Foto @ Rolf Breiner
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«Rainer Werner Fassbinder: Filmberserker und Gesellschaftsanalyst»
Von Rolf Breiner
Rainer Werner Fassbinder, der Gigantomane der Filmkunst, unberechenbar, unangepasst, unnachahmlich. Seine Filme waren wie sein Leben: heftig, unbändig, unerschöpflich bis zum Ende. Fassbinder lebte ein kurzes, intensives Leben von 1945 bis 1982. Er verfasste 12 Theaterstücke, drehte 44 Spielfilme fürs Kino, fürs Fernsehen, schrieb, inszenierte, produzierte und provozierte. Am 31. Mai hätte er seinen 70. Geburtstag gefeiert.
Frauenfiguren, geschundene Kreaturen waren seine Stärken. Verlorene Helden wie Franz Biberkopf in «Berlin Alexanderplatz» oder Emmi, die einsame Putzfrau, und Ali, der viel jüngere Marokkaner und Liebhaber, in «Angst essen Seele auf». Just dieses Gesellschafts- und Beziehungsdramadrama wurde zum Fassbinderjahr dramatisiert und im Berliner Gorki-Theater überzeugend von Hakan Savas Mican inszeniert. Vor 41 Jahren kam der Film heraus, und das Ausländer-Thema ist aktueller denn je. Wird eine Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem farbigen Nordafrikaner heute toleriert? Ich habe meine Zweifel.
Frauen waren seine Helden
Frauen waren seine Helden (nicht Heldinnen). Sie standen ihren Mann wie «Lola» (Barbara Sukowa), die wenig mit der Lola (Marlene Dietrich) im «Blauen Engel» zu tun hatte, Fassbinders Lola war eine Geschäftsfrau, die ihren Preis kannte. Ein Zeitdokument. «Der Spiegel» widmete diesem Film eine Titelgeschichte: «Der Blaue Engel der Adenauerzeit». Und Fassbinders Kommentar: «Ich werde viele Filme machen, bis ich mit meiner Geschichte der BRD hier und heute angekommen bin: ‚Lola‘ und ‚Maria Braun‘ sind Filme über das Land, wie es heute ist. Man muss, um die Gegenwart zu begreifen, was einem Land geworfen ist und noch wird, die ganze Geschichte begreifen und verarbeiten.»
Dazu gehörte auch der Pompfilm mit Hintersinn «Lili Marleen» (1980), in dem Hanna Schygulla zum Star avancierte, von zehn Millionen DM Luggi Waldleitner produziert. Die Tingeltangel-Sängerin Wilkie wird von den Nazis in die Propagandamaschinerie eingespannt und begeistert die Soldaten an allen Fronten mit dem Lied «Lili Marleen», das tatsächlich von Lale Andersen gesungen wurde. Ein kommerzieller Erfolg.
«Ich habe Frauen», so Fassbinder, «niemals besser behandelt. Weil sie Frauen sind, sondern ich habe ihre Fehler ernst genommen.» Um gesellschaftliche Abbilder, Konflikte, Krisen und Zwänge zu zeigen und zu dramatisieren, greift er die Vergangenheit zurück, inszeniert und seziert. Er verdichtet das Thema auf zwischenmenschliche Beziehungen und Abhängigkeiten. «Mehr als 30 Jahre nach ihrem Entstehen haben die Filme weder an Intensität noch an Aktualität verloren», schreibt Ursula Frohne in ihrem Katalog-Beitrag «Expanded Fassbinder». «Fassbinders Werk zeichnet zwar eine historische Grundierung aus, die in der deutschen Vergangenheit ihren Fluchtpunkt setzt und in der Thematisierung der Tristesse der jungen Jahre bundesrepublikanischer Identitätsfindung sowie dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Gefühlskälte seiner Protagonisten nachwirkt. Trotzdem beziehen sich zahllose zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichsten kulturellen Kontexten auf seine Filme.»
Es gab keiner vor ihm und keinen nach ihm, der die deutsche Nachkriegs-Filmgeschichte so geprägt und beeinflusst hat, wie er. Und das in nur 16 Schaffensjahren. Aufgewachsen in München, bewarb sich Rainer Werner Fassbinder (RWF) 1966 und 1967 an der neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Vergeblich. Das hinderte ihn nicht, zur Kamera zu greifen, zu inszenieren, zu filmen. Nach drei Kurzfilmen schloss er sich dem Actiontheater in München an und inszenierte 1968 «Katzelmacher», gründete 1969 das antitheater und verfilmte das Stück 1969. Dreizehn Jahre und 39 Filme später starb er im Alter von 37 Jahren an Herzversagen.
