FRONTPAGE

«Russland: Durch die Weiten Kareliens ans Weisse Meer»

Von ingrid Schindler

 

Mit dem Flussschiff durch Karelien – eine komfortable Art, die grandiosen Weiten Nordrusslands zu erfahren. Kirchen, Klosterfestungen und Schleusenkathedralen reihen sich wie Perlen entlang der Wasserstrassen und grossen Seen zwischen Moskau und St. Petersburg. Die umgebaute MS Thurgau Karelia bietet als erstes Flussschiff Kreuzfahrten von Moskau und St. Petersburg ans Weisse Meer an.

 

Karelien per Schiff: Auf Stalins Kanälen durch die Wälder der Taiga ans Weisse Meer

«Alle fahren am Wochenende mit dem Auto zu ihren Datschen aufs Land hinaus», kommentiert die Dolmetscherin den vierspurigen Stau während unserer Fahrt zum Schiffsanleger. Inoffiziell sollen mittlerweile 17 Millionen Menschen in Moskau leben, offiziell werden 12,3 Millionen gezählt. Bevor auch wir die Stadt mit dem Flussschiff verlassen, wird dieses erst einmal getauft. Der Schampanski hängt am Bug bereit und perlt schon in den Gläsern. Reeder Galkin übergibt Kapitän Gogin die neue Schiffsglocke, Reiseunternehmer Hans Kaufmann der Mannschaft Schweizer Schokolade, die Thurgauer Apfelkönigin Melanie Maurer durchschneidet das Seil. Die Flasche zerschellt an der Bordwand, Luftballons steigen in den weissblauen Himmel über Moskau auf und die alte MS Popov hat nun einen neuen Namen.

 

 

Entscheidende Zentimeter

1961 lief das 96 m lange Vierdeckschiff in Wismar/DDR vom Stapel. «Die Popov mit ihrem angestaubten Charme …, in den Kajüten gibt es nur Waschbecken, doch ist hier alles holzverkleidet, viel Messing, kein Resopal» steht in einem alten Reiseführer. Zum Glück ist das Schöne geblieben, wie die Captain’s Corner oder der Speisesaal in Nussbaum- und Birkenholz sowie der Motor und Maschinenraum. Den Rest hat die Reederei in Nischni Nowgorod nach Wünschen des Schweizer Vollcharterers umgebaut. Aus je zwei Kabinen wurde eine, Bad und Balkon inklusive. „In der Breite haben wir das Schiff zurückgebaut“, sagt Thurgau Travel Chef Hans Kaufmann. Dadurch besitzt die frischgebackene MS Thurgau Karelia einen Riesenvorteil gegenüber moderneren Flussschiffen: Mit 14,3 m Breite ist die alte Lady gerade schmal genug, um durch den Weissmeer-Ostsee-Kanal zu passen. «Damit sind wir die einzigen, die Touristen aus dem Westen die Fahrt ans Weisse Meer anbieten können», sagt Kaufmann – für viele Passagiere der ausschlaggebende Grund für diese Reise.

 

 

Schleusenparcours und Seen der Superlative

Sobald wir den Moloch Moskau Richtung Norden hinter uns lassen, verstehen wir, was die Moskowiter ins Umland treibt: eine Idylle aus Wasser, Wald und Sumpf mit frischem Birkengrün vor dunklem Grund und bunt verzierten Holzhäusern als Farbtupfern – kurz: Taiga, die russische Seelenlandschaft, soweit das Auge reicht. Über den Moskau-Wolga-Kanal mit seinen imposanten Schleusentürmen erreichen wir die Obere Wolga, Europas längsten Fluss, dessen Form sich immer wieder durch Aufstauung ändert. Ein faszinierendes Schauspiel bieten die zahlreichen Schleusen; mit hellblau gestrichenen Türmen zu beiden Seiten der roten Stahltore sehen sie wie klassizistische Propyläen aus. Dort, wo Putz und Farbe abblättern, werden dagegen Erinnerungen an Wachtürme des Eisernen Vorhangs wach. Am Südende des Rybinsker Stausees teilen sich die Wasserwege Richtung Ostsee/ Weisses Meer und Schwarzes/ Kaspisches Meer, dem die Wolga, Mütterchen Russland, zufliesst. Man nennt den See auch Rybinsker Meer, da er mit seinen Ausmassen alle Dimensionen sprengt: In der 30er Jahren wurden dafür 700 Dörfer geflutet.

