FRONTPAGE

«Piraten?»

Von Hedi Wyss

Terroristen, Piraten nach somalischem Muster seien sie, sagt die russische Regierung. Mutige Oppositionelle, die sich unter Lebensgefahr für die Natur einsetzen, so sehen sie die vielen Menschen, die Greenpeace seit Jahren unterstützen. Nun, Terroristen sind ja, so zeigt es die Geschichte, die seit der Antike unzählige Attentate auf Leib und Leben verzeichnet, Menschen, die Tyrannenmorde begehen, sich in die Luft sprengen und auch unbeteiligte Zivilisten mit in den Tod nehmen. Vom Tyrannenmord an Tiberius Grachus, über den Mord an Marat durch Charlotte Corday, bis zum versuchten Attentat an Hitler 1944 durch Stauffenberg, waren oder sind solche Anschläge oft auch die offenbar letzte Möglichkeit, einen Missstand, eine Terrorherrschaft durch den Tod einer Schlüsselfigur zu beseitigen. Aber auch Anschläge auf Einrichtungen der Gewaltherrschaft werden aus diesem Grund verübt.

Gewaltloser Widerstand aber, wie sie Greenpeace seit ihrer Gründung 1971 anwendet, hat nichts mit Terrorismus zu tun, und kann, so zeigen die Erfolge dieser Organisation genau so eine Wende herbeibringen. Hier wird mit medienwirksamen Aktionen die Öffentlichkeit über Missstände informiert und auf Gefahren aufmerksam gemacht. Greenpeace führt so eine Tradition fort, die seit Mahatma Gandhi und Martin Luther King wichtige gesellschaftliche Veränderungen auslösten. Auch ihre Manifestationen wurden mit Gewalt beantwortet, von Regierungsseite die Protestmärsche der Bürgerrechtsbewegung in der USA, durch die Engländer gewaltlose Aktionen wie den Salzmarsch in Indien. Wenn man auch, wie in Indien die Führer solcher Bewegungen verhaftet hat; und in London die Frauen, die sich an die Geländer vor dem Sitz des britischen Premierministers ketteten, um ihr Recht auf Stimm- und Wahlrecht durchzusetzen; so zeigt die Geschichte, dass sie Vorreiter waren von Veränderungen, die später als Errungenschaften gewürdigt und nicht mehr in Frage gestellt werden. Vielerorts wurden Menschenrechte so mittels Streiks und gewaltlose Sit-ins durchgesetzt. Und werden heute wenigstens theoretisch in den meisten Ländern nicht mehr in Frage gestellt.
Greenpeace hat zu einer Zeit, da man das Thema Umweltzerstörung erst seit kurzem diskutierte, dies zu ihrem Thema gemacht. Dass die letzten Meeressäuger nicht total ausgerottet wurden, dass die Atomkraft grundsätzlich mit ihren Problemen in Frage gestellt wird, ist den Aktivitäten von Greenpeace zu verdanken. Auch diesmal hat Greenpeace auf eine neue Gefahr aufmerksam gemacht, als sie eine russische Ölplattform in der Arktis zu entern versuchte, um ein Banner anzubringen und damit auf die drohende Zerstörung eines der letzten intakten und besonders sensiblen Ökosysteme der Welt aufmerksam zu machen. Zwei Aktivisten wurden verhaftet, die «Arctic Sunrise», das Greenpeace Schiff, vom russischen Grenzschutz in internationalen Gewässern aufgebracht. Durch das weltweite Echo allerdings, das diese Verhaftung auslöste, ist jetzt wenigstens ein Ziel erreicht: die Öffentlichkeit hat weltweit von einem Problem Kenntnis nehmen können, das vorher noch wenig bekannt war. Denn nicht nur die Ausbeutung von Öl und anderen Bodenschätzen gefährdet die sensible Arktis. Nun läuft auch der Schiffsverkehr an, der ebenfalls eine Gefahr für das Ökosystem ist. Aber er wird als neueste Abkürzung für Transporte zwischen Ost und West begrüsst. In der Berichterstattung wird meist nur dies, der wirtschaftliche Aspekt gewertet, und zwar lediglich positiv.
Wirtschaftliche Überbelegungen führen in unserer Gesellschaft dazu, dass Umweltrisiken ignoriert werden, Menschenrechte verletzt, Zerstörung in Kauf genommen wird.

