FRONTPAGE

«Paul Celan, der neu zu entdeckende Klassiker»

Von Ingrid Isermann

 

Paul Celans wortmächtige Sprachschöpfungen sind von einzigartiger Diktion, seine Gedichte Metaphern, die immer wieder zu entschlüsseln sind. Celans Dichtung ist in der Begegnung mit dem Faszinosum des Bösen erneut von hoher Relevanz. In der neu ausgewählten Gedichtsammlung, herausgegeben von Aris Fioretos, mit Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange, findet sich auch das berühmte und berührende Gedicht „Zürich, Zum Storchen“, das der Dichter der späteren Nobelpreisträgerin Nelly Sachs widmete.

 

Celans Werk heute zu lesen – beispielsweise rückwärts, von den letzten Gedichten zu den ersten – bedeutet nicht, die Uhr zurückzudrehen auf der Suche nach dem Ursprung seiner Poesie, so der Herausgeber Aris Fioretos, sondern vielmehr die akute Bewegung aufzuspüren, die eine oft zitierte Formulierung aus Celans Büchnerpreis-Rede ‚Der Meridian’ mit den Worten charakterisiert:
«Das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht- mehr in sein Immer-noch zurück».
Paul Celans (1920-1970) Dichtung gehört in der Literatur zu jenen Werken, die sich einem unmittelbaren Verständnis nicht gleich erschliessen. Die Gedichte sind komplex geschichtet mit Codes seiner biographischen Herkunft, als Kind während des Holocaust, als Exilierter in Paris, als Übersetzer aus mehreren Sprachen, als Liebender, der Jerusalemer Lichtkaskaden und der Frau, der er dort begegnete. Mit Ingeborg Bachmann verband ihn neben der Dichtung eine kurzzeitige Liebesbeziehung. In ihrem intensiven Briefwechsel tauschten und widmeten sie sich Gedichte, die voneinander inspiriert waren, auf ihre je eigene Art, wie Celans Gedichtband ‚Niemandsrose’ oder ‚Im Gewitter der Rosen’ der Bachmann.
Einige von Celans berühmtesten Gedichten haben ihren Ursprung in der Welt Rimbauds, des russischen orphischen Futurismus und der surrealistischen Magie. Seine konzentrischen Gedichte erinnern zuweilen an strenge Haikus, eine Lautmalerei der Lesart talmudischer wie auch kabbalistischer Schriftmethodik.
Bei Celan haben selbst einzelne Buchstaben einen aufgeladenen Bedeutungshorizont, eine implosive Spannung, die sich beim Lesen und Wiederlesen der Gedichte neu entlädt.
Die Mehrsprachigkeit in seinen Ausdrucksweisen, – hebräische, jiddische, russische, französische und italienische Wörter einzuflechten -, tauchen die Poeme in ein vielfarbiges Licht und klopfen einen akustischen Echoraum ab. Psalmen, die Dichtung Ossip Mandelstams, Shakespearesche Wendungen, bilden unter anderem das Rohmaterial, welches in die Textstruktur der Gedichte Celans eingewoben ist.
Mit der Dichterin und späteren Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (Berlin 1891- Stockholm 1970), einer Leidens-gefährtin, traf sich Celan im Mai 1960 in Zürich, als ihr der Droste-Preis überreicht wurde, ihr widmete er das Gedicht «Zürich, Zum Storchen».

 

ZÜRICH, ZUM STORCHEN

Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.

Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
liess das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:

Wir
wissen ja nicht, weisst du
wir
wissen ja nicht,
was
gilt.