Die Wasserstrassen führen nun durch immer einsamere, anrührend schöne Gegenden. Hin und wieder tauchen von Kremlmauern befestigte Klosteranlagen mit blauen, grünen oder vergoldeten Kuppeln und hölzernen Zwiebeltürmen wie im Märchen auf. Am Onegasee, dem zweitgrössten Sees Europas, erreichen wir die Republik Karelien, die im Nordwesten Russlands an Finnland grenzt. Halb so gross wie Deutschland, ist sie mit 640‘000 Einwohnern extrem dünn besiedelt, zur Hälfte von Wald und einem Drittel von Wasser durchzogen.

 

 

Kanäle mit blutiger Vergangenheit

Die Wasserläufe stellen seit jeher die wichtigste Verbindung zwischen Baltikum und Orient dar. Sie fungierten als Kriegs- und Handelwege, an deren Verlauf Russland Geschichte schrieb. Schon in der Zarenzeit gab es Pläne, sie so miteinander zu verbinden, dass die undurchdringlichen Sümpfe und Wälder befahrbar würden. Die Kanäle wurden mit dem Blut von Leibeigenen und Gulaginsassen, den „Feinden der Revolution“, gebaut.

Die berüchtigste der künstlichen Wasserstrassen ist der Weissmeer-Ostsee-Kanal, der mit 19 Schleusen den Onegasee mit dem Weissen Meer verbindet und St. Petersburg und Moskau den Zugang zur Barentssee möglich macht. Bis 1961 hiess das 227 km lange Prestigeobjekt, mit dem sich Stalin ein Denkmal setzte, Stalin-Kanal. Baubeginn war im September 1931, Fertigstellung im April 1933. Hunderttausende Zwangsarbeiter und Lagersträflinge – die Zahlen schwanken zwischen 170‘000 und 350‘000, je nachdem, wer sie herausgibt – schlugen mit primitivstem Werkzeug ohne Maschinen eine Rinne in den harten Granitboden und liessen unter grausamen Umständen ihr Leben. Wer das zu hoch gesteckte Tagessoll nicht erreichte, dem wurden die zugestandenen 1200 Kalorien am Tag herabgesetzt. Man geht von 125‘000 bis 250‘000 Toten aus, die in den Baugruben zurückgelassen oder im Wald verscharrt wurden. Im Hinterland der Stadt Medweschegorsk besuchen wir einen Gedenkwald, der an die Opfer erinnert. Für den Diktator war der Kanal eine Enttäuschung: Mit 3,5 m Tiefgang und knapp 15 m Breite ist er für grössere Schiffe nicht schiffbar und liegt gut sechs Monate im Jahr unter Eis.

 

 

Klosterfestungen, Kapellen und Kathedralen

In den menschenleeren Weiten Kareliens errichtete das Sowjetregime seine grössten Straflager. Die ersten Gulags wurden noch unter Lenin auf den windgepeitschten, rauen Solowezki-Inseln im Weissen Meer, die nur im Sommer von Booten angefahren werden, gebaut. Bis 1931 erfuhren bereits 70‘000 Häftlinge auf dem Archipel, der heute zum UNESCO-Welterbe zählt, was das zynische Lager-Motto «Lasst uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegenführen» bedeutete. Solowezki wurde zum Inbegriff des sowjetischen Terrors. Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn beschreibt die Zustände im «Archipel Gulag». Hauptattraktion der Inseln ist heute die Klosterfestung Solowezkaja, in deren Kerkern schon zur Zarenzeit Gefangene schmachteten.

