«Petros Markaris: Tagebuch einer Ewigkeit»
Von Ingrid Isermann
Petros Markaris ist für seine rasanten Krimis bekannt, Theo Angelopoulos für seine epischen Autorenfilme. Gemeinsam haben sie einige der wichtigsten europäischen Filme geschrieben. Im Austausch zwischen den beiden zeigt sich, wie Humor und Ernst im Schaffensprozess zusammenspielen – und wie Literatur und grosses Kino entstehen. Und es geht auch um die grosse Frage unserer Zeit, die Migration.
Petros Markaris hatte keine Ahnung vom Drehbruchschreiben, doch Theo Angelopoulos brachte es ihm bei. Über zwanzig Jahre lang arbeiteten der Schriftsteller und der Regisseur zusammen. In seinem Tagebuch gewährt Markaris Einblick in die Entstehung des Films «Die Ewigkeit und ein Tag», der 1998 die Goldene Palme von Cannes gewann. Mit Temperament, aber auch mit grosser Zuneigung erzählt er von der Zusammenarbeit mit seinem guten Freund, von ihren Diskussionen über Ideen, Aufbau und Besetzungen. Und nicht zuletzt von den turbulenten Dreharbeiten mit dem wunderbaren Schweizer Schauspieler Bruno Ganz (1941-2019), der in dem Film die tragende Hauptrolle verkörperte.
Die Zeitspanne, die dem Schreiben eines Drehbuchs vorangeht, ist eine Zeit der Feuchtigkeit, mit seltsamen Variablen und nach aussen hin ungerechtfertigten Gefühlsregungen, ein Wechselspiel zwischen Unaufmerksamkeit und Aufmerksamkeit, sagt Theo Angelopoulos. Und es ist eine Zeit des Doppellebens: «Der laute Teil deines Selbst lebt den Alltag wie immer, während der leise Teil insgeheim aus unsichtbaren Materialien etwas ineinanderfügt, das langsam heranreift und irgendwann, in einem nicht vorhersehbaren Augenblick, an die Oberfläche kommt und mit erstaunlicher Leichtigkeit alle Filtermchanismen des Alltags durchbricht».
Der Film «Die Ewigkeit und ein Tag» spielt im griechischen Thessaloniki, am letzten Tag im Leben des exilierten sterbenskranken Poeten Alexander (Bruno Ganz), dem für die Vollendung eines Gedichts des 19. Jahrhunderts die Worte ausgehen. Alexander bringt seiner Tochter einen Brief ihrer Mutter und schwelgt in Erinnerungen an seine geliebte Frau. Er rettet einen kleinen albanischen Jungen vor Menschenhändlern, und verbringt seinen letzten Tag mit dem Kriegswaisen, in nebligen Landschaften, mit Musik, Tanz und Dichtung. Alexander kann ihm bei der Heimkehr nach Albanien helfen, und verabschiedet sich von dem Jungen spät des Nachts. Nach einigen Irrwegen endet der Film am Strand mit dem Blick aufs Meer. Eine Elegie auf den Tod und das Leben.
Im Anhang des Buches ist ein posthumer Brief von Petros Markaris an Theo Angelopoulos veröffentlicht, der vom 14. Oktober 2016 datiert:
Lieber Herzensfreund Theo
Seit deinem Tod vor fast fün Jahren verspüre ich zum ersten Mal das Bedürfnis, dir zu schreiben. Bestimmt wirst du das, was ich zu sagen habe, besser als jeder andere verstehen.
Während ich in den vergangenen Monaten das Flüchtlingsdrama in Griechenland und ganz Europa verfolgte, musste ich ständig an deinen Film Der schwebende Schritt des Storches denken. Ich erinnere mich, dass du mir bei unseren Gesprächen über das Drehbuch gesagt hst, die Migrationsproblematik sei die grosse Frage unserer Zeit. Deine Vorahnung hat sich bestätigt.
Bevor ich mich an diesen Brief setzte, habe ich mir den Film noch einmal angesehen. Dabei dachte ich an seine Erstaufführung zurück, als wir alle das Flüchtlingsdrama im Film sprachlos verfolgten. Deine Vorahnung hat sich bestätigt, aber die Odyssee der Migranten, die im Film erzählt wird, wirkt im Vergleich zu den dramatischen Erfahrungen der heutigen Flüchtlinge ‚harmlos‘.