 

Celans Versuch, sich schreibend mit dem auseinanderzusetzen, was im Namen des ‚Reichs’ geschehen war, das zwölf Jahre währte, die sich wie tausend anfühlten, «war der Versuch, Richtung zu gewinnen». Erst nachdem er die todbringende Epoche des national- sozialistischen Terrors durchlaufen hatte, konnte die Sprache – «angereichert» – auch als Gedicht neu zutage treten wie auch eindrücklich im Gedicht «Todesfuge».
Die Zeit bestand aus Verlusten, dank der Temporalität der Dichtung konnte diese jedoch paradoxerweise einen Ort bieten, an dem das Endliche nie aufzuhören aufgab, so der Herausgeber Aris Fioretos.
Sich in dieser neuen, bitter konzentrierten Sprache zu orientieren, in und mit ihr zu schreiben, um dadurch eine Richtung zu finden, die nicht nur das Jetzt im Verhältnis zur Vergangenheit definierte, sondern auch in die Zukunft wies, setzte allerdings voraus, dass der Dichter seine Position reflektierte. Die eigene Rolle in Frage zu stellen, wurde zu einem notwendigen Bestandteil des Schreibens:

 

«Das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiss, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurch-zugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg».

 

Für Celan hiess mit der Zeit zu schreiben, in und durch, freilich aber auch gegen sie zu schreiben, kurzum: querdurch. Diese doppelte Handlung prägt seine Poetik. Und die oft zitierten letzten Zeilen von „Zürich, Zum Storchen“ in ‚Die Niemands-rose’ bestätigen ein ähnlich paradoxes Wissen: „Wir / wissen ja nicht, weisst du / wir / wissen ja nicht, / was / gilt.
In Zeiten des heutigen weltweit Angst und Schrecken ver-breitenden Terrorismus und der Auseinandersetzung mit dem Faszinosum des Bösen, ist Celans Dichtung erneut von hoher Aktualität und Relevanz mit dem Tod Gewehr bei Fuss.

 

KLEINSTSEITE

Ich bin der Perlustrierte
und auch Illuminierte,
das Zündholzschachtelg’sicht.
Der heilige Medardus
behandelt meinen Plattfuss,
ich klage nicht

 

WIRKLICH

Die Kleinhermetiker kuschen,
die Grosshermetiker knurren,

du einer
kommst hier
vorüber,

du einer
kommst hier
voran.

 

Paul Celan wurde am 23. November 1920 als Paul Antschel in Czernowitz in der Bukowina geboren. Die rumänische Form des Familiennamens Ancel stellte Celan nach dem Krieg um, rückwärts gelesen bildeten sie das Poetonym, in dessen Namen er Lyrik nach Auschwitz schreiben sollte. Nachdem Celan Wien verlassen hatte, wohin er vor dem Holocaust aus seinem Heimatland Rumänien geflohen war und wo er 1948 seine erste Gedichtsammlung ‚Der Sand aus den Urnen’ veröffentlichte, lebte er seit 1948 in Paris. Er fand an der École Normale Supérieure eine Anstellung als Lektor für Deutsch in Paris, das zu seiner letzten Station werden sollte. Am 26. April 1970 ging er in die Seine. Nach seinem selbstgewählten Tod wurde sein Werk zum meistkommentierten der deutschen Nachkriegs-literatur, mit Jahrbüchern, Biographien, Konkordanzen oder Bibliographien. Die Briefwechsel mit Verlegern, Kritikern und Kollegen wie Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Rudolf Hirsch, Nelly Sachs, Peter Szondi sowie anderen engen Vertrauten sind ausführlich dokumentiert. Vierzig Jahre nach Celans Tod hat der Suhrkamp Verlag das reiche Gedichtmaterial neu gesichtet und zusammengestellt.

 

 

Paul Celan
Gedichte
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Aris Fioretos, aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange.
Suhrkamp Verlag Berlin 2011. 260 S., geb., ISBN 9783518-22461-8. CHF 28.90. 18.90 Euro.

Der Herausgeber Aris Fioretos, geboren 1960 in Göteborg, lebt als freier Schriftsteller in Stockholm und Berlin. Zuletzt erschienen in deutscher Übersetzung sein Roman Der letzte Grieche (2010). Er ist Hauptherausgeber der kommentierten Ausgabe der Werke von Nelly Sachs.

In der Bibliothek Suhrkamp liegen vor: Gedichte I/II (BS 412 und 413), Gedichte 1938-1944 (Band 933) und zwei Bände mit Gedichten von André Du Bouchet und von Giuseppe Ungaretti in Celans Übersetzungen.
Ingeborg Bachmann, Paul Celan: Herzzeit, Briefwechsel 1948-1967, Suhrkamp Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-42033-1.

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