Aktienkurse steigen, wenn Syngenta Insektizide, die Bienen schädigen, in Massen verkauft, obschon heute überall bekannt ist, welche Risiken wir eingehen, wenn die natürliche Bestäubung durch sie und andere Insekten ausfällt.
Aktienkurse von Grosskonzernen steigen, wenn Textilien für Hungerlöhne unter Missachtung aller Sicherheitsmassnahmen in Drittwelt-Ländern produziert, und so grosse Gewinne gemacht werden. Die Wirtschaft, die um jeden Preis wachsen muss, ist der Massstab. Wirtschaft und Macht gehören zusammen, werden allem vorangestellt.

Weil die USA versucht, von den Ländern im nahen Osten, was Öl und Gas betrifft, nicht mehr abhängig zu sein, arbeitet sie nun darauf hin, die eigene Energieproduktion um jeden Preis zu steigern. «Fracking» heisst der neuste Trend und damit opfert man sogar die Gesundheit der eigenen Bevölkerung. Diese Methode der Gasförderung hat bis jetzt auch an der Ostküste der USA, in Pennsylvania, Grundwasser und damit auch das Trinkwasser vielerorts ungeniessbar und gesundheitsschädlich gemacht. Wachstum, Profit, überall ist es der Massstab. Das reicht von der Abholzung der Regenwälder für Palmöl, das nicht nur für Konsumprodukte, sondern immer mehr in grossen Mengen für Biosprit verwendet wird, bis zum Landgrabbing in Afrika durch die aufsteigenden Schwellenländer wie China, die der lokalen Bevölkerung und der Natur die letzten Ressourcen wegnehmen. Mit Gesetzen, ethischen Richtlinien versucht man zwar seit ein paar hundert Jahren in den verschiedensten Ländern – unter anderen auch in unserem Land – solche Auswüchse zu verhindern. Doch in Diktaturen, in Ländern wo Korruption und Ausbeutung die Regel ist, gibt es kein Gegenmittel. Und erst da nicht, wo internationale Konzerne heute international handeln können und mit ihrer Macht jeglicher lokaler Gesetzgebung spotten. Es gibt international keine Regulierungen, die die absolute Rücksichtslosigkeit gegenüber Menschen und Natur stoppen könnten.

Dass in diesem Umfeld, in dieser gesellschaftlicher Realität, wenigstens mit gewaltlosem Widerstand etwas erreicht werden kann, zeigen solche Aktionen, wie die von Greenpeace. Und je weniger die neuen Medien, Internet, Facebook etc. von Machthabern zensuriert werden können, werden sie sich ebenfalls zu einem Machtfaktor entwickeln. In kürzester Zeit können sie die Massen informieren und zum Protest animieren. Schon hat Greenpeace tausende von Menschen in ein paar Tagen dazu gebracht, mit ihrer Unterschrift im Internet gegen die Verhaftung der Greenpeace-Aktivisten bei der russischen Regierung zu protestieren. Solche Massenproteste zeigen oft Wirkung. Hoffen wir, dass dies in diesem Fall auch geschieht. Jedenfalls ist die Öffentlichkeit auf die Probleme in der Arktis aufmerksam geworden. Und vielleicht, das ist eine Hoffnung, wird, was heute unabwendbar und selbstverständlich scheint, nämlich die Zerstörung der natürlichen Schätze, einmal so geächtet werden wie heute Mord und Totschlag. Hoffentlich nicht erst dann, wenn es zu spät ist.
Widerstand ist Pflicht…wo Unrecht zu Recht wird… Das soll einst Bertold Brecht gesagt haben. Er meinte damit Widerstand im politischen Rahmen. Es könnte aber sein, dass heute Widerstand gegen unwiderrufliche Zerstörung der Natur zur Pflicht werden könnte.

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