«Per Kirkeby: Die Wirklichkeit ist auch alle Fehler»
Von Andreas Kohm
Da steht er. Lächelt. Schemenhaft, wie in Nebel gehüllt, neben sich andere Gestalten, einen Berg aus Gepäckstücken, dahinter nur zu ahnen das Meer, eine Bucht, Berge, Packeis, ein Schiff, tiefe Wolken. Fotografiert in Schwarzweiss.
So nähert sich der Blick dem in Pergamin eingeschlagenen, opulenten Buch des dänischen Künstlers Per Kirkeby (1938-2018), seinen «Mitteilungen aus einem halben Jahrhundert», das mit erzählerisch zurückhaltender Offenheit versucht, die Geburt des Künstlers aus dem Geiste der Geologie nachzuzeichnen und ihre Auswirkungen zu bedenken.
«Dann kam Evighedsfjorden, der Ewigkeitsfjord. Dies war die vielleicht wichtigste Reise meines noch jungen Lebens (…) der Ewigkeitsfjord wurde zu einem Wendepunkt meiner Jugend. Meiner Bildungsjahre. (…) Ich zeichnete. Auf dem Boden einer Schublade habe ich meine Zeichnungen aus diesem Sommer wiedergefunden. Ich habe damals richtig viel gezeichnet. (…) Ich hatte vergessen, wieviel es war, und mit welch großem Ernst, den Blick gleichsam auf die Kunst gerichtet. Es sind nämlich feste, bildmäßig folgernde Striche. Nicht der suchende, aufgelöste Bleistiftstrich, dessen ich mich Jahre später bediente. Worin sich die Beobachtung mit all der Unsicherheit und den Zweifeln über die Beschaffenheit der Welt niederschlug. Der unsichere Status des Fjelds zwischen Schöpfung und Abbruch. Nichts war fest, nichts hatte Ewigkeitsform. Die bescheidene Schneewächte konnte sich zu einem allesfressenden Gletscher auswachsen. Der kleine Bach trug den größten Fjeld in der unmeßbaren Zeit ab, die zur Verfügung steht. Diese Weite und Erkenntnis steckte ab jetzt in der Behutsamkeit meiner Finger. Und der grundlegende Zweifel bei der intensiven Beobachtung: Wo hörte das eine auf, und wo begann das andere? Wo war die Kontur, wo die Linie? Gab es eine unklare Grauzone zwischen dem Festen und dem Luftigen? Wurde die Kontur unklar, weil die Moleküle des scheinbar Festen vom umgebenden Wetter verdünnt wurden? Mit einer solch zweifelnden Erkenntnis fällt es schwer, feste, akkurate Zeichnungen anzufertigen. Doch so war es 1960 noch nicht. Der junge Mann war unschuldig».
Eine Entdeckungsreise ins Persönliche
Und ins arktisch Landschaftliche, dorthin, wo in einer Engführung anekdotengesättigte Erinnerungsschichten und geologische Formationen sich berühren, durchdringen, ineinander übergehen, wo die Lehre von der Erde sich mit Gesteins- und Bodenmorphologie, Gletschern und Gewässern, dem menschlichen Lebensweg einzeichnet und ihn begründet mit Erlebnissen, Erfahrungen und Bildern.
«Ich wußte selbst, daß dies eine ganz entscheidende Zeit in meinem Leben gewesen war. Es waren einige ‚formative‘ Monate. Ich wußte, ich würde nach Hause zurückkehren, diesmal ohne Geprahle, trotz Eisbären und all dem, aber in mir drin mit einem anderen Licht. Da waren ein paar entscheidende Bilder eingebrannt. Nicht unbedingt die konkreten Zeichnungen und Radierungen, die ich mit nach Hause brachte. Aber etwas ganz Unerklärliches an Räumen, Farben, Licht und Struktur. Hier muß der Text abdanken,und die Bilder übernehmen» (1960).
Die «Eisbärangst», «das weiße angsterfüllte Nichts» oder das spartanische Zusammenleben mit Anderen an diesem kargen, oft lebensfeindlichen Ort. All das wird Kirkebys «Selbstbewußtsein» – auch und gerade als Künstler – fundamental prägen und immer wieder in der ästhetischen, letztlich erkenntnistheoretischen Frage kulminieren: «Aber sehen wir, was wir sehen?».
