FRONTPAGE

«Peter Sloterdijk: Im Copy-Shop der Evolution»

Von Ingrid Isermann

 

Wer sind die schrecklichen Kinder der Neuzeit? Sloterdijk nimmt die Genealogie unter die Lupe, die Generationen und das Patriarchat seit der Antike. Vieles erschliesst sich in der Sprachtheoretik Sloterdijks nicht unmittelbar, aber sein Ansinnen ist deswegen nicht weniger revolutionär, die Verhaltensweisen der Menschen auf die Sitten und die Sittenstrenge zurückzuführen, was unmittelbar zu den Religionen führt und damit an Brisanz gewinnt, den ‚Culture Clash‘ und die aktuellen Religionskämpfe ins Bild zu holen.

Am Anfang war weder das Wort noch die Tat, sondern die Sitte, schreibt Sloterdijk. Solange das menschliche Leben aus alt-verborgenen Kulturquellen fliesst, hat die Vergangenheit immer recht, so wie die Gemeinschaft stets befugt ist, auf ihrem Vorrang gegenüber dem Einzelnen zu beharren. Der Begriff there is no alternative, der in moderner Zeit unter allen Umständen falsch sei, ist für die Welt der Alten und Ältesten und ihr sittengeprägtes Dasein so gut wie ausnahmslos immer richtig.
Nur der bestehenden Kultur verpflichtet zu sein, heisst keine Alternative zu ihr zu sehen – und keine sehen wollen, können oder dürfen. Wer in den überlieferten Formen ganz aufgeht, findet ausserhalb der Zwangsgemeinschaft des Eigenen keinen Halt. Nietzsche hat den frühen absoluten Gehorsam der Generationen aller Völker, alt und jung, gegen das Herkommen durch das gerechtfertigt, was er den «ersten Satz der Zivilisation» nannte: «jede Sitte ist besser als keine Sitte».

 

 

Der Patriarchengeist und die Transmissionskette

Sobald die Sittlichkeit der Sitte sich nicht mehr damit zufriedengibt, das Leben des Kollektivs anonym zu durchdringen, sondern ein personales Gesicht zur Schau trägt, entsteht, was nach einer familiensoziologischen Sprachregelung ‚das Patriarchat‘ heisst.
Die Errichtung der Väterwelt bildet eine zweite Phase im Kopierprozess der Kulturen. Man begreift die Funktion von Vätern und Vaterschaft in frühen Hochkulturen nicht, wenn man in ihr nicht das Verlangen wahrnimmt, der älteren, anonymen sitten-weitergebenden Befehlsgewalt ein «menschliches Antlitz» zu verleihen.

Der personalisierende Imperativ wirkt nach bis in die Wahlkämpfe unserer moderner Demokratien, in denen ein Gesicht zum Beispiel eines Politikers ein Programm ersetzen kann.

Für die Kulturtheorie ist seit einigen Jahren, so Sloterdijk, vielleicht schon seit Jahrzehnten, der Moment gekommen festzustellen, dass die Geschichte der Kulturen seit relativ langer Zeit immer auch die Geschichte des Nicht-Anschliessens am Bisherigen war. Hatte nicht einer der Wortführer der Jugendbewegung um 1900 in Deutschland schon davon gesprochen, dass die Menschheit von jeher ständig sich selbst einen Feind gebiert: «ihre junge Generation, ihre Kinder?».

 

Die Lektüre stellt einige Ansprüche an die Leserschaft, wenn sie willens ist, den verschlungenen Sprachpfaden zu folgen. Dass Sloterdijk auf Jesus als ‚uneheliches Kind’ zu sprechen kommt, der als Spross des Geistes ‚von oben’ zur Welt kommt und nicht als Kind aus der Serie vergangener Zeugungen, passt in seine Aufarbeitung über das anti-genealogische Experiment der Moderne. So verfehlt die Aufzählung der Zwischenglieder von Abraham bis Joseph ihr erklärtes Ziel, die Legimität Jesu durch seine Stellung in der altehrwürdigsten jüdischen Transmissionskette zu beweisen, da Joseph als physischer Erzeuger dieses Sohnes expressis verbis ausgeschlossen wird.
Der Messias soll unmissverständlich, konstatiert Sloterdijk, als der ‚Sohn Gottes aus asexueller Zeugung und supranaturaler Verkörperungskausalität‘ hervorgegangen sein. Gleichzeitig soll er einen Nachkommen Abrahams und Davids in direkter Zeugungslinie darstellen.

