«Radioszene in medias res: Die Radio-Zürichberg-Story»
Von Ingrid Isermann
Es ist Punkt 07.00 Uhr, der 5. Dezember 1988. Langsam fährt das blau-weisse Züri-Tram aus dem Tramdepot am Escher Wyss-Platz durch die dunkeldämmmrige Vorstadt mitten in die geschäftige Zürcher City an die Bahnhofstrasse. Ausser dem Trampiloten und den zwei Kultur-Radiopionieren sind keine Passagiere an Bord. „Réveille matin, bonjour Zürich“!
Unterwegs erstaunte Gesichter, denn oben am Tram prangt das lilablau-weisse Signet: „Radio Zürichberg“. Das Radiotram hält an der Pestalozziwiese vor dem Globus, da sind sie, all die Medienleute, das Schweizer Fernsehen, Radios, Blitzlichter, Kameras, Mikrophone…
Als Auftakt präsentiert eine Jazz-Combo live vor dem Radio-Tram ihren fetzigen „Day and Taxi“-Song und den feurigen „The Zuriberg High Jump“, zur Begrüssung exklusiv komponiert vom Schotten Lindsay Cooper für Radio Zürichberg.
Wir stossen an, mit Champagner, die zwei Kultur-Radiopioniere, die dieses Tram in Bewegung gesetzt haben. Mitinitiant und Programmleiter Roman, 23 Jahre jung, Radiomoderator bei Radio Luxembourg, strahlt, wir werden befragt, was das Radio in der Zürcher Medienlandschaft soll. Wie, was, wo, Gesprächskultur?
Herzklopfen, wo ist das Mikrophon, wir intonieren zusammen live in den grauen Dezembermorgen: „Réveille matin, bonjour Zürich“, der morgendliche Weckruf für Zürich und eine Reverenz an die französische Schweiz, um den anderssprachigen Landesteil der Schweiz einmal sichtbar und hörbar zu machen, vom Nebeneinander zum Miteinander.
Ein Radio in einem fahrenden Sendetram, von der Zürcher Bahnhofstrasse zum Opernhaus und von da zum Zoo: «Hallo»! Das gab’s noch nie. Die VBZ, die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich, und die Ascom als technischer Support haben ein Züri-Tram zum Radio-Sendetram umgebaut. Die Sendeanlage befindet sich auf dem Dach des Hotels Rigiblick am Zürichberg. Kein so guter Sendeempfang wie vom Uetliberg, es rauscht und knarzt, aber die Stimme kommt durch und über den Äther: „Hier ist Radio Zürichberg auf 101,3 Megaherz!“.
Auf Sendung!
Wir sind auf Sendung! Am nächsten Tag erscheinen zahlreiche Presseartikel über den geglückten Start des Radio-Kurzversuches in der ganzen Schweiz. Und wir werden zitiert: „Radio Zürichberg ist eine Liebeserklärung an Zürich“.
Die Platzhirsche auf dem privaten Zürcher Radiomarkt, Radio 24 und Radio Z, erwähnen unseren Kurzversuch nur in einem knappen Kommentar.
Ein kleines Wunder ist geschehen! Der Pilotversuch vom 5. bis 11. Dezember 1988, 24 Stunden live aus einem Radiotram, bewilligt vom EVED, Bern (UVEK) findet statt: Ein neues Radio, das verschiedene Gesellschaftsschichten anspricht: Junge, Jüngste und Ältere. Das auch eine Brücke baut zur welschen Schweiz: „Réveille matin – bonjour Zürich“, von 06.00 bis 0.30 Uhr, anschliessend „couleur 3“. Ein Radio, das erstmals das französischsprachige Radio-Nachtprogramm von Radio Suisse Romande aus Lausanne in der Deutschschweiz überträgt.
Ein Radio, das keine Berührungsängste vor Kunst und Kultur hat, vor hochdeutschen Wortbeiträgen, vor brisanten Gender- und Gesellschaftsdiskussionen. Und das illustre Gäste im Sendestudio begrüsst.
Ein Radio, das sich eine breite Musikauswahl von Jazz, Blues, Rock, Pop, House, HipHop bis zu Swing und Klassik auf die Fahnen geschrieben hat. Ein Radio auch für Kids, die mit dem „Elephantophon“ selbst ans Mikrophon dürfen.
Etwa fünfzig freie Berufsjournis hatten sich um uns geschart. Der im Dezember 1987 gegründete und im Handelregister Kanton Zürich eingetragene «Verein Radio Zürichberg» mit namhaften Mitgliedern aus der Kulturszene und den zwei Professoren Armin Bollinger und Iso Camartin gaben uns Rückhalt.