In Grönland. Mitteilungen aus einem halben Jahrhundert
An insgesamt 12 Grönland-Expeditionen nimmt Per Kirkeby in den Jahren 1958-2011 teil und neben seinen Tagebuchaufzeichnungen und rückblickenden Reflexionen sind es zahlreiche großformatige Fotografien und auch 11 Radierungen, die auf ihre je eigene und eigenwillige Weise von dieser Suche nach dem «Kern der Dinge» berichten. Als Geologiestudent in der vermessenden Feldforschung zu anfangs, später auch als künstlerischer Begleiter sieht er sich in einer langen Polarforschertradition und ihren Versuchen, die sichtbare «Beschaffenheit der Welt» zu übersetzen, sei es in wissenschaftliche Theorien oder zeichnerische Dokumentation. Doch der Zweifel bleibt ihm und wird zur künstlerischen Antriebskraft: «Aber das Grundlegende ist die simple Beobachtung in der Natur», das intuitive Erfassen der formenden, aber zumeist unsichtbaren, im Laufe der Zeit «verborgenen Kräfte» – hier erweist sich eine romantische, zutiefst ethische Dimension, wenn skrupulös das Verhältnis des Zeichners zur Wirklichkeit in seiner Relativität bedacht wird. Wo Kirkeby hofft, «in einen neuen malerischen Raum vorzustoßen», träumt er noch einmal von einem fast mystischen «Schauen: „Ich glaube an die Beobachtung als Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist auch alle Fehler. Die Synthese entsteht aus Reisen und Bewegung und wechselndem Wind und Wetter». Ganz sicher wird ihm ein Leben lang Grönland nicht aus dem Kopf gegangen sein, mit dieser landschaftliche Kraft und diesen «Bedingungen in einen neuen malerischen Raum vorzustoßen».
Aus dem Tagebuch von Per Kirkeby
«Als ich erwachte und an Deck ging, war die Liverpool-Küste eine zierliche Schrift in der Ferne. Ich begann in meine Zinkplatten zu ritzen, als schriebe ich diesen Horizont in einer Art Blindenschrift nieder. Wenn man in eine blanke Zinkplatte ritzt, kann niemand sehen, was man zeichnet. Auch ich selbst nicht. Ich muß ohne Unterlaß den Blick halten, darf nicht nachlassen in der Beobachtung. Und auch den Rhythmus nicht unterbrechen, den die Beobachtung in die Hand hinabführt. Ich probierte ein paarmal, auf der Platte zu erfühlen, ob ich ablesen könne, was ich gezeichnet hatte. Wie ein Blinder das Relief der Blindenschrift auf dem Papier liest. Es geht nicht. Lediglich probieren, die Platte im Licht zu drehen und wenden, um blitzartig etwas zu erahnen. Es ist nicht leicht und geht völlig daneben, wenn ich versuche, das zu korrigieren, was ich gleichwohl nicht sehen kann. Vielleicht stelle ich mir vor, es könne noch ‚richtiger‘ werden. Aber das ist eine Täuschung. Die Vorstellung einer ‚Verbesserung‘ und die ausgeführten Striche, die außerhalb des Handrhythmus liegen, werden immer zu Schrott. Zur Strafe ritze ich die ganze Platte zu etwas ganz anderem um. Die erste beobachtungsjungfräuliche Schrift ist verloren.
Während ich mit meinen Platten an Deck stand, mußte ich ab und zu von der Magie der Radiertechnik erzählen». (2009)
Am 9. Mai dieses Jahres ist der Maler, Bildhauer, Filmemacher und Dichter Per Kirkeby, der in seinen Arbeiten stets versuchte, jenen an sich zwecklosen und also zweck-freien Geist der Expedition als existentielles Motiv aufrechtzuerhalten, um künstlerisch der radikal fremden „Erhabenheit der Natur“ näherzukommen, in Kopenhagen gestorben.
Katalog:
Per Kirkeby
In Grönland
Kleinheinrich Verlag, Münster 2017
220 S.; 49 Euro
(Vorzugsausgabe mit 11 originalen Radierungen; auf Anfrage)