«René Char: Suche nach Grund und Gipfel»
Von Ingrid Isermann
«Suche nach Grund und Gipfel», ein Konvolut von Erinnerungen, Briefen, kurzen Essays und Prosastücken, ist ein Schlüsselbuch für das Verständnis der Dichtungen von René Char – nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend! Char, der bis Ende der 30er Jahre für die Avantgarde der Dichtung eintritt, kämpft seit 1940 im bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Besetzung seiner Heimat – als Kommandant der Partisanen im Departement Basses-Alpes.
Kritischen Repliken auf den Surrealismus, dem er sich verpflichtet fühlte, folgen Aufzeichnungen und Erinnerungen aus dem Maquis. Wenn René Char seine Freundschaften mit Paul Eluard, Albert Camus oder Adrienne Monnier – eine der ersten Buchhändlerinnen in Frankreich – schildert, zeichnet er lebendige Portraits der Genannten, wenn er die Bilder von Braque oder Giacometti evoziert, entstehen eigenständige künstlerische Landschaften in Miniaturfragmenten.
«Suche nach Grund und Gipfel» ist ein Konvolut aus Erinnerungen, Briefen, kurzen Essays und Prosastücken. Ein Schlüsselbuch für das Verständnis der Dichtungen von René Char – nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend!
Char, der bis Ende der 30er Jahre für die Avantgarde der Dichtung eintritt, kämpft seit 1940 im bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Besetzung seiner Heimat – als Kommandant der Partisanen im Departement Basses-Alpes.
«Es scheint, dass die Dichtung dank der Wege, die sie zurückgelegt hat, dank der Versuche, die sie haben wirklich werden lassen, ein Werk der Spannung ist, das dem verwundeten Wesen erlaubt, Kräfte und neuen Sinn zu schöpfen. Ganz nebenbei ist Dichtung auch die Ährenleserin der Vergebung, die Anstifterin zu kleinen Sünden der Phantasie. Ihre Schöpferkraft verliert sich nicht in einem Strohbündel.
… Wir haben uns 1945 eingebildet, dass der totalitäre Geist mit dem Nazismus seinen Terror, seine unterirdischen Gifte und Öfen der Endlösung verloren habe. Aber seine Exkremente sind in das schöpferische Unbewusste des Menschen eingelassen. Eine Art ungeheurer Gleichgültigkeit gegenüber der Anerkennung der Anderen und ihres lebendigen Ausdrucks gibt uns gleichzeitig zu verstehen, dass es keine Grundsätze und überlieferte Moral mehr gibt. Eine verfehlte Bewegung hat sie weggerissen. Wir werden weiterleben und bei unseren Nächsten nichts unversucht lassen. Der Hunger wurde Durst, der Durst stillt sich nicht. Eine wahnwitzige Unduldsamkeit schnürt uns ein. Ihr trojanisches Pferd ist das Wort Glück. Ich halte dies für tödlich. Ich spreche auf der Erde gegenwärtig als Mensch ohne Erbsünde. Ich habe keine tausend Jahre vor mir. Ich drücke mich nicht für die Menschen der Ferne aus, die – warum daran nicht zweifeln? – genauso unglücklich sein werden wie wir. Ich respektiere ihr Kommen.
… Wie können wir die Dichtung von ihren Unterdrückern befreien? Dichtung, die rätselhafte Klarheit, ergreift schnell das Wort, indem sie es entdeckt und vernichtet.
… Er wird von Eintagsforderungen durchzogen, der Dichter, dieser alte Pflegevater ähnelt einem Kuckuck, wie ein verschleierter Realist, ein absoluter Nichtstuer!
… Der Dichter kennt keinen Auftrag; er hat die Aufgabe, alles zu nehmen. Ich habe niemals etwas vorgeschlagen, das nach euphorischem Aufschwung die Gefahr eines Absturzes nach sich zog.
… Das Risiko heißt: scheitern um eines leuchtenden Ediktes willen, dem ich mich anvertrauen könnte, ohne dass ich unter seinem Bann leiden müsste».
(aus: Eindrücke aus der Vergangenheit, 1950, 1952, 1964)
Paris ohne Ausgang
Rue de Sèvres,
Ein Torweg vor dem Kaufhaus Le Tournis,
Es ist Mittag, und der Sommer
Hält über dem Asphalt alles in der Schwebe.
Eine junge Frau,
Die Schattenlinie ihres blossen Rocks
Ist die Komplizin ihres reizenden Körpers,
träumt mit offenen Augen,
Sitzt dort auf der Steinschwelle.
Ich nenne sie
Die Leserin mit den zwölf weissen Mohnblumen,
Die Mittägliche,
Obwohl sie die Augen weit offen
Und die Finger gefaltet hat,
In ihrem abwesenden Buch blätternd,
Bleibt sie dort sitzen, ich verliere sie,
Gleich danach, an der nächsten Strassenecke,
Echo der Silbe einer gejagten Geliebten.
1966
Francis Picabia
An einer Stelle der Côte d’Azur, wo kein Mensch hinkommt (ausser
einige Möwen, und wo meine Jugend aus der Höhe das brausende
Meer sah), traf ich Francis Picabia. Er erschie mir wie ein aufbrausender
Messerwerfer, dessen Sammlung Blitze warf.
1952
Bann
Wird die gleichmachende Welt
Ihre leeren Gräber
Jemals wieder bevölkern?
Miró
Mit dem Pinsel seines Augenlids
Entzündet Streit unter den Sternen,
Zur Musse seiner Geburtstagsfeier.
Der schöne Hagestolz!
Du, Nachr, ohne Leichentuch stromaufwärts,
Der Dir selten Angetraute.
1963
Felsenlob von Miró
Bis ins Schaltwerk von Altamira
Fliehen die Augen des Ikarus;
Leser eines behenden Reliefs,
Erinnerbar, des Wenigen gewiss;
Wir lieben das, was sich auf dem kleinen Esel
Von Orpheus zuträgt.
In der schönen Schlaflosigkeit der Freundschaft
Bringst du die Zeichnung zum Leuchten.
Oktober 1972
Rene Char (1907 Isle-sur-Sorgue bis 1987 Paris), französischer Lyriker, zählt zu den grossen Gestalten der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er stiess 1928 zu den Surrealisten, gehörte bis 1937 zur Gruppe um Breton. Mitautor (mit Breton und Eluard) des kollektiv verfassten Gedichtbandes „Ralentir travaux“ (1930). 1939 Einberufung und ab 1940 Resistance. Char war Kommandant der Partisanen im Departement Basses-Alpes. 1944 Berufung zum Interalliierten Generalstab nach Nordafrika. Seine poetische Prosa „Feuillets d’Hypnos“ (1946, Albert Camus gewidmet; 1959 von Paul Celan übersetzt) ist einer der bedeutendsten Beiträge zur französischen Resistance-Dichtung.
René Char
Suche nach Grund und Gipfel
Über den Maquis, Malerei, Dichtung und Philosophie
Aus dem Frz. von Manfred Bauschulte
224 Seiten. Hardcover
Aus dem Französischen und mit einem Glossar von Manfred Bauschulte.
€ 22.90
ISBN: 978-3-902665-94-2