«Olga Tokarczuk: Spiel auf vielen Trommeln»
Von Ingrid Isermann
Der Titel der Erzählungen der Nobelpreisträgerin steht symptomatisch für ihr ganzes Schaffen. Selten gelingt es einer Autorin, einem Autor, schon nach wenigen Seiten die Leserin mit ihrer Intensität zu fesseln, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit zielt. Ihre Alltagsgeschichten sind Parabeln zu den grossen Geheimnissen des Seins und Daseins.
Als die polnische, 1962 geborene Schriftstellerin Olga Tokarczuk 2019 überraschend zusammen mit Peter Handke (*1942) den Nobelpreis für Literatur erhielt, war sie hierzulande wenig bekannt. Auf sie hätte kaum jemand gesetzt. Umso verdienstvoller ist diese Auszeichnung für die universell begabte Autorin, die Menschen und ihre Selbstverständlichkeiten infrage stellt und die Bedingungen von Existenz und Individualität beleuchtet. Als Einstieg zu Olga Tokarczuks umfangreichem Werk stellen wir Ihnen die Autorin und ihre Erzählungen «Spiel auf vielen Trommeln vor«. Am Mittwoch, 18. März, 20 Uhr, ist die Nobelpreisträgerin auf Einladung des Literaturhauses Zürich im Vortragssaal des Kunsthauses Zürich zu Gast.
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für «Die Jakobsbücher», in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 zum zweiten Mal mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Schweizer Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie den Man Booker International Prize für »Unrast« (im Frühjahr 2019 im Kampa Verlag erschienen), für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman »Der Gesang der Fledermäuse« (im Kampa Verlag in Vorbereitung, wie alle ihre älteren Bücher) stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet: Am 10. Oktober 2019 gab die Schwedische Akademie in Stockholm die Verleihung des Nobelpreises für Literatur für das Jahr 2018 an sie bekannt, «für ihre narrative Vorstellungskraft, die, in Verbindung mit enzyklopädischer Leidenschaft, für das Überschreiten von Grenzen als eine neue Form von Leben steht» («for a narrative imagination that with encyclopedic passion represents the crossing of boundaries as a form of life»).
Die Übersetzungsarbeit an den «Jakobsbüchern» dokumentieren Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein in der folgenden Ausgabe der TOLEDO-Journale:
https://www.toledo-programm.de/arbeitsjournale/772/journal-zur-ubersetzung-des-romans-ksiegi-jakubowe-von-olga-tokarczuk-2014
Den einen galt er als Weiser und Messias, den anderen als Scharlatan und Ketzer. Eine der bedeutendsten Figuren des 18. Jahrhunderts ist er allemal: Jakob Frank, 1726 im polnischen Korolówka geboren, 1791 in Offenbach am Main gestorben. Als Anführer einer mystischen Bewegung, der Frankisten, war Jakob fest entschlossen, sein Volk, die Juden Osteuropas, endlich für die Moderne zu öffnen; zeit seines Lebens setzte er sich für ihre Rechte ein, für Freiheit, Gleichheit, Emanzipation. Tausende Anhänger scharte Jakob um sich, tausende Feinde machte er sich. Und sie alle, Bewunderer wie Gegner, erzählen hier die unglaubliche Lebensgeschichte dieses Grenzgängers, den es weder bei einer Religion noch je lange an einem Ort hielt. Es entsteht das schillernde Porträt einer kontroversen historischen Figur und das Panorama einer krisenhaften Welt an der Schwelle zur Moderne.
Den Lesern erschliesst sich auch ohne Kenntnis der Judaistik ein an Details der polnischen und der polnisch-jüdischen Geschichte reiches literarisches Gemälde. Die Gliederung in Bücher, Teile und Kapitel unterstützt Tokarczuks magischen Realismus ebenso wie die kultur-, politik- und religionsgeschichtlichen Informationen im Text, der Bezüge zur Gegenwart herstellt.
Ihre Eltern stammten aus Ostpolen, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen mussten, weil das die Sowjetunion in ihr Staatsgebiet einordnete. Ihre Kindheit verbrachte Olga Tokarczuk in Klenica (Woiwodschaft Lebus) bei Zielona Góra, wo ihre Eltern als Lehrer beschäftigt waren. Später zog die Familie ins oberschlesische Kietrz (Woiwodschaft Opole). Dort besuchte Olga das Lyceum, das sie 1980 mit dem Abitur abschloss. Anschliessend studierte sie bis 1985 Psychologie an der Universität Warschau. Neben dem Studium arbeitete sie in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche. Nach dem Abschluss ihres Studiums zog sie zunächst nach Breslau und später nach Wałbrzych (Woiwodschaft Dolnośląskie, Niederschlesien), wo sie eine Tätigkeit als Therapeutin begann. Sie sieht sich selbst in der geistigen Tradition von Carl Gustav Jung, dessen Theorien sie auch als eine Inspiration für ihre literarischen Arbeiten anführt. Seit 1998 lebt sie in dem kleinen Dorf Krajanów bei Nowa Ruda. Von hier aus führte sie auch mehrere Jahre ihren eigenen Kleinverlag «Ruta», bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete.Im Oktober 2019 gründete sie in Breslau die «Olga-Tokarczuk-Stiftung».
Text folgt