Macher und Hasardeur
Er war ein Kind seiner Zeit und ihr doch weit voraus. Er fragte nicht «darf ich das, kann ich das», sondern machte. Er kümmerte sich nicht um Institutionen, Redaktionen oder gar Quoten. Er filmte auf Teufel-komm-heraus, war unberechenbar, unangepasst, unnachahmlich – genial. Ein Typ wie er auch heute denkbar, aber kaum kino- und fernsehtauglich wäre, weil er sich an Geldgebern, Gremien und Gegebenheiten der Branche (Film und Fernsehen) aufgerieben hätte. RWF war ein Macher, Medienhasardeur, vielleicht Masochist, der nach eigenem Duktus drehte – mit System und unbändigem Willen – «ohne Rücksicht auf Erwartungen, Empfindlichkeiten, Sehgewohnheiten, Kritikervorlieben, Produzentenwünsche, Förderkriterien», schrieb Andreas Kilb in seiner markanten Würdigung über RWF im «Rolling Stone»-Magazin (Mai 2015). Er schuf etwas, was man heute vermisst – Unerhörtes, Unerwartetes, Unvergleichliches. Ein Gigantomane, unersättlich, der keine Zeit an scheinbaren Flops wie «Despair», der in 1978 in Cannes durchfiel, verschwendete, weil er schon am nächsten Projekt arbeitete. Er überraschte mit der kongenialen Verfilmung «Fontane Effie Briest», rang dem Fernsehen (WDR) die Döblin-Verfilmung «Berlin Alexanderplatz» ab (in 13 Teilen und einem Epilog) oder sezierte die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit «Die Ehe der Maria Braun», «Lola» oder «Die Sehnsucht der Veronika Voss».
Nun wird RWF von den Medien gefeiert – von allen, auch denen, die ihn als Antisemiten, Bürgerschreck oder Homosexuellen brandmarkten. Die Ausstellung in Berlin «Fassbinder jetzt – Film und Videokunst» versucht dem Phänomen punktuell auf die Spur zu kommen. Ein sehenswertes, aber letztlich unvollkommenes Unterfangen. Im Brennpunkt steht seine Wirkungsgeschichte. Dazu werden die Künstler wie Tom Geens, Ming Wong oder Jeff Wall in Wort und Werk und Bild zitiert. Der Hauptteil und interessantere Teil dieser Schau – keine eigentliche Retrospektive – beleuchtet und dokumentiert sein Schaffen von Schriftdokumenten (Skripts, Drehbücher, Storyboards, Briefverkehr) bis zu Fotos, Standbildern und Filmausschnitten.
Mensch und Raum
Ein ganzer Raum ist der Kostümbildnerin Barbara Baum gewidmet. Es ist spannend, die Roben, Kleider, Anzüge, Jacken, Kleidung zu sehen, die etwa von Hanna Schygulla als «Lili Marleen» getragen wurde. Aufschlussreicher sind auch jene Abteile, die sich mit Fassbinders Arbeitsweise, seinen Stilmitteln und thematischen Kreisen befassen. Anschaulich wird die Kameraarbeit von Michael Ballhaus analysiert, dessen virtuose Kamera-Kreisbewegung (erstmals in «Martha») Schule machte und der für RWF 15 Filme von 1970 bis 1978 drehte. «Für mich ist die 360-Grad-Fahrt immer die präziseste Definition eines Menschen im Raum gewesen. Deshalb habe ich das auch immer so gerne gemacht. Irgendwann habe ich allerdings damit aufgehört, weil alle anderen das dann auch gemacht haben», erinnert sich Ballhaus.
Fassbinder hatte ein Faible für Spiegelungen und klaustrophobische Situationen. Der Raum wird zum Schmelzpunkt eines Konflikts, einer Beziehung, zum Ort der Verzweiflung. Verschiedene Bilderfolgen und Filmsequenzen zeigen dies wirksam in der Ausstellung. Zwei Menschen wenden sich zu oder ab, entblösst, verzweifelt etwa in Szenen aus «Liebe ist kälter als der Tod», «Warnung vor einer heiligen Nutte» oder «Die bitteren Tränen der Petra von Kant». Dazu kommen Familientableaus, Gruppierungen, in denen die Protagonisten sich isolieren, obwohl sie zusammen sind. «Jeder leidet in einer Gesellschaft, die von Leuten alles Mögliche verlangt, ohne ihnen je die Entscheidung darüber zu lassen, was sie selbst eigentlich wollen», kritisiert Fassbinder und ist damit heute so aktuell wie damals 1977.
