«Petr Borkovec: Schillernder Lido di Dante»
Von Andreas Kohm
Wer einmal im italienischen Ravenna war, kennt die sagenhaft schönen Mosaike und weiss aus wievielen bunten Einzelteilchen sich ein kunstvolles und doch auch etwas verzerrtes Bild von der Welt zusammensetzen kann. Wer noch nie im nahgelegenen Adriabadeort Lido di Dante war und nun die Erzählungen des gleichnamigen Bandes von Petr Borkovec liest, wird darin zwischen den Koordinaten alltäglicher Bedeutungslosigkeit und bizarrer Merkwürdigkeiten einen kurios schillernden Ort entdecken können, dessen Italianità sich gerade in Abweichungen und Übertreibungen des klischeehaft Erwartbaren als ebenso staunenswert wie (un)glaubwürdig erweist.
Schon die Namensverbindung zum italienischen Nationaldichter Dante Alghieri, der 1321 im nahen Ravenna starb und dort prunkvoll begraben liegt, lässt den Spannungsbogen und die literarische Fallhöhe anklingen von heutig-hedonistischem Strand- und Touristentrubel zur «Divina Commedia», der Göttlichen Komödie.Und vermutlich liegen bei beiden die Pole Paradies und Hölle oft nahe beieinander… Dante selbst erzählt im «Ersten Gesang» des «Inferno» – von Borkovec mit einigen Versen dem Erzählband als Motto vorangestellt – vom ambivalenten „wilden Wald (…)/ Der in Gedanken noch die Angst erneuert“ und ihn „die andern Dinge (schauen)“ läßt. „Wie ich hineinkam, kann ich kaum berichten/ So war ich schwer vom Schlaf zu jener Stunde/ Da ich den wahren Weg verlassen hatte“.
Auch die Geschichten des tschechischen Dichters und Übersetzers Borkovec (* 1970) haben einen visionären Gestus. Sie tasten die ramponierten und meist ohnehin billigen Oberflächen der fremd-vertrauten Urlaubsszenarien ab hin auf doppelbödige Grenzsituationen, Übergangsräume und Dämmerzustände, wo nicht mehr eindeutig zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu entscheiden ist. Sie öffnen, ja provozieren vielleicht sogar Zugänge zu bisweilen unheimlichen Zonen: Angstzuständen, erinnerungsschweren Träumen oder halluzinatorischen Gesichten. Wo hinter Proletengetue und schnellem Sex ebenso wie trivialen Alltagsritualen das sinnlos Banale herumlungert und nicht selten das das Brutale lauert.
„Auf dem leeren Parkplatz kurvten Autos herum, immer mehr. (…) Dann merkte ich, dass sich alle wiederholten, dass ständig die gleichen Leute, Autos und Mopeds kreisten. Ausstiegen oder warteten, wegfuhren oder zurückkamen.(…) Keiner brauchte was vom anderen, keinem ging es um etwas. Es führte nirgendwo hin, begann nicht, endete nicht, hatte keinen Grund. Aber es existierte, geschah vor meinen Augen. (…) eine() Deponie unnützer und defekter Blicke am Ufer des Meeres. Lauter Reste, alles irgendwie schadhaft und gleich. Aber es funktionierte perfekt, es löste Angst in mir aus“.
Biotop der Subkulturen
Ebenso virtuos wie beiläufig beherrscht der Tscheche Petr Borkovec ein vielseitiges erzählerisches Instrumentarium, um mit seinen zwölf Erzählungen beim Leser einen Zustand des Gleitens und der Unsicherheit zu erzeugen. Dabei scheint auf den ersten, suggestiv durch den Klappentext unterstützten Blick eine autobiografische Lesart das erzählende Ich als den Autor selbst zu konturieren, der in Lido di Dante mit seiner Familie die Urlaube verbringt. Doch phantastische Abschweifungen ins Surreale oder drastisch derbe Übertreibungen, bisweilen von subtiler Ironie in mitleidlose Zynik umschlagende Tonlagen- und Perspektivwechsel lassen Zweifel aufkommen: Wer ist dieses Ich? Spricht es aus unterschiedlichen Zeiten? Sind es verschiedene Stimmen aus all den Parallelwelten, die sich in diesem (wie an jedem anderen) Ort überlagern? Spricht durch sie eine imaginäre Landschaft? Da der Strand und der „gespenstische“ Pinienwald, draussen vor der Küste die Ölplattform, da die Schilflandschaften des Po-Deltas, da die „Ferienappartements aus Beton, ein Bau wie der andere“ mit heruntergekommenen Grünanlagen, „zwei mickrige Bars“.
Es ist ein ungeordnetes Biotop der Subkulturen, das sich Touristen, Einheimische, Nudisten, Kriminelle, Prostituierte, Transvestiten teilen. Der Barbesitzer (und Stundenhotelbetreiber?) Toni; die eifersüchtige (und promiskuitive?) Ehefrau Alice; die von „sensationsgierigen Dörflern“ begaffte „selige“ Frau Porro, Zerrbild einer „Heiligen“, die mitsamt ihrem Bett vor der Hausfassade auf die in die Mittagshitze getauchte Piazza einschwebt und unter jahrmarktartigem Tumult ihre bigott-religiösen Sentenzen ins Mikrophon röchelt: „Demut ist das süßeste Parfum. Alles strebt nach oben“, während der Zuhälter Gianni mit zwei Strichjungen ein vermutlich pornografisch inspiriertes Film-Geschäft verhandelt; der Strandmüllsammler Meister Nanu und seine Schätze; der Vater, der sich mit seinen Töchtern rauschhaft (dem (Alb-)Traum?) einer exzessiven Kolibrijagd hingibt; der einsam Begehrende in der Wintertristesse seines Hotels – alle haben einen eigenen Blick auf die scheinbar gleiche und gleichgültige Welt; alle agieren höchst theatralisch nebeneinander, verdächtigen, durchschauen einander – und erst wo sie sich berühren, kollidieren die existentiell unterschiedlichsten Ladungen und entladen ihre explosiven Energien.
Cooler, erotischer Grundton
Mal mit zweideutiger Heiterkeit, mal mit provokanter Großmäuligkeit, mal mit purer Gewalt offenbaren sich dann ihre verborgenen Abgründe und unter all den offensichtlichen Nebensächlichkeiten tritt immer wieder ein Elementares zutage: Borkovec‘ Erzählungen durchzieht ein vielfach gebrochener erotischer Grundton, vielleicht eine latent allgegenwärtige sexuelle Trieb- und zugleich Antriebskraft der Gedanken und Handlungen in diesem überaus sinnlichen und manchmal fast aufdringlich körperbetonten Li(bi)do di Dante, walddunkel und zugleich grell illuminiert.
In der unaufgeregten, beinah nüchtern zurückgenommenen Übersetzung Christa Rothmeiers, die Petr Borkovec einen coolen Tonfall verleiht, gelingen diesen harmonieresistenten Erzählungen wahrhaft wunderbar verzerrte und ihrem imaginierten italienischen Sehnsuchtsort ebenso schonungslos entlarvend wie liebevoll zugewandte Miniaturen. „Ciao, ragazzi!“ Beste, irritierende Urlaubslektüre, andiamo!
Petr Borkovec
Lido di Dante
Edition Korrespondenzen, Wien 2018
112 S., 19 €.