Dies sei der Übereifer der proselytischen Schreiber, der aus dieser ‚evidenten Fehlkonstruktion’ spräche. Die Verlegenheit könne man naturgemäss nicht dadurch beheben, dass man, wie Lukas, den «Stammbaum» Jesu über Abraham hinaus bis zu Adam zurückverlängerte: Der Widerspruch zwischen der Lehre von der jungfräulichen Geburt des Messias und seiner Einbindung in die ältesten Herkunftsreihen bliebe unversöhnbar.
In den ‚Redaktionen’ der Evangelisten Matthäus und Lukas kündigten sich die späteren Schicksale des Christentums an, die am besten mit der Formel «Re-Genealogisierung der anti-genealogischen Revolte» zu umschreiben seien. Der aus dem patriarchalen Herkunftssystem ausgebrochene Sohn aller Söhne wird vom Schwerefeld der genealogischen Verhältnisse wieder eingefangen, auf eine Weise, die eine unabsehbar folgenreiche Modifikation an den bisher gültigen Modellen von Familie und Nachfolge nach sich zieht.
Nicht umsonst zeichne sich die etablierte christliche Ekklesia durch den extensiven Gebrauch von hybriden Vater-Titeln aus, von den Wüstenvätern über die Kirchenväter zu den Beichtvätern, um von den übrigen para-väterlichen Figuren wie dem Pater, dem Papst, dem Abt, dem Abbé und ähnlichen psycho-semantischen Neuschöpfungen des patrologischen Vokubulars abzusehen.
Die Wandlung des Christentums zu einer Religion von Söhnen, die durch die Ausübung von Pastoralmacht in die von Jesus verbotene Vaterrolle zurückdrängten, sei die klerikokratische Revolution. Ohne die Hierarchie von Schafen, Hirten und Überhirten wäre der katholische Apparat weder zu denken noch zu verwalten gewesen, so Sloterdijk. Im Einflussbereich des römischen Katholizismus, wie auch in den griechischen und russischen Orthodoxien, sei dieses patrozentrische Bild bis heute aktuell, obwohl es durch die Aufdeckung päderastischer Aktivitäten im katholischen Klerus getrübt werde, da diese weniger für väterliche Kompetenzen im geistlichen Personal sprächen als für das von Paulus und Augustinus vorgeprägte sexualneurotische Erbe des Christentums.

 

 

Innovation, Integration, Dada und ein Unbehagen in der Kultur
Den Gedanken, wonach Zivilisationen von einer gewissen Entwicklungsstufe an die «Integration» eines Elements an Störendem, Heterogenem, Fremdem zu ihren Voraussetzungen zählt, hat zuerst Hegel in seinen Reflexionen über das frühe Griechentum als Einheit von «aufgehobenen» Gegensätzen ausgesprochen:

«Der wahrhafte Gegensatz, den der Geist haben kann, ist geistig; es ist eine Fremdartigkeit in sich selbst, durch welche allein der Geist die Kraft zu sein, gewinnt… Jedes welthistorische Volk… hat sich auf diese Weise gebildet. So haben sich die Griechen, wie die Römer, aus einer colluvies, aus einem Zusammenfluss verschiedenster Nationen entwickelt».


Albert Camus verfolgte in seinem Essay «L’homme révolté», 1951, die Spuren eines ’seit den Tagen Kains nicht mehr erloschenen Feuers‘ und meinte die Gesetze einer permanenten Insurrektion entdeckt zu haben, die heute mehr denn je die Tagesordnung bestimmten. Von den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts an, machte in den Sprachspielen neo-liberaler Unternehmensberater der Slogan von der «permanenten Innovation» die Runde, mit dem die Ideen Trotzkis auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wurden; die ästhetische Kritik des 20. Jahrhunderts beklagt oder feiert die permanente Usurpation, die den ‚Karneval der zeitgenössischen Kunst’ vorantreibt.

In der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts wird der 5. Februar 1916 als offizielles Geburtsdatum der Dada-Bewegung, der «Dadaismus», angegeben. Eine kleine Künstlergruppe unter Hugo Ball und seiner Lebensgefährtin Emmy Hennings rief das berühmte Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse in Zürich ins Leben, das eine bis heute anhaltende Kettenreaktion der Fernwirkungen feiert. Der Dadaismus galt in erster Linie als Manifestation eines Nullpunkt-Experiments als toten Punkt des Sinns. Die Dadaisten kämpften als Sprachartisten und Pazifisten gegen Agonie und Todestaumel angesichts der Entwicklungen des Ersten Weltkrieges 1914-1918.

 

Sloterdijk mäandert von der Genealogie zur mittelalterlichen Mystik und den neuzeitlichen Widersprüchen der Freiheit, von den Kindern Gottes zu den Kindern des Abgrunds, über Bastarde, Erbe, Sünde und Moderne, Aufklärung und den Ecce homo novus: «Der Mensch ist das Tier, dem man die Lage erklären muss».
Wenn Madame de Pompadour im Jahre 1757 am französischen Hof ausrief: «après nous le déluge» (nach uns die Sintflut!) oder Laetitia Ramolino, Napoleons Mutter, im Blick auf die Karriere ihres Sohnes bemerkte: «pourvu que cela dure», so könnten das durchaus auch Sätze von heute sein «…wenn das nur gutgeht auf die Dauer».
Sloterdijk spricht am Rande die Probleme der fortschreitenden Mobilisierung an, wie auch die Modernisierung der Korruption und die Monetarisierung, in Kommendes wage kaum noch jemand tiefer als wenige Jahrzehnte vorauszuschauen. Das Zeit-Empfinden scheine bei den meisten auf Endverbrauch gepolt; nur für die Endlagerung von radioaktiven Abfällen aus Nuklearreaktoren, von denen mehr als 10.000 Jahre lang Strahlungsgefahren ausgehen, wird Zeitdenken in einer anderen Dimension gefordert. Dies stelle die Erbauer von Endlagern vor die Aufgabe, ein Zeichensystem zu erfinden, das noch nach 400 Generationen verständlich wäre.

