«Patricia Highsmith: Drink für Drink im Schneckengang ins Verderben»
Von Ingrid Schindler
100 Jahre Patricia Highsmith: «Deep Water», einer der besten Psychothriller der damals 36-jährigen Meisterin des Suspense, kommt im November bei Diogenes neu heraus und zeitgleich neuverfilmt in die Kinos. Ein grosses Lesevergnügen mit einem «äusserst unbequemen Buch» (Joan Schenkar) zum Auftakt des Highsmith-Jubiläums.
Gegensätze ziehen sich an
«Vic tanzte nicht, … weil seine Frau gern tanzte». Schon die ersten Sätze zielen direkt in das Beziehungsdrama, das die Protagonisten unabwendbar in einer Abwärtsspirale ins Verderben zieht. Die Van Allens sind gegensätzlich bis in die Haarspitzen. Der tolerante 36-jährige Feingeist, ein Mann durchschnittlicher Grösse und Aussehens mit «unschuldigen, blauen Augen – gross, intelligent und abgeklärt –, die keinerlei Hinweis darauf gaben, was er dachte oder empfand», ist stolz darauf, anders als «alle» zu sein. Er ist kultiviert, beliebt, ordentlich, nüchtern, kontrolliert und undurchschaubar. Finanziell gut situiert, betreibt er einen kleinen feinen Verlag für besondere, alte und ausgefallene Bücher. In seiner Freizeit observiert er Bettwanzen und züchtet Kräuter und Schnecken, wie seine Schöpferin Patricia Highsmith. Die attraktive, jüngere Melinda verkörpert das Gegenteil: Sie ist chaotisch, unordentlich, oberflächlich, desinteressiert, rücksichtslos, sie trinkt und taumelt von einer Affäre zur nächsten, sie ist exzessive, animalische Sexualität pur. Im gemeinsamen Freundeskreis wird sie nur Vic zuliebe geduldet.
Highsmith-Country: Orte jenseits der Moral
Um die gemeinsame Tochter Trixie kümmert sich Vic. Melinda zeigt keinerlei Interesse für ihre Tochter. Sie ist mit ihrem jeweiligen Liebhaber beschäftigt, den sie, triebgesteuert wie ein wildes Tier, an Land zieht und jeweils nach Hause mitbringt. Sie demütigt und brüskiert Vic ungeniert vor aller Augen. Für Vic bedeutet Mel «eine Herausforderung, an der er grossen Gefallen» findet, es fasziniert ihn, das «Wildpferd» zu zähmen. Doch das wilde Tier lässt sich nicht zähmen, es fordert ihre Lover auf, «den alten Bären zu hetzen»; sie will ihren Mann zerstören und lässt sich doch von ihm mit Eierspeisen füttern. Melindas Halskette erinnert Vic an ein «Raubtiergebiss», mit «Augen, so kalt und starr wie die einer Kröte».
Vic stört sich nicht an den Affären an sich, sondern an der «Dreistigkeit, Durchschnittlichkeit, Knickrigkeit, Feigheit und Stupidität» der «rückgratlosen» Liebhaber und seiner öffentlichen Demütigung. Seine Strategie: Je unverfrorener Melinda zu Werke geht, umso fürsorglicher, höflicher und aufmerksamer begegnet er ihr. Die Liebhaber schlägt er auf höchst kreative Art aus dem Feld. Gleich zu Beginn heftet er sich einen Mord ans Revers, den ein anderer begangen hat. Durch den vorgeblichen Mord verwandelt er sich vom Opfer zum Täter und nimmt Melinda das Heft aus der Hand. «Seine schwarzblühende Phantasie durchdringt das Buch und befördert ihn an einen Ort jenseits von Moral», schreibt Highsmith-Biografin Joan Schenkar. Täter – Opfer, Schuld – Unschuld, alles verdreht sich, niemand kennt sich mehr aus. Die Gesellschaft, Freunde, Detektive, Liebhaber, alle werden verunsichert und in die Irre geführt. Ein immer rasenderes verbales Ping-Pong-Spiel, bei dem sich Gewinner und Verlierer in einem unentflechtbaren Gewirr verknoten. Pool-Parties, Picknicks und Kostümbälle entwickeln sich zu tödlichen Locations. Drink für Drink – Highballs und andere Cocktails der Fifties fliessen in Strömen –, zieht sich die Schlinge weiter zu, bis der Druck im Hals bzw. im Dampfkochtopf der Gefühle zu gross wird und entweichen muss.
