Photos © Ingrid Schindler
«Perle hinter Nordseedünen»
Von Ingrid Schindler
Dünen, Design, delikat essen? Niemandem kommt Den Haag als lebensfrohe, nobel-elegante Nordseestadt mit hohem Genuss- und Lifestylefaktor in den Sinn. Ausser man fährt hin. Die weltoffene holländische Botschafts- und Beamtenstadt Den Haag ist ein touristischer Geheimtipp.
Man kennt die Stadt aus der Tagesschau: Als Sitz des niederländischen Parlaments, Amtssitz der Königin, UNO-Sitz – Den Haag ist die zweitbedeutendste UN-Stadt nach New York – und Sitz zahlreicher internationaler Institutionen. Am häufigsten wird Den Haag in einem Atemzug mit Kriegsverbrechern und Menschenrechtsverletzern genannt, was nicht unbedingt tourismusfördernd ist. Im Grunde jammerschade. Denn die friedliebende, weltoffene Stadt, die sich seit der Einweihung des Friedenspalasts 1913 offiziell der Abrüstung und „Humanisierung“ des Kriegs verschrieben hat, ist touristisch eine Entdeckung – und viel zu attraktiv, um sie Bürokraten zu überlassen. Dazu befinden sich die schönsten Nordseestrände direkt vor ihrer Tür.
Die wenigsten wissen, wo Den Haag eigentlich liegt.
Nach Amsterdam sind es 55 km, nach Rotterdam 21 km und vom Zentrum ist es nur ein Katzensprung ans Meer. Gerade zehn Minuten dauert die Fahrt mit Tram Linie 11 bis an den Hafen von Scheveningen, wo frischer Hering angelandet wird. Das ehemals mondäne Seebad mit seinem 300 m ins Meer hinausreichenden Pier ist heute ein Vorort von Den Haag.
Auf Sand gebaut
An der Fischbude am Hofweiher legt Remco Dörr einen Stopp ein. „Hier gibt es die besten Matjes von Holland“, empfiehlt der kultivierte Herr, der mit seiner vornehmen Attitüde und eleganten Erscheinung einer Kreuzung aus Dandy und Diplomat gleichkommt. Sachkenntnis in punkto Fischbrötchen würde man so einem piekfeinen Cityguide gar nicht zutrauen, eher schon ein CD-Schild auf dem Hollandrad.
Mit dem zarten Hering auf der Hand geht es in den Binnenhof, wo Den Haag alias ‘s-Gravenhage begann. Für den internationalen Gebrauch eignet sich der richtige Name der Stadt wenig, schafft er nur noch mehr Verwirrung. Die Bezeichnung Den Haag ist in anderen Sprachen schon schwierig genug: die Franzosen nennen es La Haye, die Briten The Hague oder die Italiener L’Aia. International nennt sich die Stadt seit 1990 einfachheitshalber Den Haag.
Von diesem Wirrwarr ahnte Wilhelm II., Graf von Holland und Beinahe-Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, nichts, als er um 1250 sein Jagdschloss auf dem Sandhaufen am Weiher hinter den Dünen errichten liess. Über dem gotischen Rittersaal prangt Wilhelms Wappen. Der rote Löwe steht für Südholland, der Adler für das Deutsche Reich. An diesem Ort schlägt das politische Herz der Niederlande und befinden sich die beiden Kammern des niederländischen Parlaments. Einmal im Jahr, am Prinsjesdag, dem dritten Dienstag im September, fährt Königin Beatrix in der goldenen Kutsche vor, um den Thron im Rittersaal zu besteigen und mit ihrer Thronrede das parlamentarische Jahr zu eröffnen.
Ungeachtet einer halben Million Einwohner und der Rolle als internationale Schaltzentrale ist Den Haag offiziell immer noch ein Dorf. Das Stadtrecht wurde `s-Gravenhage nur einmal für 12 Stunden verliehen, erzählt Remco Dörr: „Als nämlich Ludwig Bonaparte, der von Napoleon eingesetzte holländische König, im Paleis Voorhout übernachtete. Der König aus Korsika wollte sich nicht in einem Dorf zur Ruhe betten.“ Da die auf Sand gebaute Stadt nie mit richtigen Mauern befestigt wurde, verpasste sie bis heute den Status einer Stadt.
Das Mädchen mit der Perle
Das Palais an der Langen Voorhout beherbergt heute keine Könige und Königinnen mehr, sondern die Grafiken und Lithografien von Maurits Cornelis Escher, dem Meister der optischen Täuschung. Die umfassende Sammlung von Eschers skurillen, faszinierenden Werken ist eine Perle unter den Haager Museen, die nicht mit Schätzen geizen.