Ich hörte, wie sich die Hauptfigur des Films fragte: ‚Wie viele Grenzen müssen wir überqueren, um nach Hause zu kommen?‘. Und ich sah den Journalisten wieder vor mir, der mit «schwebendem Schritt» an der Grenze steht und sagt: ‚Ein Schritt, und ich bin woanders‘.
Lieber Theo, für die heutigen Flüchtlinge wäre keines von beidem möglich, (…) da die Grenzen von Mazedonien und Österreich dicht sind. Wohin ich auch blicke, überall nur Stacheldraht und Mauern. Und dein Journalist würde mit «schwebendem Schritt» an der griechischen Grenze in Idomeni verharren müssen. Und der Zeitpunkt, wann er seinen Fuss in ein anderes Land setzen könnte, wäre nicht absehbar.
(Auszug)
Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, war Co-Autor von Theo Angelopoulos bei den Filmen «Der schwebende Schritt des Storches» (1991), «Der Blick des Odysseus» (1995), «Die Ewigkeit und ein Tag» (1998) und «The Dust of Time» (2008). Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er Mitte der neunziger Jahre, und schon bald war er für seine Kostas-Charitos-Romane international berühmt. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen.
Theodoros „Theo“ Angelopoulos (1935 in Athen-2012 in Neo Faliro, Piräus), griechischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent. In seiner mehr als fünf Jahrzehnte währenden Karriere führte er bei 20 Kurz- und Langfilmen Regie. Er zählte zu den profiliertesten europäischen Autorenfilmern und gilt als bedeutender Chronist seines Heimatlandes. 1998 gewann er für seinen Spielfilm «Die Ewigkeit und ein Tag» die Goldene Palme der internationalen Filmfestspiele von Cannes.
Leseprobe:
Freitag, 26. September 1997
Für die Szene, in der A. seine Mutter vor dem Regen in Sicherheit bringt und sich die Tischgesellschaft am Strand auflöst, brauchen wir zwei Tage.
Am ersten Tag klappt überhaupt nichts. Als wir morgens mit dem Bus am Strand eintreffen, werden dort erst die Schienen für den Kamerawagen aufge baut. Theo möchte die Szene mit Kamerafahrt in einer Plansequenz drehen. Nach etwa zwei Stun den gibt uns Katselis Bescheid, dass alles bereit ist, und wir begeben uns zum Drehort. Der Dolly ist auf dem Sandstrand fertig aufgebaut und die Kamera auf einem Kran montiert. Kaum hat A. den Strand überquert und die Tischgesellschaft erreicht, kippt der Kran um, und die Schienen bohren sich in den Sand. Theo ist außer sich und brüllt herum. Er legt sich mit den Arbeitern, mit den Technikern, mit dem Aufnahmeleiter, kurz gesagt, mit allen an, die ihm in die Quere kommen. In solchen Augenblicken geht man ihm besser aus dem Weg und vermeidet, in sein Blickfeld zu geraten. Daher wende ich ihm den Rücken zu und betrachte das Meer.
Sie brauchen Stunden, um den Kamerawagen wieder solide aufzustellen. Gegen vier Uhr nachmittags – wir sind schon seit zehn Uhr am Strand – probieren wir eine zweite Aufnahme. Alles klappt wie am Schnürchen, bis zu dem Moment, da der Regen einsetzen soll. Nun erweist sich unsere Hoffnung, die Szene schnell im Kasten zu haben, als illusorisch, denn die Pumpen der Löschzüge spritzen das Wasser wild durch die Gegend. Beim ersten Mal geht ihnen das Wasser zu früh aus, beim zweiten Mal landet es nicht an der richtigen Stelle, beim dritten Mal kommen sie aus dem Takt, bis die Sonne schließlich untergeht, das Licht sich ändert und die Dreharbeiten vertagt werden.
Darauf folgt ein zweiter gewaltiger Wutausbruch von Theo.
Als wir am Abend beim »Kreter« essen gehen, bleibt Theos Platz leer.
»Wo ist er?«, frage ich Katselis.
»Er hat sich schlafen gelegt, um sich zu beruhigen«, erklärt er mir.