Gut und Böse existieren nicht
Highsmith erzählt das Beziehungsdrama aus Vics Perspektive und macht damit einen Psychopathen zum Sympathieträger jenseits von Moral. Der Leser bezieht von Anfang an Stellung für Vic. Er kann sich dem drohenden Unheil nicht entziehen und fühlt, ahnt, weiss, was passieren wird, weil es passieren muss. Man sehnt beim Lesen das Böse förmlich herbei. Der Verbrecher wird zum Helden, dem man alles Gute wünscht. Nicht das Whodunit, sondern das Howdunit treibt die Spannung dieses Psychothrillers. Wenn die Dämme brechen, spürt nicht nur die Hauptfigur Erleichterung und Heiterkeit, der Leser leidet und freut sich mit – und wird mitschuldig. Am Ende wünscht man dem Verbrecher nur, er möge davonkommen – eine brillante Charakterstudie eines Psychopathen.
«Gut und Böse existieren nicht, sie sind lediglich ein Vorurteil», schreibt Patricia Highsmith nach Abschluss des ersten Ripley-Romans in ihr Cahier und beginnt mit «Deep Water» die Arbeit an ihrem fünften Roman. Mit der Figur des Vic Van Allen, erklärte sie, wolle sie das «Böse» erforschen, das «seltsame Ungeziefer», das aus «unnatürlicher (sexueller) Abstinenz» entsteht. Mit dem Psychopathen Vic Van Allen habe sie, so ihre Biografin Joan Schenkar, einen Verbrecherhelden erschaffen, «der Geschlechterkategorien unmittelbar anficht: Er lehnt Sex ab, kocht und putzt das Haus mit vorgebundener Schürze, kümmert sich um sein Kind … (Seine) sexuellen Vorlieben sind ebenfalls eher ungewöhnlich: Am meisten scheint es ihn zu erregen, seine Schnecken bei ihrer langsamen Kopulation zu beobachten und wenn die Bettwanzen, die er als Haustiere hält, Blut aus seinem Arm saugen». (Schenkar, «Die talentierte Miss Highsmith», S. 561. Siehe auch Archiv Literatur & Kunst, Nr. 84, 04/2015).
Eine Liebe zu Schnecken
Highsmith selbst teilt mit Vic etliche Eigenschaften, nicht nur «Bildung, Arbeitsethos, Kultiviertheit, Tierliebe und gediegenen Musikgeschmack» (Paul Ingenday, Nachwort zur Diogenes-Ausgabe von 2005), auch die Liebe zu Schnecken ist ihr eigen. 1946 entdeckt sie auf einem New Yorker Fischmarkt zwei sich küssende Schnecken und kauft sie, um sie vor dem Kochtopf zu retten – der Beginn einer lebenslangen Faszination. «Sie findet es (wie Vic) entspannend, Schnecken bei der Paarung zuzusehen» (Schenkar, S. 897). Erst beim Liebesakt entscheidet sich, welches der gleichgeschlechtlichen Tiere die weibliche bzw. die männliche Rolle übernimmt. Ihre Lieblingsschnecken werden Highsmith’s ständige Begleiter, sie heissen wie Vics Favoriten Edgar und Hortense. Sie gehen, in Frischkäseschachteln verpackt, mit der Autorin auf Reisen; die verköstigt sie in Restaurants mit grünem Salat und spielt mit ihnen, wenn sie sich auf Parties langweilt.
Dem Leser stockt der Atem, als Melinda und ihr letzter Liebhaber Vics Schnecken als Festessen servieren wollen. «Sie müssten wunderbar schmecken, so gut wie sie gefüttert sind. Steak, Karotten und Kopfsalat. Geh hinaus und hol welche!», fordert Melinda ihren Lover auf, worauf der sonst so kontrollierte Vic «zum ersten Mal seit Monaten fünf starke Drinks hintereinander» nimmt. – Ein grosses Lesevergnügen mit einem, wie Schenkar findet, «äusserst unbequemen Buch».