Ein MUST für Liebhaber holländischer Malerei ist die Königliche Gemäldegalerie im Mauritshuis am Hofweiher. In dem Palais neben dem Binnenhof sind alle Grossen des Goldenen Zeitalters versammelt: Rembrandt, Vermeer, Brueghel, Hobbema, Steen oder Hals. Zum Besuchermagnet wurde es vollends, als Scarlett Johansson Vermeers „Mädchen mit der Perle“ (um 1665) im Kostümfilm „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ 2003 auf der Leinwand verkörperte.
Ein Highlight der Moderne repräsentiert das Haager Gemeentemuseum. Das Bauwerk des holländischen Architekten H.P. Berlage ist die reinste Ode an die Neue Sachlichkeit. Die grosse Eingangshalle beeindruckt durch ihre kompromisslos klare Linien-, Licht- und Farbführung. Die verschiedenen Ausstellungen des Gemeentemuseums zeigen u.a. Werke von Piet Mondriaan, Delfter Keramik, Haager Silber, Mode sowie Wechselausstellungen moderner Malerei. Bis 13. Juni 2011 ist eine Retrospektive des belgischen Expressionisten James Ensor zu sehen.
Die Witwe Indonesiens
Kunst zum Kaufen, Möbel, Design und Asiatica findet man im Antiquitätenquartier zwischen Dr. Kuyperstraat, Denneweg und der Langen Voorhout. „Deutsche Touristen lachen immer, wenn sie den Begriff hören“, sagt Stadtführer Dörr. „Auf Holländisch ist das nicht unanständig. Hout heisst Holz. Lange Voorhout bedeutet Vorstadtwald.“ Von Wald kann keine Rede mehr sein, aber eine breite Promenade unter schattenspendenden Linden ist geblieben. Die Kopie kennt man aus Berlin. Ringsum fallen prächtige, repräsentative Bauten ins Auge. Viele der 138 Botschaften, die in Den Haag ihren Sitz haben, darunter die Amerikaner, Portugiesen, Spanier und Briten, sind hier vertreten. Die Schweizer Botschaft auch; davor steht die Skulptur „Les Flaneurs“.
Traf man sich früher sonntags auf der Voorhout zum Flanieren, sind es heute Skulpturenausstellungen, das Hague Festival und der Trödel- und Antiquitätenmarkt, die die Besucher anziehen. Die Haager Gesellschaft kam schon immer sonntags ins Hotel Des Indes zum High Tea, weiss Remco Dörr. Auch die Cocktails an der Bar seien zu empfehlen. „Toute la Hague erscheint dort in Prada, Gucci oder Louis Vuitton“, meint der Diplomatensohn.
Früher hiess das Grandhotel Petite Indonesia. Bis 1949 gehörte Indonesien zu den Niederlanden. Das grösste indonesische Spektakel ausserhalb Indonesiens, der Pasar Malam Bazar, findet jeden Sommer auf dem Haager Mali-Feld statt. Der Event mit einigen Hundert Ständen und die weissen Villen der ehemaligen Kolonialherren sind ebenso Zeugen der kolonialen Vergangenheit wie Den Haags Spitzname „Witwe Indonesiens“.
Herrenbesuch verboten
Ein paar Schritte hinter dem vornehmen Des Indes erhebt sich ein 70er Jahre Klotz, „die Duschkabine“. Der Niederländische Rechnungshof, erbaut von Aldo von Ejk, erfreut sich nicht gerade grosser Beliebtheit, ganz im Gegensatz zum Rusthof, der sich hinter einer unscheinbaren Fassade auf der anderen Strassenseite verbirgt. Eine kleine Tür führt in den 1831 angelegten Hof hinein: ein entzückendes, grünes Paradies tut sich auf, umgeben von schmucken Häuschen mit Bänken, Blumen- und Gemüsebeeten, Buchsbäumen, bunten Rabatten, kurz eine Idylle.
„Herrenbesuch war früher verboten, eine Concierge passte am Eingang auf“, sagt Remco Dörr. Der Rusthof war alleinstehenden, älteren, kinderlosen Damen jenseits der 55 vorbehalten, gleich welcher Konfession. Daran hat sich nicht sehr viel geändert, nur die Vorschriften sind heute locker. 115 solcher Hofjes, die teils bis ins Mittelalter zurückgehen, gibt es in Den Haag. Sie stellen heute exklusiven Wohnraum dar und sind einer der Gründe, warum Den Haag mit 460 Gärten und Parks die grünste Stadt im Lande ist.