Wie kam es zu Radio Zürichberg?
Da die Initiantin und Chefredaktorin am Höhenweg am Zürichberg wohnte, hiess das Radio folgerichtig „Radio Zürichberg“. Was sich nach High Society anhörte und eher skeptisch aufgenommen wurde, war die Wohnung einer 45-jährigen freiberuflichen Kulturjournalistin mit zwei schulpflichtigen Kindern. Am Küchentisch am Zürcher Sonnenberg war es entstanden, das Radio-Pilotprojekt. Wir diskutierten und phantasierten begeistert über die Radio-Idee, bis sie Formen annahm, konkreter wurde und letztlich zwingend im Raum stand, dass Radio Zürichberg zum Leben erweckt werden muss und dass Zürich ein privates Kultur-Radio braucht.
Gerade weil wir spielerisch an die Sache herangingen, wurden die Konturen immer schärfer. Mehr und mehr stellten wir fest, was wir in einem Zürcher Lokalradio vermissten, denn nur mit Musikwünschen, Radiogames und dauervergnügter Moderation bedient zu werden, oft genug in flapsigem Züri-Släng mit ausschliesslich lokaler Nabelschau, war uns nicht genug.
EVED-Direktor Armin Walpen (später SRG-Direktor) liess uns in Bern vorsprechen und die Berechtigung eines neuen Radios abklären. Im Interesse der Medienvielfalt regional zur Meinungsbildung über aktuelle Fragen des Zusammenlebens beitragen? Förderung der Gesprächskultur und der Meinungsvielfalt, das tönt ja ganz gut, aber wie umsetzen? Geht denn das? Bis jetzt gab es noch keine Lokalradios mit Wortkultur und anderem Musikteppich als Mainstream. Abends um 22 Uhr planten wir Lesungen in der „bôite littéraire“, wie über Karel Capek oder Russische Dichterinnen mit der Schauspielerin Maria Becker, die hocherfreut mitmachte, oder einen Beitrag über den Briefverkehr in schwierigen Zeiten zwischen „Dr. Schiwago“ Boris Pasternak, Marina Zwetajewa und Rainer Maria Rilke, gelesen von Peter Schweiger, Graziella Rossi und René-Ander Huber, inszeniert von der Dramaturgin des Schauspielhauses Zürich, Milena Wahlen aus Prag. Oder über die Philosophie des libanesischen Poeten Khalil Gibran. Wir strebten eine breite Vielfalt an, mit interessanten Themen zur Zeitgeschichte und aktuellen Diskursen.
Sendelizenz?
Der grösste Brocken war die Sendelizenz. Die Korrespondenz, die zwischen Bern und Zürich hin und her ging, Bern davon zu überzeugen, dass ein Kultur-Lokalradio in Zürich fehlte, füllte einen Ordner. Die etwas gemächlichen Behörden in Bern in Bewegung zu bringen, war schon etwas. Und langsam liefen auch wir zur Hochform auf.
Anfangs Juni 1988 hatte der Verein Radio Zürichberg beim Eidgenössisches Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (EVED), Bern (heute UVEK), ein Konzessionsgesuch für eine Kurzveranstaltung eingereicht, das Mitte Juni in die Vernehmlassung gegangen war und gemäss der RVO (Radioversuchsordnung) den interessierten Organisationen und dem Kanton Zürich zur gesetzlichen Anhörung unterbreitet wurde.
Da es keinen Einspruch gab, erteilte das EVED bereits am 10. August 1988 die ersehnte Versuchserlaubnis an den Verein Radio Zürichberg. Unser Mut wurde belohnt!
Die Radioszene war in Aufruhr, als wir die Sendelizenz aus Bern vom EVED erhielten. Der Kurzversuch im Dezember sollte unter dem Motto stehen: „Zürich als Nachbar – Nachbarn in Zürich“.
Domenic Geissbühler, preisgekrönter Grafiker des Opernhauses Zürich, entwarf das unverwechselbare prägnante lilablau-weisse Buchstaben-Signet, die Briefbögen, Kleber und Zündholzschachteln – Feuer und Flamme für Radio Zürichberg! Radio Zürichberg bekam ein Gesicht.
Nach der Medien-Ankündigung des Pilotprojektes vom 5.-11. Dezember 1988 kamen die Ereignisse ins Rollen. Die Presse meldete sich, machte auf unseren Radioversuch aus einem Sendetram aufmerksam, man war neugierig auf uns geworden.