Das ist sicher eine weise Entscheidung. Schlafen ist die beste Medizin, das sagen auch die Psychiater. Nur muss man dafür die Gabe haben, mit den Hühnern zu Bett gehen zu können. Da ich vor zwei Uhr nachts kein Auge zutue, hilft mir diese Medizin wenig.
Samstag, 27. September 1997
Am zweiten Tag klappt es besser. Als wir um zehn Uhr zum Strand kommen, steht alles für uns bereit. Trotzdem brauchen wir den ganzen Tag, weil sich immer wieder neue Komplikationen ergeben und insgesamt fünfmal gedreht werden muss.
Die erste Aufnahme misslingt, weil die Pumpen der Löschfahrzeuge nicht tun, was von ihnen erwartet wird. Die zweite geht gut. Theo ist zum ersten Mal nach anderthalb Tagen zufrieden, möchte aber zur Sicherheit noch eine dritte Aufnahme machen. Da es bereits Mittag ist, müssen wir jedoch unterbrechen.
Am Nachmittag tauchen neue Gesichter bei den Löschfahrzeugen auf. Die Schicht der Feuerwehrleute hat gewechselt. Das erinnert mich an meine Erfahrung mit Theaterstücken, die für das griechische staatliche Fernsehen gedreht wurden. Um acht Uhr morgens gingen wir hin, erklärten den Kameraleuten, was wir von ihnen wollten und wie alles abläuft, und bis zum Mittag ging alles gut. Dann war Schichtwechsel, andere Kameraleute traten ihren Dienst an, und wir mussten alles von vorn erklären. Dasselbe passiert jetzt mit den Feuerwehrleuten. Sie wissen nicht, was von ihnen verlangt wird, und bis sie es begreifen, ist auch die dritte Aufnahme den Bach runtergegangen. Bei der vierten funktioniert schließlich alles, doch plötzlich ändert sich mittendrin das Licht, und der schönste Sonnenschein bricht durch die Wolken. Wir stoppen die Aufnahme und warten auf ein Wölkchen. Zum Glück hat Gott ein Einsehen, und wir können die fünfte Einstellung zu Ende bringen, die als Sicherungsaufnahme dient.
Danach probt Theo die Sequenz mit der übrigen Familie, die vor dem Regen flieht. Nach zwei Probedurchgängen bricht er ab und schickt uns zum Strand nebenan, wo er uns eine Sanddüne hochlaufen und dahinter verschwinden lässt. Keiner hat verstanden, was er mit dieser Sequenz anfangen will. Ich auch nicht, da das Drehbuch keine solche Szene vorsieht. Ich will ihn schon fragen, aber es bleibt keine Zeit dafür, da die Sonne untergeht und wir zurück ins Hotel fahren.
Montag, 29. September 1997
Zu unserem Missvergnügen haben wir heute frei, aber da ist nichts zu machen. Die Sonne brennt auf die Felsen und bringt auch Theo zur Weißglut. Wäre das Wetter in meinen Ferien auf Kythnos genauso gewesen, hätte ich Sonne und Meer genießen können. Im August hingegen trieb ein verrückter Nordwind die Wolken so heftig vor sich her, dass an ruhige Stunden am Strand nicht zu denken war.
Während wir im Sonnenschein Kaffee trinken, frisst Theo seine Wut in sich hinein.
Donnerstag, 2. Oktober 1997
Die Ankunftsszene der Familie: Seit dem Morgen hat Theo auf der Grundlage des neuen Dialogs, den wir am Dienstagabend verfasst haben, mit den Proben begonnen. Das Eintreffen in der Villa ist rasch arrangiert, aber dann wird’s problematisch. Die Darsteller vergessen ihren Text und improvisieren – ein Lieblingssport von Schauspielern. Sie schaffen es einfach nicht, denselben Text zweimal hintereinander gleich zu sprechen. Zu allem Überfluss ist die Renauld ganz zittrig vor Unsicherheit, weil sie ringsum nur Griechisch hört, kein Wort versteht und nicht genau ausmachen kann, wann ihr Einsatz kommt. Ein Tohuwabohu. Irgendwann setzt sich Theo in einen Sessel und greift sich an den Kopf. Er wirft mir einen Blick zu. An seinen Augen kann ich erkennen, dass er drauf und dran ist, den guten alten Theo hervorzukehren und mit seinem Gebrüll alle in die Flucht zu schlagen.
