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«Eugen Gomringer: poema»

Von Andreas Kohm

 

Vor 65 Jahren erschien Eugen Gomringers Gedicht «avenidas», eine der ersten Konstellationen, die eine wesentliche Grundform der Konkreten Poesie bilden. Unerwartet hat der Text jüngst für Zündstoff gesorgt und eine umstrittene Aktualität gewonnen – Anlass genug, das lyrische Werk des Begründers der Konkreten Poesie neu zu betrachten.

Sich mit einem künstlerischen Tausendsassa beschäftigen heisst, mindestens tausendundeine Facette zu entdecken, die einen insgesamt schillernden Eindruck vermitteln vom weit gestreuten Wirken im Denken und und Tun. Der inzwischen 93-jährige bolivianisch-schweizerische Autor Eugen Gomringer hat in seinem langen Leben auf vielen Feldern seine Herausforderungen gesucht und gefunden.

Nach dem Studium der Nationalökonomie und Kunstgeschichte in Bern und Rom, wo er auch bald journalistische Erfahrungen sammelt, findet er an der von Max Bill geleiteten Hochschule für Gestaltung in Ulm ein erstes Labor und ein praktisch wie theoretisch befruchtendes Umfeld. Als Sekretär von Bill trifft er dort auf Architekten, Grafiker, Designer, Maler, Kunsttheoretiker, Soziologen, Mathematiker, die sich in der Nachfolge des Bauhauses sahen, und nicht zuletzt Fragen der Produktgestaltung und der Visuellen Kommunikation sind von großem Einfluß auf Gomringers schrifstellerische Arbeiten. In den Folgejahren ist Gomringer verlegerisch tätig, leitet den Schweizerischen Werkbund, danach den Kulturbeirat der Rosenthal AG; er ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, lehrt von 1977-1990 als Professor für Theorie der Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf und gründet schließlich 2000 das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (IKKP) im oberfränkischen Rehau – um nur einige der zahlreichen Stationen zu nennen.

 

«Konstellationen / Constellations / Constellationes»

In der 1953 zusammen mit Dieter Roth und Marcel Wyss gegründeten Kunstzeitschrift «spirale» und in seinem im gleichen Jahr erschienenen Gedichtband «Konstellationen / Constellations / Constellationes» verwendet er erstmal den Begriff der «Konkreten Poesie». Damit schliesst er zugleich an eine lange Tradition bildnerisch gestalteter Texte an, die über Dadaismus und Futurismus, über Stéphane Mallarmé zurückreicht bis ins Barock, erweitert sie aber durch eine radikal-experimentelle Reduktion auf die Materialität von Sprache in Schrift und Schriftbild.

 

Paradox des Imaginären

Wenn der Schriftsteller Michael Lentz in seinem Aufsatz über das Gedicht «schweigen» von einer «internationale(n) Inkunabel der Poesie im Grenzbereich zwischen Text und Bild, Text als Bild und Bild als Text» spricht und dort gerade das ans Spirituelle hinreichende «Paradox» eines uneinholbaren «Imaginären» als Triebkraft der Gomringerschen Poetik und Ästhetik ausmacht, dann benennt er jenen Übergangsbereich, den Sprache zwar unablässig zu umkreisen versucht, jedoch nie final und definitiv zu fassen bekommt. Und es scheint dies kein Widerspruch, sondern gar die logische Transzendierung der «mathematischen Denkweise» Gomringers, die dieser im Kontext der modernen kapitalistischen Gesellschaft etwa als Werbetexter für die schweizerische Warenhauskette Au Bon Marché in praktische Dienstleistung übersetzt.

 

Wort-Phänomene

Bereits Walter Benjamin hatte den Begriff der Konstellation in seinen Arbeiten ästhetisch-theoretisch an zentralen Stellen, etwa seinem «Trauerspielbuch», seinem «Passagen-Werk» oder seinen geschichtsphilosophischen Thesen «Über den Begriff der Geschichte», verortet. Bei Eugen Gomringer klingt das deutlich ins Sachlich-Nüchterne heruntergekühlt, wenngleich es auch ihm um eine umfassende Erkenntnisweise der Wort-Phänomene geht. Er formuliert seinen Konstellationen-Begriff in «Vom Vers zur Konstellation. Zweck und Form einer neuen Dichtung» (1954): «die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfasst eine gruppe von worten – wie sie eine gruppe von sternen umfasst oder zum sternbild wird. In ihr sind zwei, drei oder mehr, neben- oder untereinander gesetzten worten – es werden nicht zu viele sein – eine gedankliche-stoffliche beziehung gegeben. und das ist alles!»

 

 

Im Licht eines solchen umfassenden Beziehungsinns greift nun der im Nimbus Verlag erschienene Band «poema» in überaus erhellender Weise die Vielfalt des poetischen und dichtungstheoretisch-essayistischen Werkes von Eugen Gomringer auf, indem er in schön gestalteter Form einige seiner berühmt gewordenen Gedichte und diese selbst reflektierende und einordnende Texte des Autors mit 23 Positionen von Freunden und Wegbegleitern zusammenstellt. Es finden sich andernorts bereits publizierte Beiträge neben hier erstmals veröffentlichen Originalbeiträgen: von Kurt Martis Einordnung (1956) der «KONSTELLATIONEN», zu Texten von Zsuzsanna Gahse, Peter von Matt, Walter Jens, Ingrid Isermann, Franz Hohler, Oskar Pastior, Nora Gomringer oder Ilma Rakusa, wissenschaftlich beleuchtenden von Annette Gilbert oder Marc E. Cory, oder bildbeschreibenden von Franz Mon und Marina von Assel.

 

Echoraum und Essays
«poema ist die spanische bezeichnung für dichtung und gedicht» und wie auch der gleichfalls «poema» benannte Raum im IKKP eröffnet das Buch mit seinen vielen Stimmen und Echos einen imaginären und höchst kreativen Gesprächs-Raum im Kontext der Gedichte. So wird der Begriff der Konkreten Poesie assoziativ nach vielen Seiten hin interpretierend und inspirierend geöffnet, gibt zu denken. In der kaleidoskopartigen Konstellation von Gedicht und «Kommentar» werden die Eigenheiten des Gomringerschen Werke aus autobiografischer, literarischer und philosophischer, literatur- und kunstwissenschaftlicher Sicht sowohl in historisch rückblickenden als auch hochaktuellen Kontexten transparent: Die jüngste und peinliche Debatte um das Gedicht «avenidas» macht deutlich, wie sehr sich im Laufe der Zeit die Sichtachsen und Denkweisen verschieben, wie sehr ideologische Starre und künstlerisch-freie Feier des Schönen kollidieren können. Aber auch wie sehr ein Gedicht seine dynamische Frische auf’s je Neue konkret werden lassen kann und damit in seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit und Anschaulichkeit, seiner Welthaltigkeit, seine eigentliche, seine physische, seine poetische «Tiefendimension» (von Matt) offenbart. «Poesie als Mittel zur Umweltgestaltung» (Gomringer) – latent ein Traum der Avantgarden – «und das ist alles!».

 

 

Eugen Gomringer

poema
Gedichte und Essays
Nimbus Verlag, Wädenswil 2018
212 Seiten, 29,80 Euro, 34 CHF

ISBN 978-3-03850-047-6

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