Radio-Kultur, das war bis anhin nur Schweizer Radio DRS vorbehalten
Konkurrenz für Lokalradios, auch für Radio DRS (heute SRF)? Keinesfalls, diese Konkurrenz freute sich! Radiomacher François Mürner und sein Team vom DRS 3 gratulierten als erste und gute Kollegen. Und Radio DRS 1 sorgte auch prompt für die Übernahme von täglichen DRS-Nachrichten für Radio Zürichberg.
Doch statt eines Kurzversuches hätte es beinahe ein Fiasko und Konkursverfahren noch vor Sendebeginn für die Initianten gegeben, die ausser Spesen, aufgelaufenen Personal- und Technikkosten und ihren Träumen nichts vorzuweisen gehabt hätten. Ein gütiger Medienschutzengel liess es jedoch nicht soweit kommen.
Einige Monate zuvor wurde Radio-Tele, die Werbefirma für Radiospots, vertraglich beauftragt, Werbespots hereinzuholen. Nach zögerlichem Anfang machten viele Geschäfte in der Umgebung mit, Werbe-Jingles zu produzieren.
Nun informierte uns Radio-Tele hiobsmässig einige Wochen vor Sendebeginn, dass alle gebuchten Werbespots gestrichen worden waren.
Wie bitte, und von wem?
Die zwei Mainstationen Radio 24 und Radio Z in Zürich hatten gedroht, ihre Verträge an Radio-Tele sofort zurückzuziehen, wenn wir da mitmachten. No deal, no way! Rechtens oder nicht, unsere Konkurrenten wollten uns stoppen und verdrängen. Aufgeben kam aber nicht (mehr) in Frage. Jetzt erst recht! Wir waren schon mit anderen Dingen konfrontiert und fertig geworden.
Nur schon zu jener Zeit die Sendelizenz vom EVED, Bern, zu erhalten, war ein hartes Stück Arbeit. Wie uns zu Ohren kam, hatte das grösste Lokalradio Zürichs, Radio 24, telefonisch in Bern interveniert, gebt denen bloss keine Lizenz, von wegen der Markt in der Schweiz sei zu klein, es gäbe ein «Marktgedrängel»!
Sponsoren gesucht!
Wir brauchten Sponsoren, dringend und bald.
Jules Kyburz, damaliger Boss des Migros-Genossenschaftsbundes im Limmathochhaus im obersten Stock, hob auf unsere persönliche Anfrage nur erstaunt die Augenbrauen: „Was soll denn das, ein neues Radio? Wir haben schon genug Lokalradios!“.
Er unterstützte Radio Z, wie er sagte.
Dessen Programmleiter, Hanspeter Meng, hatte auch bereits vorgewarnt: “Ich will ja Ihre Blütenträume nicht zerstören, aber für ein neues Radio ist hier überhaupt kein Platz. Der Markt ist viel zu klein!“. Die Nummer 2 der Zürcher Lokalradioszene fuhr jahrelang Verluste ein.
(Radio Z wurde später von der europäischen Radiogruppe Energy übernommen. Radio 24 wurde von Roger Schawinski an Tamedia verkauft).
Auch das Sendetram fuhr nicht gratis. Für eine Woche Trambetrieb verlangten die VBZ exorbitante 60’000 Franken, die wir dann auf 44’000 Franken herunterhandeln konnten.
Goodness gracious me, meine Güte, ein Kurzversuch ist doch kein reguläres Radio! Mit Zahlen in derart astronomischer Höhe hatten wir kaum rechnen können.
Die Mannen von der VBZ luden uns nach Altstetten in ihr VBZ-Sitzungszimmer ein. Fünf oder sechs ernste, bärtige Männerköpfe, die den jungen Kollegen und mich beäugten, beugten sich stirnrunzelnd über den grossen ovalen Tisch. Das Wort wurde, wenn es um technische Kompetenzen ging, die man(n) im Allgemeinen Frauen nicht zutraut, nur an Roman gerichtet. Man nimmt es zur Kenntnis und macht sich lächelnd seine Notizen.
Eine Variante des Kurzversuchs aus geschlossenen Senderäumen hatten wir verworfen. Schliesslich wollten wir nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden.
Nachdem wir die Sendelizenz von Bern erhalten hatten, kam der „Tages-Anzeiger“, Zürich auf uns zu und wollte mehr wissen. Als der Artikel erschien, klingelte schon das Telefon, am Apparat war Gerhart Isler, Verleger der „Finanz und Wirtschaft“.
„Kommt doch mal bei mir vorbei“, meinte Herr Isler, „damit wir über die Radiosache reden können. Euer Programm gefällt mir, wir sind sehr interessiert, mitzumachen“.