Ich gehe zu ihm hin und klopfe ihm auf die Schulter. »Reg dich nicht auf, es wird schon«, starte ich einen Versuch, ihn zu beruhigen.
»Weißt du, was mich diese Verzögerung kostet?«
Was soll ich ihm darauf erwidern? Ich weiß es und sage nichts.
Eine allgemeine Nervosität greift um sich, die auch mich erfasst. Irgendwann sage ich zu Kouros, den ich eigentlich besonders mag: »Wenn du in deinem Text noch einmal Klytämnestra vergisst, werde ich zum Mörder wie Orest, damit das klar ist!«
Am Schluss ruft Theo uns alle in einem Zimmer der Villa zusammen und meint, wir sollten uns beruhigen und ausruhen. Bevor er geht, offeriert er uns sogar eine Flasche Wein, damit wir uns entspannen. Ratlos und genervt sitzen wir alle im Kreis. Da wirft die Renauld den Gedanken in die Runde, das Proben seinzulassen und mit dem Dreh zu beginnen, da uns ihrer Meinung nach die ewigen Proben zu sehr aufreiben.
Als wir Theo diesen Vorschlag zukommen lassen, geht er darauf ein – vielleicht, weil sich ein Ertrinkender an jeden Strohhalm klammert. Sowohl das Sprichwort als auch die Renauld behalten recht, da die Szene beim zweiten Anlauf gelingt. Doch zur Sicherheit dreht Theo das Ganze noch dreimal.
Freitag, 3. Oktober 1997
»Einsamkeit, du mein bitterster Freund« heißt es in einem alten Schlager. Entweder ist das schlicht und einfach falsch, oder die Schriftsteller sind nicht angesprochen. Denn hier – mitten in den lärmigen Dreharbeiten – sehne ich mich nach der Einsamkeit vor meinem Computer! Seit gestern Abend, als man uns mitgeteilt hat, dass wir wieder nach Oura- noupoli fahren würden, ist die Anspannung groß. Gerade als wir in höchster Eile unsere Koffer packten, hieß es plötzlich, die Abfahrt sei auf morgen früh, also heute, verschoben.
Um sieben Uhr morgens bläst man bei schönstem Sonnenschein zum Aufbruch. Für die Regenszene müssten so schnell wie möglich Wolken aufziehen, ein Ding der Unmöglichkeit. Wir schlagen vor, in Ierissos anzuhalten, uns in ein kleines Café zu setzen und erst zum Drehort Kakoudia zu fahren, wenn der Himmel zuzieht. Anfangs gewährt man uns die Pause. Doch als wir im Café Platz nehmen, scheucht man uns gleich wieder auf: »Nein, wir fahren nach Kakoudia.«
In Kakoudia liegt der golden glänzende Sandstrand vor uns, und wir müssen sogar die Sonnenschirme aufspannen. Kein einziges Wölkchen zeigt sich am Himmel. Der griechische Wetterdienst sieht erst nachmittags Bewölkung voraus, und jetzt haben wir erst halb elf. Man gibt uns Bescheid, wir sollen uns drehfertig ankleiden. Das ärgert mich, denn mir ist klar, dass es pure Schaumschlägerei ist. Man hat uns hierhergeschleppt, und jetzt treibt man uns zum Umkleiden an, nur um Theo Effektivität vorzutäuschen.
»Ich ziehe mich noch nicht um«, sage ich zu ihnen. »Erst wenn Wolken aufziehen. Das dauert bei mir nicht länger als zwei Minuten.«
Die Mitarbeiter merken, dass wir sie im Regen stehenlassen, aber nur sprichwörtlich, denn der Sonnenschein macht uns einen Strich durch die Rechnung. Daher beharren sie nicht weiter auf dem Ankleiden. Theo lässt mir durch Josefina ausrichten, dass er mich gern sehen möchte. Ich finde ihn in einem der beiden Militärzelte. Er sitzt auf glühenden Kohlen.
»Was wir bis jetzt gedreht haben, weicht vom Drehbuch ab, ist dir das klar?«, sagt er.
