lässt sich zudem beobachten, dass nicht nur die eigenen Wurzeln sondern auch die Begegnung mit anderen Kulturen in seinem Werk deutliche Spuren hinterlassen. Mittlerweile ist dieses Verschmelzen verschiedener kultureller Elemente zu einem spezifischen Merkmal seiner Kunst geworden. Themen, Formulierungen und handwerkliche Prozesse sind immer von eigenen Begegnungen und Erfahrungen geprägt, wie Vital sie auf seinen Reisen kennenlernt. Dadurch wird nicht nur Beliebigkeit vermieden, durch die Individualität des künstlerischen Ansatzes bleibt jene Grundhaltung erkennbar, die Jean-Christophe Ammann als Diskontinuität bezeichnet hat, und die die Kunst von Not Vital im Inneren trotz räumlicher und zeitlicher Veränderungen zusammenhält.
So markiert die 1985 entstandene Skulptur «Arabia» – zwei grobe, lanzenförmige Stäbe, der eine aus Bronze, der andere aus Marmor – zwar einen Anfang der Begegnung mit anderen Kulturen, doch im Unterschied zu «Pole Animal» oder «Le Sei Sorelle», (Abb. 02) die aus Fundstücken seiner Heimat bestehen, ist diese Skulptur viel stärker durch ihre Zeichenhaftigkeit und Ästhetisierung geprägt. Die Transformation vom regional verankerten Künstler zum internationalen Star könnte auch ihre Kehrseiten haben. Wenn bei Vital solche nicht eintreten, dann hat dies vermutlich mit dem Begriff der heimatlichen Verortung zu tun, die er folgendermassen definiert: «Ich würde schon sagen: im Engadin. Aber auch dort, wo ich im Moment wohne. Das kann auch auf meiner Insel in Chile sein. Oder in Peking, wo ich arbeite. Ich bin da ebenso daheim wie im Engadin. Oder sogar noch mehr.» So glaubt er auch nicht daran, dass sich die Rezeption seines Werkes je nach Land gross verändert, er nimmt sie überall ähnlich wahr. Das Schamanische oder Archetypische in seiner Kunst ist also nicht allein ortsabhängig, es findet erst durch den aktiv tätigen Künstler, also Not Vital, zu seiner jeweiligen Substanz. Unter solchen Prämissen erstaunt es nicht, ist die grösste Furcht Not Vitals «die Schwestern Langsamkeit und Langeweile. Kaum ist ein Projekt vollendet, ruft vereinnahmend und drängend schon das nächste aus der Ferne.»
Urbilder?
Not Vitals intuitives und spontanes Vorgehen bringt es mit sich, dass er viele seiner Kunstwerke soweit wie möglich vor Ort realisiert und dabei auf handelsübliche Materialien, sowie auf tradiertes Handwerk zurückgreift. So hat er Mitte der 1980er-Jahre in New York eine Rindszunge in Bronze giessen lassen und sie zudem als direkte Vorlage einer Aquatinta verwendet. 1990 hat Vital in Kairo Nasen abgeformt und später für seine Skulptur «171 Egyptain Noses» verwendet, 1996 hat er mit zwei Lämmern die Grafiken «Kiss und «Lamb» kreiert und seit 1999 zahlreiche Kuhfladen für «Cow Dung» in Bronze gegossen. In Ägypten hat er sich nicht gescheut, in Schlachthöfen nach Kamelköpfen zu fragen, die er ebenfalls giessen liess und als Bestandteil für verschiedene Plastiken verwendete. So schreibt Stephan Kunz im Katalog des Bünder Kunstmuseums «In «Herd», 1990/2003 heben sie stolz ihren Blick über die Landschaft; im Arsenale in Venedig erinnern sie anlässlich der Biennale 2001 an Handelsketten. Nicht nur die Lagunenstadt Venedig hat eine lange Handelstradition, auch die Wüstenstadt Agadez, in welcher Vital verschiedene Projekt realisiert hat, gilt als Zentrum des Karawanenhandels. Die Silber-Kugeln, in welche Vital Resten einzelner Kamele eingeschlossen hat, zollen Tribut an das Wahrzeichen der Karawane – das Kamel. Zusammen mit «700 Snowballs», 2001, und anderen seriell angelegten Werken eröffnet diese Arbeit ein philosophisches Gedankenspiel über Form und Identität, Wiederholung und Variation.»