Gerhart Isler, sehr nett, sehr eloquent, sehr interessiert, Herausgeber einer renommierten Wirtschaftszeitung, wollte ein Radio, um seine Börsennachrichten aus aller Welt täglich durchzugeben und damit auch die Auflage seiner Zeitung steigern zu können. Börsennews aus Hongkong, Tokio, New York, London, Frankfurt und Zürich, europäisch und international, brandneu, alles aus erster Hand. Das liess sich doch hören. Einen potenten Sponsoren konnten wir jetzt wirklich brauchen. Und so stapften wir in sein Büro.
Wir kamen ins Gespräch und ins Geschäft. Der Rest ist Geschichte.
Die „Finanz und Wirtschaft“ wollte vertraglich als exklusiver Sponsor genannt werden und übernahm die Radioversuchskosten, die mit Sendetram, Technik, administrativen- und Lohnkosten auf etwa 150’000 Franken zu stehen kamen. Dafür berichtete die Finanz und Wirtschaft in der Sendewoche mehrmals täglich exklusiv mit kompetenten Korrespondenten von allen wichtigen Börsenplätzen der Welt. Das war bisher einmalig in einem Schweizer Lokalradio.
Die „Finanz und Wirtschaft“ machte erste Schritte mit uns in eine neue Berufsgattung. Das hätte der Beginn einer langen wunderbaren Freundschaft und Zusammenarbeit werden können. Allein, Phantasie und unkonventionelle Einfälle wollten wir uns nicht nehmen lassen, Börse hin oder her. Nebst den schönen Künsten sollten auch Minderheitsprobleme beleuchtet werden, gesellschaftliche Integrationsherausforderungen diskutiert, Spannungen zwischen politischen Blöcken untersucht und kommentiert werden.
Mit der „Finanz und Wirtschaft“ waren wir uns einig, die latente Abwehr gegen das Schrift- oder Hochdeutsche war letztlich ein Eigengoal, weshalb wir auch auf hochdeutsche Wortbeiträge setzten. Denn eine Sprache, die man nicht spricht, kann man nicht mögen, geschweige denn lieben.
Lyric Night & 100 Gäste bei Radio Zürichberg
Etwa hundert bekannte und unbekannte Persönlichkeiten aus der Kultur-, Wissenschafts-, Politik- und Kunstszene Zürichs waren in einer Woche bei Radio Zürichberg im Sendetram zu Gast. Den Segen zum kulturellen Kurzversuch hatte uns auch Stadtpräsident Thomas Wagner ausgesprochen.
Jeden Abend fanden im Forum Turicum aktuelle Gesprächsrunden statt: Forum für die Frau mit der Philosophin Carola Meier-Seethaler, Forum für den Mann, Medien-Box mit dem Dozenten der Uni Zürich des Publizistischen Seminars, Michael Schanne, über die Entwicklung des Journalismus, Forum für Tanz und Theater, Forum Astro-Star im Hotel Eden, Gespräche mit Verlagen, Musikern und Kulturschaffenden.
Ballettdirektor Uwe Scholz hatte nur ein paar Schritte vom Opernhaus zu unserem Sendetram. Eine halbe Stunde lang gab der scheue Ballettchef Auskunft. Was liebte er an Zürich? „Den See, meine Katze und Schallplatten von Elisabeth Schwarzkopf“. Nach Zürich, wo Uwe Scholz 1985 mit 26 Jahren als jüngster europäischer Ballettchef engagiert wurde, wurde er 1991 Direktor der Oper Leipzig, 1993 Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. 2004 ist Uwe Scholz im Alter von nur 46 Jahren verstorben.
Peter Striebeck, als „Onkel Wanja“ im Zürcher Schauspielhaus engagiert, erzählte eine Stunde lang in unserem Sendetram von Theatern, Schauspielern und seiner misslungenen Direktionszeit am Hamburger Thalia-Theater: „Ich bin Schauspieler, kein Intendant“. Es brauchte keine Fangfragen, er begab sich von selbst aufs Glatteis, so man auch zuhören konnte.
Das Interview der Kulturjournalistin Sonja Augustin mit Benno Besson, berühmter Schweizer Brecht-Schüler in Ost-Berlin, über seine Inszenierung am Schauspielhaus Zürich „Mann bleibt Mann“ von Bertolt Brecht ging grad über den Äther. Es kamen laufend Personen ins Radio-Tram, die sich interessierten, die sich unterhalten wollten, die hineinschauten, staunten, gratulierten oder Blumen vorbeibrachten wie Ruth Binde, während die neuesten Börsennews aus Hongkong oder Tokio live einfuhren.