»Ja, aber nicht alles. Die Szene mit der Tischgesellschaft am Strand und die Villenszene sind so wie im Drehbuch, wenn man vom zusätzlichen Dialog absieht. Die Bootsszene ist völlig anders geraten, weil sie abbricht und mit dem Aufstieg zur Felsspitze weitergeht.«
»Richtig, auch die Szene an der Felsspitze ist gleich geblieben, nur die Möwen fehlen.«
Ich muss lachen, da ich mich an Katselis’ Bericht erinnere. Sie hatten drei Kisten Sardellen auf die wasserlose Insel mitgenommen, um die Möwen damit anzulocken, aber die blieben auf den Felsen hocken und blickten sie nur von oben herab an. Theo legte sich mit den Leuten von der Produktion an und machte ihnen heftige Vorwürfe, sie könnten nicht mal einen Schwarm Möwen aufscheuchen. Schließlich begannen die Sardellen in der Sonne zu stinken, und Theo drehte die Szene mit ein paar einzelnen Möwen. Erst als das Filmteam die Geräte eingepackt hatte und bereit zum Abmarsch war, erhob sich der Möwenschwarm von den Felsen und stürzte sich auf den stinkenden Fisch.
Ein Stück entfernt sind drei Löschzüge dabei, unter der Aufsicht von Produktionsleiter Charonitis den Regenguss zu proben, der zur Liebesszene führen soll. Da der Wetterbericht auch für morgen die Möglichkeit trüben Wetters voraussagt, hofft Theo, dann gleich auch diese Szene drehen zu können. Er steht unter Zeitdruck, da die Renauld nur bis zum achten des Monats bleiben kann.
Am Horizont taucht eine große Wolke auf, die nach zwei Stunden genau über unseren Köpfen angekommen ist. Wir machen uns zum Dreh bereit. Die Löschzüge legen mit prächtigster griechischer Effizienz los. Bis sie Stellung bezogen haben und die Filmkamera positioniert ist, hat sich die Wolke schon wieder von uns verabschiedet. So warten wir auf die nächste, die sich an den Fahrplan der Griechischen Fernbusgesellschaft hält und eine Stunde später eintrifft. Wir können nichts weiter tun, als mit himmelwärts gerichtetem Blick ihr langsames Nahen zu verfolgen, während wir Wetten darauf abschließen, wie lange sie wohl noch braucht, um genau über uns zu hängen.
Gegen vier Uhr ist sie endlich an Ort und Stelle. Die Pumpen werden angeworfen und die Feuerwehrspritzen bereitgemacht. Während wir loslaufen, werden wir mit Wasser bespritzt, als wären wir eine Propangasfabrik, die Feuer gefangen hat. Nach einer Probe finden drei Aufnahmen statt, und als wir fertig sind, sehen wir aus wie die schiffbrüchige Mannschaft eines griechischen Tankers, der auf hoher See vor Taiwan gesunken ist. Zu unserem Pech bricht genau dann ein heftiger Regenguss herein, als wir uns hinter ein paar Büschen schnell abtrocknen und umziehen wollen. Danach ist auch unsere trockene Wechselkleidung durchnässt.
»Hör mal«, sage ich zu Theo. »Bei der nächsten Regenszene garantierst du mir vorher schriftlich, dass ich nicht mitspielen muss. Erst dann arbeite ich wieder mit dir zusammen.«
Er prustet los. Seine gute Laune ist wiederge- kehrt, da er jetzt auch die Szene drehen kann, in der A. Anna im Regen sucht. Die Renauld sieht uns an und muss über unseren himmeltraurigen Anblick aus vollem Hals lachen.
Petros Markaris
Tagebuch einer Ewigkeit
Am Set mit Angelopoulos
Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger.
Mit einem Vorwort von Theo Angelopoulos
Diogenes, Zürich 2019
288 S., 16 S. Abb.
CHF 27. € 20.99 (D). € 20.99 (A)
ISBN 2019978-3-257-60952-3
Schauspielhaus Zürich: Miranda July. Oh my God! «Der erste fiese Typ».