Die Klöster gingen während des Sowjetregimes finsteren Zeiten entgegen. Die Mönche mussten fliehen, Ikonen wurden als Zielscheiben benutzt, Kirchenschätze zerstört und die Gebäude umfunktioniert. Auch den Brüdern von Walaam, dem Zentrum der russischen Christianisierung und Ikonografie, blieb nur die Flucht nach Finnland, zehn Kilometer in Luftlinie entfernt. Die Klosterinsel im Ladogasee, dem grössten Süsswassersee Europas vor den Toren St. Petersburgs, erlebte im 14. und 19. Jahrhundert ihre Blütezeit, fiel 1917 an Finnland, wurde 1940 nach dem finnisch-russischen Winterkrieg  sowjetisch, bis 1944 von den Deutschen besetzt und unter den Sowjets als Militärbasis genutzt. 1989 kehrten die orthodoxen Mönche zurück. Heute sind das Kloster und die auf den umliegenden Inseln verstreuten Einsiedeleien wieder aufgebaut und die Apfelbäume blühen wieder im unter Pomologen berühmten Klostergarten. Die Mönche leben als Selbstversorger und betreiben neben Obst- und Gemüsebau eine Fischzucht, Schnapsbrennerei, Milch- und Viehwirtschaft sowie einen Devotionalienhandel. Die wertvollsten Klosterschätze, alte Handschriften und Ikonen, sind in Neuwalaam, das sie nach ihrer Flucht in Finnland gründeten, geblieben.

 

 

Die russische Seele

Aus dem ganzen Land pilgern Gläubige zu den Marien- und Zarenikonen – die erschossenen Mitglieder der letzte Romanoffs werden als Heilige verehrt – in die Kirche von Walaam. Abgesehen von Juni, Juli, August, wenn das Kloster zugänglich ist, leben die Mönche in vollkommener, klösterlicher Abgeschiedenheit. Wie wundervoll Mönchsgesang klingt, erfahren wir bei einem kleinen Konzert, den Duft frischer, heiss geräucherter Walaamer Lachsforellen in der Nase. Es ist nicht das einzige Mal, dass wir auf der Reise in den Genuss von geistlichem Gesang, russischen Volksliedern, karelischen Weisen und traditionellen Tänzen kommen.

Auch auf dem Schiff erleben wir die musikalische Tiefe der russischen Seele wie auch die hohe Lernbereitschaft und Ernsthaftigkeit, mit der die junge Mannschaft bei der Sache ist. Diese stammt vor allem aus Nischni Nowgorod, dem Sitz der Reederei Gama. Anfangs herrscht Nervosität ob der neuen Gäste aus Europa. Im Lauf der Reise lockert sie sich und begeistert die Passagiere mit ihrer Frische und Fröhlichkeit. Dabei hat es anfangs ganz anders ausgesehen, als Thurgau Travel den jungen Russen verständlich machen musste, dass Lächeln und Fragen nach unseren Wünschen nicht als Distanzlosigkeit gilt.

 

 

Multitasking für die Küchencrew

Für Küchenchef der MS Thurgau Karelia ist die zweiwöchige Tauffahrt eine besondere Herausforderung. Vladimir Suew besitzt zwar über 30 Jahre Erfahrung in russischen Riesenkantinen, Restaurant- und Hotelküchen, aber auf einem Schiff mit Schweizer Gästen hat er noch nie gekocht. «Ein Schiff bedeutet Multitasking mit ganz anderer Planung als sonst, denn in den Weiten Kareliens kann man nichts mehr nachkaufen, wenn etwas fehlt», erläutert der Koch. Und zweitens die Gäste aus dem Westen: Darauf musste man sich erst einstellen. «Wir haben nicht nur das Servicepersonal in Deutsch und westlicher Tischkultur geschult, sondern auch die russische Küche europäisch getrimmt. Das heisst «kleinere Portionen, mehr Gänge und hübschere Präsentation». Ausserdem gibt es mehr Saucen und eine Auswahl zwischen Fisch, Fleisch und vegetarisch. «Es ist neu für uns, dass vegetarisches Essen nicht einfach Gemüse, sondern eine eigenständige Kreation ist.» Auch in Russland ist der Vegi-Trend zwar angekommen, aber westliche Ansprüche ist man nicht gewohnt. Sogar ein Veganer ist an Bord – eben Multitasking für die Küchencrew.

 

 

Die Talfahrt der russischen Küche

Die russische Küche besass lange Zeit weder Stellenwert, noch guten Ruf. Sättigend, billig, einfach, standardisiert, lautete die Devise während der Sowjetzeit. Nicht nur die Menschen wurden während des Terrors auf gleich gebürstet und ihrer Heimat entrissen, auch kulinarische Wurzeln wurden eliminiert. Die regulierte sozialistische Küche war uniform, regionale Unterschiede verschwanden. Frauen sollten arbeiten, «Schluss mit der Küchensklaverei» war ein gängiger Slogan. Der neue Mensch wurde in der Kantine und im Verpflegungsbetrieb satt.