Auf besonderes Interesse stiess namentlich auch die «Lyric Night», wo Poetinnen und Poeten live ihre Gedichte am laufenden Band die ganze Nacht vorlasen und die Schweizer Wirtschaftsmetropole mit Poesie erfüllten.
Die NZZ veröffentlichte das Programm von Radio Zürichberg, wie auch die „Finanz und Wirtschaft“, die uns ihren Leser*innen vorstellte.
Junge Journalisten, wie u.a. Iwan Lieberherr (heute Wirtschaftsredaktor Radio SRF1), Luzi Bernet (heute Chefredaktor der NZZ am Sonntag), Eric Facon, Reto Baer (freie Musik- und Filmjournalisten), machten neben bewährten Journalisten wie Marie-Thérèse Larcher (Vorstand Verein Radio Zürichberg) und Hans Uli von Erlach ihre ersten Schritte in der Journalisten- und Radiowelt. Etwa fünfzig Journalistinnen und Journalisten stellten mit kleinem Honorar den Kurzversuch Radio-Zürichberg im Sendetram sicher.
Nach dem erfolgreichen 1. Kurzversuch im Dezember 1988 wollte die Finanz und Wirtschaft nach mündlicher Zusage mit Radio Zürichberg 1989 einen 2. Kurzversuch starten. Das grosse Echo in der Presse im ganzen Land war mehrheitlich positiv, wenngleich die mässige Empfangsqualität vom Rigiblick die Euphorie dämpfte.
So baute Verleger Gerhart Isler in seinem Bürogebäude an der Weberstrasse im Dachstock schon mal ein Sendestudio ein, ohne Baugenehmigung, die damalige Baudirektorin Ursula Koch wusste von nichts.
Während einer Besprechung mit Gerhart Isler eilte behende sein Chefredaktor Peter Bohnenblust herein und flüsterte ihm ins Ohr: „Werner K. Rey hat Bally gekauft!“. Da hätte die Finanz und Wirtschaft wohl mit einer Investition in ein Radio keine schlechte Figur gemacht.
Kein 2. Kurzversuch mit der FuW!
Doch anfangs Februar 1989 hiess es plötzlich, kein 2. Kurzversuch, wir machen selbst einen Kurzversuch und wollen ein eigenes Finanz- und Wirtschaft-Radio mit Wirtschafts- und Börsenberichten! Über Nacht waren wir zum Vehikel für die ehrgeizigen Pläne der FuW geworden. Schnell meldete sich ein Reporter von Radio DRS 1: „Wie geht es Ihnen jetzt? Fühlen Sie sich nicht von der „Finanz und Wirtschaft“ hintergangen, dass die plötzlich ein eigenes Radio wollen? Werden Sie jetzt eine Klage einreichen?“. Und sofort war es in den Nachrichten. Nein, eine Klage wollten wir nicht, obwohl eine mündliche Zusage für den 2. Kurzversuch juristisch als bindender Vertrag galt. Reisende soll man nicht aufhalten, an eine Zusammenarbeit war nach dem Wortbruch ohnehin nicht mehr zu denken.
An der Schraube gedreht hatten sicherlich manche, die sich mit einer Frau als Chefin schwer taten. Aber wie schon das Sprichwort sagt, allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann. Frauen kommunizieren anscheinend nicht über die gleichen Chiffres und Codes wie Männer. Oder man(n) ist es nicht gewohnt.
Natürlich lief manches chaotisch ab, in dieser Woche, wenn derart viele Sendungen in einem Tram unter Dach und Fach zu bringen sind. Es haperte an der Routine, Live-Sendungen stellen, unter ständigem Zeitdruck, besondere Ansprüche. Wir waren nicht perfekt. Auch die Technik war es nicht. Wie es so heisst, nobody is perfect!
Dennoch war dieser Kurzversuch ein vielversprechender Auftakt und Anfang. Die VBZ hatten letztlich ein Einsehen und reduzierten ihren Kostenanteil um 16’600 Franken auf 27’400 Franken (statt 44’000). Für eine Woche Trambetrieb.
Auch Gerhart Isler fand versöhnliche Worte zum Abschied. Er meinte, wir würden uns bei aller Sympathie bei einer Zusammenarbeit nur gegenseitig wehtun, mit den verschiedenen Zielvorstellungen und gesellschaftlichen Perspektiven. So kann man es auch sehen – zu kritisch, zu unbequem, zu weiblich?
Ob Männer von Frauen lernen (wollen) oder beide voneinander etwas lernen (können/wollen), ist bis heute eine Kernfrage, wie Genderstudies zeigen.