Von Ingrid Isermann
Premiere! Am Pfauen tummelt sich ein illustres Völkchen mit einigen Paradiesvögeln vor dem Eingang des Schauspielhauses, man betritt das neu gestaltete Foyer zwischen zürcherischem Minimalismus, der sich auf der Bühne fortsetzt, und einem blinkenden Lichterkorsett an der Decke. Die neue Theatersaison ist da und mit ihr ein nigelnagelneues Ensemble. Da ist man natürlich gespannt, was die neuen Hausherren-Intendanten Benjamin von Blomberg (*1978, in Brüssel und Bonn aufgewachsen) und Nicolas Stemann (*1968 in Hamburg) zu bieten und zu sagen haben.
In der Limmatstadt ist man verwöhnt und anspruchsvoll, und es ist nicht leicht, die Herzen der Zürcher*innen zu erobern. Aber auch schön! Das Licht im Zuschauerraum geht aus und auf der Bühne, die ganz nah ans Publikum herangezogen wurde, etwas schräg, man setzt augenscheinlich auf Publikumsnähe, tummeln sich zwei flotte Turnerinnen (Maja Beckmann, Henni Jörissen) zum anheizenden Beat von Brandy Butler. Und wir werden gefragt, one family, wer kennt denn schon Miranda July, worauf sich viele Hände in die Höhe recken. So, das ist der Anfang, kurz erzählt, was die Autorin alles kann und macht, und die Ringerei, als weibliches Schwingen, zieht sich durch die ganze Bühnenpräsenz.
Präsenz ist das Stichwort! Denn der Aufmerksamkeitswert ist tückisch und sinkt überall. Da muss man am Ball bleiben. Zum Glück wird das Ganze durch gekonnte Videoeinschübe (Rebecca Meining) aufgelockert und natürlich durch die bombastisch guten Gesangseinlagen & Music (Brandy Butler). Mitunter ist der Verlauf etwas zähflüssig, die Dialoge sind seitwärts auch auf Englisch eingeblendet, das muss ich lesen, wie man das übersetzt, übersetzen ist ja auch so ein Stichwort und so wandert der Kopf hin und her. Und auch das hält lebendig. «Energie soll fliessen, unmittelbar und direkt, die alle und alles erreicht, berührt und verändert», so Nicolas Stemann. Auch gar nicht so leicht. Die Sache mit der Atmosphäre. Die Story ist etwas verworren, wie bei Miranda July üblich, nichts ist sicher, und der Wandel das einzig Beständige.
Die nach dem Erstlings-Roman von Miranda July «Der erste fiese Typ» von Christopher Rüping (*1985 in Hannover) inszenierte Zürich-Premiere am Pfauen, in der Dramaturgie von Benjamin von Blomberg, übrigens eine Übernahme der Münchner Kammerspiele, kommt beim Publikum gut an, es wird gelacht, ein gutes Zeichen und es gibt spontanen Szenenapplaus.
Cheryl Glickman (Maja Beckmann), alleinstehend, Anfang 40, hat Schluckbeschwerden, einen Kloss im Hals. Philip, ihr langjähriger Kollege, hat ihr zu einem Chromotherapeuten geraten, den sie auch aufsucht. Vielleicht steht der Kloss im Hals aber auch mit Philip, 64, in Zusammenhang, der ihr gesteht, eine 16-jährige zu lieben. Und dann zieht noch die flapsige Clee (Henni Jörissen), 20, bei Cheryl ein und bringt ihre Ordnung gehörig durcheinander. Erst hiess es, sie bleibt nur ein paar Tage, doch dann wird es zum Dauerzustand und die Reibereien nehmen kein Ende. Das Schauspiel-Ensemble ist total weiblich, kann also auf physische Männerkörper gut verzichten, und präsentiert sich in verschiedenen Rollenbildern.
Und auch die übliche und nicht einfache Männer- und Frauendynamik, die sich aus diesen ihren Geschichten ergibt, wird voll ausgeschöpft. Wie schwierig es ist, sich selbst zu sein, wird hier unmittelbar in Szene gesetzt. Das Schlussbouquet mit den fliegenden Frauen und dem Astronauten hat’s in sich. Und dafür gab’s auch einen kräftigen Schlussapplaus. Viel Glück dem neuen Ensemble in Zürich!
Miranda July
Der erste fiese Typ
Zürich-Premiere, Pfauen, 12. September 2019
Infos und weitere Veranstaltungen:
www.schauspielhaus.ch