SCARCH
Die Leidenschaft fürs Erbauen, war bei Not Vital bereits in seiner Kindheit präsent. Im grossen Lawinenwinter 1951 baute er einen langen Tunnel vor dem Haus seiner Eltern, in dem er den ganzen Tag verbrachte. Prägend wirkten das diffuse Licht und der Geruch von Schnee. Später baute er mit Freunden Hütten in den umliegenden Wäldern, «Chamonna spannada» ein igluartiger Bretterstapel auf einer Wiese im Park des Künstlers in Sent, knüpft an solche Kindheitserinnerungen an. Ein Habitat zu bauen, das zu ihm passe, ist für Vital von zentraler Bedeutung. Schon bei seinem ersten Aufenthalt in Agadez im Jahr 2001 hat Not Vital ein Stück Land gekauft und in der Folge darauf mehrere Gebäude und eine Schule gebaut. Der Schule wohnt ein sozialer Impuls inne, es sei die beste Skulptur, die er in seinem Leben machen konnte, hat er in einem Vortrag betont. Die Formsprache von Vitals Bauten orientiert sich an traditionellen Bauformen und sie sind jeweils aus vor Ort vorhandenen Materialien errichtet. In vielen Fällen ist das Primäre nicht das Wohnen, sie dienen einem einzigen Zweck: in die Schule zu gehen, den Sandsturm zu überstehen, den Sternenhimmel oder den Sonnenuntergang (Abb. 03) zu betrachten. Mit dem letztgenannten Gebäude, hat Not Vital nicht nur den ersten Ableger eines weltumspannenden Projekts erbaut, sondern auch SCARCH (SCulpture-ARCHitecture) geboren. «Die Bauten, die Vital unter diesem von ihm geprägten Terminus subsumiert, folgen einem formalistischen Ansatz und bestehen primär zur Erfüllung eines einzelnen, zumeist poetischen und transzendentalen Zwecks, wie etwa der Kontemplation des Sonnenuntergangs. Nicht die Wohnlichkeit, (…) steht im Zentrum, sondern vielmehr die Weise, wie von einer Struktur ausgehend auf die Welt hinausgeblickt werden kann, ist von Relevanz – die monumentalen Skulpturen Vitals sind konzipiert als Fenster zur Welt.» (Giorgia von Albertini im Katalog des Bündner Kunstmuseums). Solche provisorischen Habitate, passen zur nomadischen Lebensform, die Not Vital seit Jahrzehnten lebt. Während seine Skulpturen und Objekte mobil sind und überall hin transportiert werden können, entwickelt er mit seinen Architekturen eine Form, die darauf angelegt ist, die Vergänglichkeit und die Zeit zu beobachten. In Patagonien hat er im Lago General Carrera einen 55 Meter langen Gang in eine Marmor-Insel geschlagen, der in einem grossen Fenster gegen Westen endet. Aus den rudimentären und der kindlichen Fantasie entsprungenen Behausungen seiner Jugend – wurden verspielte Architekturfantasien wie «Josüjo», das tonnenschwere Haus in Form eines Tortenstücks, das sich in der Erde versenken lässt und sich in seinem «Parkin Not dal Mot» befindet – und monumentale Gebäude auf unterschiedlichen Kontinenten. Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass nicht nur die Kunst, sondern eben auch die Sculpture-Architecture (SCARCH) auf ähnlichen Voraussetzungen beruhen und denselben Interessen entspringen. Immer wieder greift Vital auf Ursprüngliches zurück. Seinen Objekten und Gebäuden, egal wo sie stehen, wohnt eine Art Esperanto inne, das es ermöglicht die Bedeutungsebenen zu entschlüsseln, da diese letztlich ähnlichen Grundimpulsen entspringen. Es ist das Bedürfnis und das Streben nach jenen Zeichen, die den Sinn unserer Existenz erfassen und über Raum und Zeit wirken, auch wenn sie individuellen Kulturkreisen entstammen.
Künstlerbild
Ein wichtiger Bestandteil von Not Vitals Künstler-Ich ist das Bild, das wir uns von ihm machen und das er teilweise auch selbst befördert, um sich dadurch mit einem auratischen Selbstverständnis zu umgeben. Um die Ausmasse dieses Textes nicht zu strapazieren, sei soviel vorweg genommen: Not Vital arbeitet subjektiv und künstlerisch an einer besonderen Art von Gesamtkunstwerk. Einige Hinweise hat er selbst gegeben: «Gäbe es eine Reinkarnation und man könnte auswählen, dann würde ich am liebsten Nijinsky sein.» Der Tänzer und Choreograf Vaclav Nijinsky hat das klassische Ballett revolutioniert, in seiner Rolle als Faun und damit als instinktiv handelndes Wesen hat er das Publikum gleichzeitig verführt und provoziert. Not Vital versucht etwas Ähnliches.
(Siehe auch den Artikel von Simon Baur «Who’s afraid of Not Vital» zum Künstlerbild Not Vitals im unten erwähnten Katalog zur Ausstellung im Bündner Kunstmuseum, Chur wie auch weitere interessante Beiträge zu Not Vital als Mensch, Künstler und Nomade).
Not Vital
Ausstellung in der Galerie Kornfeld, Bern
www.kornfeld.ch
13. Januar bis 28. Februar 2018
Not Vital – univers privat.
Herausgegeben von Stephan Kunz und Lynn Kost. Mit Beiträgen von Giorgia von Albertini, Simon Baur, Lynn Kost, Stephan Kunz und Alma Zevi, Verlag Scheidegger & Spiess, 2017, gebunden, 256 Seiten, 34 farbige und 128 sw Abbildungen, 22.5 x 30.5 cm, ISBN 978-3-85881-568-2, CHF 49.-.