Der „Finanz und Wirtschaft“-Kurzversuch 1989 fiel bei der Presse durch: „Musik zum Bumsen für die Börse“, titelte gnadenlos der „Tages-Anzeiger“. Auch einem zweiten Versuch der Wirtschaftszeitung war kein Erfolg beschieden. Keine Sendelizenz in Sicht. Somit hatte sich die launige Investition in Radio Zürichberg, mit dem die Finanz und Wirtschaft erste Radioschritte vom Print- zum elektronischen Medium machte, ausser viel Publicity nicht so ausgezahlt, wie man es sich wohl vorgestellt hatte. Die Gönnerlaune wich später wehleidiger Enttäuschung („Wir sassen im falschen Tram“). Dennoch bot der Kurzversuch für die Wirtschafts- und Handelszeitung FuW eine landesweite, flächendeckende Werbeaktion.
Gerhart Isler trat Ende 2004 als Verleger der „Finanz und Wirtschaft“ zurück. Im Mai 2004 trat Martin Kall, Vorsitzender der Unternehmensleitung Tamedia, an die das Wirtschaftblatt FuW zuvor verkauft worden war, in den Verwaltungsrat der Verlag „Finanz und Wirtschaft“ AG ein. Am 1. Januar 2005 übernahm Martin Kall von Gerhart Isler auch das Präsidium des Verwaltungsrates.
Der Run auf neue Frequenzen
Der Run auf die wenigen neuen Frequenzen vom EVED, Bern, begann. Weder die „Finanz und Wirtschaft“ noch das spätere „Radio Opus“ bekamen eine Sendelizenz, nur das klitzekleine „Radio Tropic“ erhielt 1989 eine Lizenz, sozusagen als aufmunternder Bonus für ein Nicht-Mainstream-Radio: ein Ein-Mann-Betrieb mit Gratisarbeitenden und Reggae-Musik aus der Karibik mit etwa 0.1 Prozent Marktanteil.
(Das Miniradio wurde später von einem bekannten Medienmacher aufgekauft, der die Lizenz für ein marktorientiertes Radio mit Namen „Radio 1“ beantragte und erklärte, Mainstream und Duzis gehe ihm nun auf den Geist. Zwar gab es das Radio 1 als Sender schon in Berlin, doch mache er mit dem neuen „Radio 1 ein Radio nur für Erwachsene, mit den besten Songs aller Zeiten“. Es tönte zwar ähnlich wie Radio 24, doch von Marktgedrängel war nicht mehr die Rede.
Der umtriebige Radiopionier, der vom italienischen Pizzo Groppera 1979 dem behäbig-federalen Beromünster Konkurrenz gemacht hatte und mit „Radio 24“ mittels Pop und Rock eine junge Hörerschaft ansprach, fand hier seit 2008 ein neues Wirkungsfeld, nach seiner Schawinski-Methode).
Und die Story sprich Sponsorensuche ging seinerzeit nach der „Finanz und Wirtschaft“ auch weiter. Die damalige „Weltwoche“ an der Edenstrasse wollte uns ihre Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung stellen. Chapeau! Auch der „Tages-Anzeiger“ unter Heinrich Hächler begehrte ein eigenes Radio und streckte die Fühler zu uns aus. 100’000 Franken wollte sich Hächler die exklusive Beteiligung am 2. Kurzversuch Radio Zürichberg kosten lassen. Doch es stand unter keinem guten Stern. Als ich im Mai 1989 von einer familiär bedingten Reise aus Hamburg zurückkehrte, erfuhr ich nach meiner Rückkehr in Zürich, dass Hächler abgesprungen war. Und so blieb der Verdacht, dass man aus fadenscheinigen Gründen die Beteiligung aufkündigte und kleinlaut einem Radio-Abenteuer aus dem Wege gehen wollte.
Eine Anekdote zum Schluss: „Wie chömed Sie dazue, es Radio welle z’mache“?
Nach unserem Radio-Kurzversuch trumpfte ein anderer Radiomacher namens Roger Schawinski auf, mit dem Kurzversuch „Klassikradio Opus“ Ende 1989. Mit grosser Kelle angerührt, wurde jetzt Kultur mit Klassik-Musik dem üblichen Mainstream-Radiosound nachgeliefert. Doch das Radio Opus sendete nicht „on air“, es war nur per Kabel zu empfangen, das hörten zu wenige, als dass sich die teuren Investitionen auf Dauer rechnen würden. Eine neue Lizenz wollte Bern in diesem Mediensalat nicht erteilen.