Crime begins
Auch Melindas Wesen ist Patrica Highsmith vertraut. Die lesbische Autorin führt selbst ein exzentrisches, unstetes Leben mit unzähligen exzessiven Liebschaften. Ihre Mutter Mary lässt sich neun Tage nach Patricias Geburt (19. Januar 1921) in Fort Worth, Texas, von ihrem Mann scheiden. Sie wächst die ersten sechs Jahre bei ihrer Grossmutter auf, bis sie mit der Mutter und dem verhassten Stiefvater nach New York zieht. Dort beschäftigt sich die junge Pat, sich selbst überlassen, die Eltern arbeiten beide als Graphiker, früh mit Karl Menningers psychiatrischer Studie «The Human Mind», Sherlock-Holmes-Geschichten und «The Human Anatomie». Anfang der dreissiger Jahre lebt die Familie unweit von Wards Island, wo sich die damals grösste psychiatrische Klinik der Welt befindet, und Rikers Island, dem grössten Gefängnis des New York State, bevor das Kind wieder ein Jahr bei der Grossmutter in Texas abgeladen wird. Erst mit 12 Jahren lernt Patricia den leiblichen Vater kennen. Zurück in New York, Manhattan, verfasst die 14-Jährige ihre erste Geschichte. Die Zweite trägt den Titel «Crime begins».
Von der Mutter notorisch im Stich gelassen, zurückgewiesen und enttäuscht, startet Highsmith nach dem College zunächst als Comictexterin ihr ausschweifendes, exzentrisches Leben: viel Alkohol und Zigaretten, häufige Reisen, ständig wechselnde Wohnsitze und zahllose, hochdramatische Affären mit gutsituierten, verheirateten Frauen oder beiden Partnerinnen eines schillernden lesbischen Paars. Ihr Erstling «Zwei Fremde im Zug» (1950) wird zum grossen Erfolg, Alfred Hitchcock kauft die Filmrechte. Mit «Der talentierte Mr. Ripley» kommt 1955 der Welterfolg. 1957 erscheint mit «Deep Water» der fünfte Thriller. 1963 lässt sie sich dauerhaft in Europa nieder, die letzten 14 Jahre lebt sie bis zu ihrem Tod (4. Februar 1995) in Tegna im Tessin.
Auftakt zum 100. Geburtstag
Die Meisterin des Suspense schuf 22 Psychothriller, fünf davon mit Tom Ripley, sowie zahlreiche Kurzgeschichten. Sie hinterliess 250 unveröffentlichte Werke, rund 8000 Seiten Notizen und Tagebucheinträge in ihren «Cahiers» und 50’000 Briefe. Der Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Viele ihrer Werke wurden verfilmt. 1991 wurde sie für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, der dann an Nadine Gordimer ging.
Seit 1980 vertreibt der Zürcher Diogenes Verlag weltweit ihr Werk, seit 1993 besitzt Diogenes die Weltrechte am Gesamtwerk. Zu Highsmith’s 100. Geburtstag plant Verleger Philipp Keel, «ein Feuerwerk mit Funden aus ihren Nachlässen» zu zünden, mit «unpublizierten Stories und nächstes Jahr im Herbst mit ihren Tagebüchern, die weltweit mit Spannung erwartet werden». Den Auftakt bilden Ende Oktober 2020 «Ladies», fünf bislang unveröffentlichte Kurzgeschichten. Im November und Dezember 2020 folgen Neueditionen von sechs «Frauen»-Titeln: «Tiefe Wasser», «Der Schrei der Eule», «Ediths Tagebuch», «Der süsse Wahn», «Salz und sein Preis» und «Elsies Lebenslust». Dazu kommt «Tiefe Wasser» mit Ben Affleck und Ana de Armas in den Hauptrollen in einer Neuverfilmung von Adrian Lyne («Basic Instinct») ab 19.11.2020 in die Kinos. Auch «Stille Wasser», die französische Verfilmung von 1981 mit Isabelle Huppert und Jean-Louis Trintignant, ist sehenswert. Zur Einstimmung auf die zu erwartenden Highsmith-Festspiele ab diesem Spätherbst, empfiehlt sich Fans die Lektüre der 1000-seitigen Biografie «Die talentierte Miss Highsmith» von Joan Schenkar (Diogenes 2015) und des schmalen Bands «Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt», den Patricia Highsmith 1966 veröffentlicht hat.
Patricia Highsmith
Tiefe Wasser
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Nachwort von Gillian Flynn
Diogenes, Zürich 2020
Taschenbuch
416 S.,
CHF 17. € (D) 13.00 / € (A) 13.40
IBAN 978-3-257-24575-2