Kanäle und Könige
Auffallend wenige Kanäle durchziehen die Stadt. „Wir brauchten sie nicht, weil Den Haag im Gegensatz zu Amsterdam oder Haarlem niemals Handelsstadt war“, erklärt Remco Dörr. „Eine holländische Redensart besagt, in Amsterdam wird gehandelt, in Rotterdam gearbeitet, in Den Haag wohnt man und gibt man das Geld aus.“ Kanäle wurden hier nicht für den Handel, sondern zur Verteidigung gebaut. Heute leisten sie nicht selten als Velofriedhof Dienst.
Die Haager hatten schon immer ihren Reichtum zu verteidigen. „Arm und Reich sind strikt getrennt, die Linie läuft durch den Binnenhof. Der Norden der Stadt ist reich, der Süden nicht. Während Holland sonst sozial sehr durchlässig ist, findet in Den Haag kein Schichtenmix statt“, ist Remco Dörr überzeugt. Der Noordeinde-Palast, in dem die Königin arbeitet, liegt folgerichtig im Norden. In der gleichnamigen Strasse mit den stattlichen Stadthäusern im holländischen Zuckerguss, Klassizismus und Jugendstil wohnten früher Maxima und Willem Alexander. Heute lebt das Thronfolgerpaar in Wassenaar, im noblen Norden der Stadt, wo sich eine majestätische Villa an die andere reiht.
Ein Bild von Küste
Der Radweg nach Wassenaar führt durch eine weitläufige Dünenlandschaft. Die Küste ist perfektes Veloland. In den kirchturmhohen Sandbergen vor dem endlosen, breiten Nordseestrand verläuft der Veloweg LF1. Die Abkürzung steht für „Landesweiter Fahrradweg Nr. 1“, der 310 km an der Festlandsküste entlang führt, von Sluis an der belgisch-holländischen Grenze bis nach Den Helder. Hunderte von Strandpavillons sichern die Verpflegung. Viele der 50er Jahre Buden wurden inzwischen zu hippen Lounges und respektablen Restaurants umgebaut.
Wie das Strandleben von Scheveningen, Hollands berühmtestem Nordseebad, einst ausgesehen hat, zeigt das Panorama Mesdag in Den Haag. Das 14 m hohe und 120 m lange Rundbild und grösste Gemälde der Niederlande beamt den Betrachter in die Zeit um 1880 zurück. Quasi vom höchsten Punkt der Dünen ergiesst sich eine zauberhafte Rundsicht über die Stadt, die Dünen und das Meer. Die Kirch- und Leuchttürme, Badehäuser, Pavillons und Muschelfischer machen die Illusion fast perfekt, nur sehen heute die Verkehrsmittel, Häuser und Hotels anders aus.
Anreisebeispiel: City Night Line nach Utrecht, umsteigen nach Den Haag (1/2 Std.). Flug mit KLM oder Swiss nach Amsterdam Schipohl oder Rotterdam The Hague Airport.
Anschauen und Erleben: Vredespaleis (Friedenspalast), www.vredespaleis.nl, Madurodam, die Niederlande in Miniatur (Massstab 1:25), www.madurodam.nl,, Indonesisches Spektakel, www.pasarmalambesar.nl, Panorama Mesdag, www.museummesdag.nl, Escher-Museum, www.escherinhetpaleis.nl, Gemeentemuseum, www.gemeentemuseum.nl, Mauritshuis, www.mauritshuis.nl, Velomiete, Noordeinde 59, www.fietsverhuurdenhaag.nl, Shopping (Mode, Kunst, Antiquitäten): Noordeinde, Denneweg, Molenstraat, Prinsestraat, Frederikstraat, Mesdagkwartier.
Essen und Trinken: Fischbude Buitenhof am Hofvijver (Hofteich) vor dem Binnenhof, The Harbour Club, trendiges, gehobenes Seafoodrestaurant in Scheveningen, Dr. Lelykade 7, www.new.zamen.nl, Little V, populärer Vietnamese im Zentrum, Raabijn Maarsenplein 21, www.littlev.nl, Dekxels, internationale Fusionküche, Denneweg 130, www.dekxels.nl, Muziekcafé De Paap, Papestraat 32, www.depaap.nl, Beachclubs: www.niederlande.de
Übernachten: Residenz Stadslogement, Sweelinckplein 35, www.residenz.nl, charmantes, kleines Stadthotel mit geräumigen, geschmackvoll gestylten Zimmer, schönes Frühstück, sehr schick, ab ca. 160 Euro/ DZ, Hotel Des Indes, Lange Voorhout 54, www.hoteldesindesthehague.com, ab ca. 260 Euro/ DZ.
Info: www.denhaag.nl, www.niederlande.de, Stadtführungen: www.denhaag.com.