So griff ich zum Hörer und rief in Uitikon an, dort war der Radiomann hinter dem Uetliberg zuhause. Ans Telefon kam seine damalige Frau, im Hintergrund lärmten Kinder, sehr lange ging es, bis der Hausherr an den Apparat kam. Ich fragte, ob wir nicht gemeinsam die Lizenz betreiben wollten. Opus-Radio mit Radio Zürichberg, das würde sich gut ergänzen. Eine Sendelizenz konnten wir bieten. Und finanziell gab es zwar bei uns, aber auf der anderen Seite keine Probleme.
Er blaffte mürrisch zurück:
“Wie chömed Sie überhaupt dazue, es Radio welle z’mache? Wieso Sie?“.
Und nein, Radio mache er nur mit seinen alten Freunden und Kollegen, den Männern vom Pizzo Groppera, schon gar nicht mit Leuten und Frauen, die er nicht kenne. Schluss und aufgehängt.
Opus bekam trotz Sturm und tausend Unterschriften des Radiomachers aufs EVED keine Sendelizenz und war auch bald Geschichte. (Der Radiomann wandte sich dem Fernsehen zu und produzierte selbst eigene Sendungen auf TeleZüri und Tele24. Diesmal aber mit zwei Frauen! als Moderatorinnen und plötzlich vielen, vielen, bunten Promis: „Persona“ hiess die Sendung, die er 1989 ans Schweizer Fernsehen verkaufte und die dort ausgestrahlt wurde.
PS. Aus dem Notizheft: An einem festlichen Apéro am 11. Dezember 1989 zum 60. Geburtstag von Hugo Loetscher, veranstaltet von seinem Hausverlag Diogenes im stilvollen Zunfthaus zur Meisen, traf ich neben Niklaus Meienberg unter anderen auch auf den überraschten Radiomacher und drückte ihm eine Zündholzschachtel mit Radio Zürichberg-Signet in die Hand, für alle Fälle… ).
Medienvielfalt? Meinungsfreiheit?
Ende 1989 gaben wir bekannt, dass Radio Zürichberg keine weiteren Kurzversuche plane. Der Verein Radio Zürichberg wurde aufgelöst. Lieber kein Radio als ein Radio mehr, das gleich tönt wie alle anderen.
Und die Moral von der Geschicht’: Money makes the world go round, am Gelde hängt doch letztlich alles. Nicht nur. Nicht allein. Wir taten’s aus Spass an der Freud’, mit Herzblut und Überzeugung, dass es im Lokalradiobereich ein ernsthaftes privates Kultur-Lokalradio braucht. Und auch mit ein wenig Wehmut, dass wir die Zürcher Radioszene nicht länger mit Kultur bereichern konnten. So verrückt und liebenswert die Idee am Anfang auch zu sein schien, so hatten wir sie doch realisieren können und demonstriert, dass mit einem Lokalradio auch Kultur vermittelt werden kann.
What a difference a week made…
Und was hat er nun gebracht, der Kurzversuch Radio Zürichberg?
Allein, dass es möglich war, ein anderes Radio zu machen, zu gestalten, kulturelle Werte und Massstäbe aufzuzeigen, machte Sinn und brachte viele zum Staunen. Es geht, wenn man will, wie so vieles im Leben, auch anders. In den heutigen Corona-Zeiten haben wir diese Lektion gelernt.
Ohne die grosszügige Unterstützung der VBZ, der Ascom und des Sponsors Finanz und Wirtschaft wäre das Radio-Experiment nicht möglich gewesen. Ein grosser Dank gebührte daher ihnen, wie auch all jenen, die mit Enthusiasmus und Engagement an dem Radio-Kurzversuch mitgearbeitet hatten.
Die Lokalradioszene Zürich wusste Neues von Radio Zürichberg später durchaus zu nutzen: Mundart aus der ganzen Deutschschweiz statt exklusiv aus Zürich, mit Integration verschiedenster Dialekte, wie des Berner, Basler, St. Galler oder Thurgauer Dialekts, Kochrezepte von Sterne-Köchen, astrologische Beratungen und anderes mehr. Nur Literatur, Lesungen, hochdeutsche Wort- und Kulturbeiträge galten als No-Go und sind bis heute in privaten Schweizer Lokalradios nicht zu hören.
Nicht nur Sprache, Codes und Chiffres verändern sich im Laufe der Zeit, auch an den Stimmen lässt sich der Zeitgeist ablesen. Manche Stimmen schleppen ein ganzes Tonstudio mit sich herum, andere wirken wie aus der Zeit gefallen. Die Stimme ist die ID einer Person. Und Stimmen können auch entlarvend sein.