«Fassbinder», so Maryam Jafri, Videokünstlerin aus Pakistan, über den Filmfanatiker, «besitzt die Gabe zu zeigen, wie Menschen freiwillig zu ihrer eigenen Unterdrückung und zu der denjenigen beitragen, die ihnen nahestehen, wie Opfer von einem Augenblick zum andern zu Unterdrückern werden können – und trotzdem gelingt es ihm, nicht fatalistisch zu werden… Jedes einzelne Thema, mit dem er sich beschäftigt – Ethnie, Klasse, Geschlecht, Sexualität, Familienstrukturen, Kapitalismus, die Auswirkung von Geschichte aufs Individuum –, ist in unserer heutigen Welt nach wie vor aktuell.»
Der Starmacher
Dem Anspruch der Ausstellung, Fassbinders Wirkung in der Film- und Videokunst wird rudimentär Genüge getan – dank Filmen und Video-Präsenz von Künstlern wie Ming Wong. Tom Geens, Runa Islam, Jesper Just oder Jeroen de Rijke.
Ein Kapitel wird freilich sträflich kurz gehalten, nämlich seine Bedeutung für die Schauspielergilde. Er machte Stars wie Hanna Schygulla («Lili Marleen», «Effie Briest», «Die Ehe der Maria Braun»), Barbara Sukowa («Lola)», Rosel Zech («Die Sehnsucht der Veronika Voss») oder Ingrid Caven («In einem Jahr mit 13 Monden») oder Irm Herman («Schatten der Engel»). Schauspieler wie Klaus Löwitsch («Die Ehe der Maria Braun»), Günter Lamprecht («Berlin Alexanderplatz»), Armin Mueller-Stahl («Lola») oder Mario Adorf (beide in «Lola») machte sich bei RFW einen Namen. Er holte Stars aus der Versenkung wie Karlheinz Böhm («Martha»), Eddie Constantine, Cornelia Froboess («Die Sehnsucht der Veronika Voss») oder Karin Baal. Auch die heutige «Tatort»-Kommissarin Eva Mattes gehörte zu den Fassbinder-Entdeckungen («Wildwechsel»). Sie ziert übrigens die Katalog-Titelseite (aus dem Film «Die bitteren Tränen der Petra von Kant»).
Der Katalog ist sein Gewicht und Preis (25 Euro) wert. Bilderfolgen wie anspruchsvolle Texte verschiedener Autoren und Künstler vertiefen die Ausstellung wesentlich. Doch sie alle können Fassbinders Filme nur punktuell beschreiben, zuordnen, nachordnen. Seine Filme sprechen für sich und bleiben einzigartige Zeitzeugnisse.
«Fassbinder Jetzt. Film und Videokunst»
im Martin-Gropius-Bau, Berlin, ist bis 23. August 2015 zu sehen.
Buchtipp:
Ingeborg Kaiser
«Ich war, ich bin, ich werde sein»
Rosa Luxemburg – Rainer Werner Fassbinder
Hinterlassenschaften
Collection Montagnola, Sammlung Isele
BoD – Book on Demands, Norderstedt 2015
ISBN 978-3-7347-3981-1
Ingeborg Kaiser beschwört die Strahlkraft der unvergleichlichen Persönlichkeiten Rosa Luxemburgs als Ikone der Revolution und Vorkämpferin für die Rechte der Frau und des exzessiven Filmemachers Rainer Werner Fassbinder, der sich um seines Werken willen ebensowenig schont und in einer Sommernacht des Jahres 1982 über einem Drehbuch für einen Luxemburg-Film zusammenbricht.
«Berliner Bilderbogen–
von ImEx bis zu 1945 und zur Gegenwart»
Berlin – Der Ausstellungsstreifzug durch die deutsche Hauptstadt führt vom Im- und Expressionismus («ImEx») zur Zeitgeschichte («1945 – Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg») und Gegenwart.