Der Streit zwischen dem Futurismus der Moderne und der Präsenz der Postmoderne ist vorerst nicht entschieden. Eine lustvolle, hellsichtige und leidenschaftliche Zeitreise und Streitschrift für die Nachhaltigkeit der Zukunft.

 

 

Peter Sloterdijk
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
Über das anti-genealogische Experiment der Moderne
Essays
Suhrkamp Verlag Berlin, 2014
489 S., geb., CHF 36.90. D 26.95 €. A 27.70 €.
ISBN 978-3-518-42435-3

Peter Sloterdijk, *1947, ist Professor für Äesthetik und Philosophie sowie Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

 

 

L&K Sachbuchtipp

Frauen die die Freiheit lebten

 

Ein Buch mit 31 Porträts über Frauen, die sich die Freiheit genommen haben, trotz Widerständen und Widrigkeiten ihren eigenen Weg zu gehen. Mit ihrem Einsatz hat jede von ihnen in der Schweizer Gesellschaft von heute Spuren hinterlassen.

 

Heutige Frauen verdanken den Pionierinnen viel – nicht zuletzt die mittlerweile als selbstverständlich wahrgenommene Gleichberechtigung, die u.a. in Bezug auf die Löhne noch immer nicht verwirklicht ist. Zugleich sind die Protagonistinnen dieses Buches eine Inspiration für einen liberalen Feminismus des 21. Jahrhunderts. Die moderne Schweiz braucht einen Feminismus, der konsequent von der Freiheit her denkt und sich darauf beschränkt, die alten Zöpfe der Diskriminierung abzuschneiden, schreiben die Herausgeberinnen.

 

Neben illustren Namen wie Bondgirl Ursula Andress, der Malerin Angelika Kauffmann, der Juristin Emilie Kempin-Spyri, der Juristin und Schriftstellerin Iris von Roten, der Frauenrechtlerin der ersten Stunde Meta von Salis oder der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, der ersten Frau auf einer Schweizer Banknote, werden auch bekannte Unbekannte porträtiert, wie die Tessiner Architektin und ‚Beton-Poetin‘ Flora Ruchat-Roncati. Der Schriftstellerin Aline Valingin wird ebenso ein ausführliches Porträt gewidmet wie der ersten 1972 gewählten Zürcher Ökonomieprofessorin Heidi Schelbert-Syfrig.

Im Anhang werden Frauen der modernen Schweiz des 21. Jahrhunderts in einem Fotoporträt vorgestellt, wie u.a. Katy Foraz, Projektmanagerin am Cern in Genf, Tanja Grandits, Koch des Jahres 2014, Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, Direktorin des Seco und der Direktion für Aussenwirtschaft oder Bice Curiger, Kuratorin., Carolina Müller-Mohl, Stiftungsrätin von Avenir Suisse oder Seraina Rohrer, Direktorin der Solothurner Filmtage. Mehr Informationen unter www.nzz-libro.ch.

 

Porträts von:
Lily Abegg, Ursula Andress,Verena Conzett, Marie Dentière, Anna-Joséphine Dufour-Onofrio, Regula Engel-Egli, Elisabeth Feller, Augusta Gillabert-Randin, Marthe Gosteli, Marie Grosholtz, Gertrud Haemmerli-Schindler, Marie Heim-Vögtlin, Elise Honegger, Angelika Kauffmann, Emilie Kempin-Spyri, Marion van Laer-Uhlmann, Gertrud Lutz-Fankhauser, Gilberte Montavon, Anna Mürset, Suzanne Necker-Curchod, Iris von Roten, Flora Ruchat-Roncati, Meta von Salis, Heidi Schelbert-Syfrig, Emma Stämpfli-Studer, Sophie Taeuber-Arp, Anna Tumarkin, Aline Valangin, Elisabeth von Wetzikon, Pauline Zimmerli-Bäurlin, Else Züblin-Spiller.

 

 

‚avenir suisse‘

Verena Parzer Epp und Claudia Wirz (Hrsg.)
Wegbereiterinnen der modernen Schweiz
Frauen die die Freiheit lebten
Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2014-07-17
195 S., brosch., CHF 38.

Mit Beiträgen von Sibylle Egloff, Simone Hofer
Simon Herbst, Verena Parzer Epp, Lukas Rübli,
Marco Salvi, Patrik Schellenbauer, Barbara Stolba,
Susanne Stortz und Claudia Wirz mit einem
Vorwort von Gerhard Schwarz.

ISBN 978-3-03823-928-4

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