Und nicht zuletzt sollte die Wertschätzung für Radio Zürichberg im Rückblick daran erinnern, dass dieses Kultur-Radio zweifellos eine Lizenz bekommen hätte und auf Sendung gegangen wäre, wenn, ja wenn finanzkräftige Geldgeber dagewesen wären, so wurde es uns vom EVED signalisiert. Zu dem ausführlichen Dossier mit Tonbändern von allen Sendungen, welches wir vorschriftsmässig eingereicht hatten, hiess es vom EVED, sozusagen amtlich beglaubigt, eine so ausgezeichnete Dokumentation habe man in Bern noch nicht gesehen. Damit hatten wir schon vieles im Sack. René Zeller von der NZZ schrieb, man sehe dem zweiten Kurzversuch mit Interesse entgegen.
Noch etwas, die Verleger sind auch nicht so, wie sie scheinen, mutig und innovationsfreudig, wie sie sich gerne geben. In manchem sind sie eben genau so kleinlich wie der Rest von uns, wankelmütig, ängstlich, launisch.
Nichts Neues in der Medienlandschaft ausser Gratiszeitungen? Die heutigen Medienabenteuer beschränken sich auf Übernahmen eingeführter „Produkte“, die man problemlos übernehmen und/oder als Konkurrenten abschreiben kann. 2020 sind von vier führenden Medienstellen drei von Männern besetzt. Die Gleichstellung lässt auch hier auf sich warten… In der Lokalradioszene hat sich bis heute nicht viel verändert, es läuft wie gewohnt nach dem alten Schema.
Apropos, der 2. Kurzversuch Radio Zürichberg hätte 1989 unter dem Motto „Die Schweiz in Europa – Europa in der Schweiz“ gestanden, ausgestrahlt vom Uetliberg mit einem Rundstrahler von 100 Watt Sendestärke. 1989 war das Jahr des Mauerfalls in Berlin und der Beginn der historischen deutschen Wiedervereinigung.
Sprachenvielfalt und gesellschaftliche Minderheiten fanden bei Radio Zürichberg stets Gehör, nicht zuletzt als Prävention gegen antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Haltungen, wie sie später auch im «Blick» in der Headline «Wieviel Deutsche verträgt die Schweiz?» zum Ausdruck kamen. Ein Gegengewicht auch gegen die Auswirkungen der 1970 von Nationalrat James Schwarzenbach initiierten (mit 54 Prozent abgelehnten) «Überfremdungsinitiative», die bis in die heutige Zeit zur «Begrenzungsinitiative» der SVP (Kündigung der bilateralen Handelsbeziehungen mit der EU) am 27. September 2020 reichen.
Radio Zürichberg ist nun ein Medienmärchen, eine kleine weisse Wolke am Radiohimmel. Oder ein Luftschloss, wie es das Medienmagazin „Klartext“ (heute EDITO) von Anfang an voraussah.
Das kannte eben seine Pappenheimer.
Tempi passati?
Was bleibt, ist die Frage: welche Medien brauchen wir? Und welchen Stellenwert hat die auch in den Printmedien oft reduzierte Kulturberichterstattung in einem Lokalradio? Was bleibt auf der Strecke – die Meinungsfreiheit und die Medienvielfalt? Nicht zuletzt resultiert daraus eine Verflachung der Kultur und der bildungspolitischen Werte. Machen sich die Medien überflüssig durch Sparmassnahmen und eine Konformität, die dem Profit dient? Und das in (Corona)-Zeiten, wo nicht wenige Kultur mit ihrem Smartphone verwechseln… Es geht um die Frage: wozu Kultur? Kultur tut gut, macht aber viel Arbeit…
Die Dokumentation «Radio Zürichberg, Kulturradio-Kurzversuch 5.-11. Dezember 1988 im VBZ-Sendetram», wurde in die Bibliothek des Publizistischen Seminars der Universität Zürich aufgenommen (Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ).
Das Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement hat einen weiteren Radio-Kurzversuch bewilligt: Vom 5. bis 11. Dezember darf <Radio Zürichberg> aus einem mobilen Studio in einem Tramwagen von verschiedenen Standorlen in der Stsdt Zürich aus senden. Unser Bild: Ingrid Isermann, Präsidentin und Chefredaktorin, neben Programmleiter Roman Fust.
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„Die Wirklichkeit ist vielfältiger, als uns die Medien vermitteln.“ Dieser Satz von Chefredaktorin Ingrid Isermann hat für das von ihr initiierte Radio Zürichberg programmatischen Charakter: Mit einer breiten Palette von Sendegefässen, Themen, Musikstilen und Sprachen wurde diese Vielfalt im einwöchigen Kurzversuch angestrebt.