Die Neue Nationalgalerie, erbaut von Mies van der Rohe und 1968 eröffnet, ist für Jahre geschlossen und wird einer umfassenden Sanierung unterzogen. Baumeister David Chipperfield leitet dieses Projekt. Der Brite hatte vorher bereits sehr erfolgreich die Sanierung und Modernisierung des Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel durchgeführt. In diesem Fall hält man sich am besten an die Alte Nationalgalerie neben dem Berliner Dom. Ein starkes zugkräftiges Thema: «ImEx» – will heissen Im- und Expressionismus. Hier findet man sie paarweise die prominierenden Pärchen, Idyllen und Landschaften. Edouard Manets Banken-Rendezvous «Im Wintergarten» (1878/79) beispielsweise, Max Pechsteins Tête-à-tête «Doppelbildnis» (1910) oder Ernst Ludwig Kirchner Impression «Potsdamer Platz» (1914) im expressionistischen Stil. Es reihen sich Idyllen von Pierre-Auguste Renoir («Blühender Kastanienbaum», 1881), Landschaften und Stillleben an Tanz- oder Badeszenen von Degas, Monet oder Liebermann, konfrontiert mit Werken von Heckel, Nolde oder Marc. Die attraktive Schau mit rund 160 Werken bietet die Möglichkeit , Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden grossen Bewegungen zu begutachten, zu entdecken und ihnen nachzuspüren.
Nicht weit von der Alten Nationalgalerie entfernt, kann man in die harte Wirklichkeit der Nachkriegszeit im Deutschen Historischen Museum eintauchen: «1945 – Niederlage, Befreiung, Neuanfang». Nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8.Mai 1945 wurde Europa neu geordnet. Neue Machtblöcke entstanden, die Alliierten spalteten sich in West und Ost. Eine Momentaufnahme von zehn europäischen Ländern (CSSR, Polen, Grossbritannien, Dänemark, Norwegen, Luxemburg, Niederlande, Belgien, Frankreich und Sowjetunion, die unter Nazi-Deutschland gelitten, es bekämpft und besiegt hatten sowie den Aggressoren Deutschland und Österreich. Wie ist es den Menschen ergangen – den Überlebenden, den Opfern, den Siegern? Szenen der Neuorientierung, des Aufbruchs und Aufbaus, aber auch neuer Verfolgung, neuen Darbens. Alltag nach dem Krieg und Neuordnung – politisch, gesellschaftlich, geografisch. Ton- und Bilddokumente wecken Erinnerungen und – je nach Generation – informieren. Nicht schulmeisterlich, sondern packend anschaulich. Das liegt auch daran, dass Laufbahn, Schicksal verschiedener Personen und Persönlichkeiten nacherzählt und aufgeschlüsselt werden. Tragische, glückliche, einflussreiche Karrieren, Aufstiege und Fälle.
Und schon sind wir in den Nachkriegsjahren, die filmisch von keinem anderen so massgeblich und wegweisend geprägt wurden als von Rainer Werner Fassbinder. Er wäre am 31. Mai 70 Jahre alt geworden. Seine Schaffen, sein Einfluss wird in einer Schau im Martin-Gropius-Bau gewürdigt: «Fassbinder – jetzt». In unmittelbarer Nachbarschaft vom Bahnhof Zoo findet sich das Amerika Haus. Hier hat sich die Galerie C/O Berlin etabliert. Eine der aktuellen Ausstellungen widmet sich dem brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado: «Genesis». Wim Wenders hat zusammen mit Salgados Sohn Juliano Ribeiro den Dokumentarfilm «Das Salz der Erde» über diesen Weltreisenden mit der Kamera geschaffen. In den Räumen der C/O Berlin sind nun grossformatige Genesis-Bilder zu sehen. Schwarzweisse Aufnahmen von Menschen und Tieren, Erd-, Wasser- oder Eismassen. Salgados Genesis-Projekt ist eine Hommage an die Erde und ihre Ursprünglichkeit, an unverformte Bewohner fern der Zivilisation und ein Appell an unsere Verantwortung, unser Gewissen. Es ist eine unglaubliche Reise zu unberührten Gegenden – von den Galapagosinseln bis Madagaskar, Sumatra oder West-Papua, von Meeren und Antarktis mit Walen und Pinguinen bis zu den Nomaden im Sudan, dem Volk der Zo’é in Brasilien oder den Eskimos. Schöpfungsbilder, Stillleben der Elemente, Schönheit der Bewohner: «Genesis».
Neue Nationalgalerie: «ImEx», bis 20.September 2015.
Deutsches Historisches Museum: «1945. Niederlage, Befreiung, Neuanfang», bis 25.Oktober.
Martin Gropius Bau: «Fassbinder – jetzt», bis 23. August 2015.
C/O Berlin: Sebastiao Salgado «Genesis», bis 16. August 2015.