Typische Gerichte dieser Zeit sind Mayonnaisen-Salate, allen voran der Russische Salat. Die vorsowjetische Version von Lucien Olivier, um 1860 in Moskau erfunden, bestand aus frischem Salat mit Moorhuhn, Kalbszunge, Flusskrebsfleisch, Kaviar, Sardellenpaste, frischen und sauren Gurken, Kapern, Eiern, französischem Essig und Olivenöl. Durch den Franzosen wurde Mayonnaise in Russland bekannt. Diese erfuhr in der Sowjetzeit als schnelle Sauce ihren Höhepunkt und ist heute aus der russischen Küche wie Blini, Smetana (saurer Rahm) und Salzgurken nicht mehr wegzudenken. Unter den Sowjets geriet eine schlichte Version des edlen Salats zum «Festessen des kleinen Manns».

 

 

Eine graue Maus wagt sich heraus

Auch andere Gerichte der aristokratischen Küche – die Zaren und der Hochadel holten im 18./ 19. Jahrhundert bevorzugt französische, holländische und deutsche Köche nach Russland – erfuhren eine ähnliche Transformation in der Sowjetunion. Der Beruf des Kochs erlebte seinen Niedergang. Köche wurden zu grauen Mäusen, die sich nicht vor Gästen zeigten. Auch Vladimir und Patissière Maria, deren Gebäck grossen Anklang bei den Passagieren fand, müssen sich erst daran gewöhnen. Koch sei er durch Zufall geworden, erzählt der Chefkoch scheu, einer Wette mit seinem Vater geschuldet. An Feiertagen war es üblich, Fleisch als Gastgeschenk mitzubringen. «Als ich 18 Jahre alt war, bekamen wir an Ostern Hasenfleisch. Mein Vater fragte mich, ob ich es zubereiten könne. Ich hatte schon zuvor gekocht und wollte mir keine Blösse geben. Deshalb erwiderte ich trotzig, ‘ja, das kann ich und dann werde ich Koch’. Der Vater sagte: ‘Gut, dann wetten wir, wenn es schmeckt, wirst du Koch’.» Das Hasenragout mit Gemüse und Sauerrahm ist Vladimir gelungen. Auch auf der Thurgau Karelia hat er mit seiner europäisch abgewandelten russischen Küche Erfolg.

Die Weinvorräte werden übrigens viel früher ausgetrunken als bei russischen Gästen. Vielleicht liegt es an den langen Tagen der Weissen Nächte. Und so stellt sich bis zur Ankunft in St. Petersburg noch so manches Urteil gegenüber Russen als Vorurteil heraus.

 

 

 

Info:

„Über 11 Flüsse und 7 Seen zum Weissen Meer“

Die über 3000 km lange Flusskreuzfahrt durch Karelien mit der MS Thurgau Karelia verbindet Moskau mit St. Petersburg. Auf der Strecke liegen die Wolgastadt Uglitsch am Goldenen Ring, das sagenhafte Kirillo-Belozersky-Kloster am Weissen See, die Schleusen des Wolga-Baltik- und Weissmeer-Ostsee-Kanal, die beiden grössten europäischen Seen Ladoga- und Onegasee, die Weissmeer-Klosterinsel Solowezki, die karelische Hauptstadt Petrosawodsk, die Museumsdörfer Kishi und Mandrogi, die Klosterinsel Walaam oder das altrussische Staraja Lagoda. 15 Tage inkl. Flug, Vollpension und Ausflugsprogramm ab 3‘190.- Fr. Die Thurgau Karelia ***+verfügt über 69 Kabinen für 138 Gäste. Die Bordsprachen sind Deutsch und Russisch.

Thurgau Travel, das 2001 von Flussreisepionier Hans Kaufmann gegründete Unternehmen, bietet auf über 40 Schiffen von Mittel- bis Deluxeklasse Flusskreuzfahrten weltweit an. 2018 nahmen 37‘000 Passagiere an den Reisen teil. Das Besondere: Immer neue, unbekannte Wasserwege, hohe Wiederholerquote, viel Leistung zum erschwinglichen Preis. Russland bildet 2019 mit drei Destinationen (Karelien, Wolga, Sibirien) einen neuen Schwerpunkt im Programm. www.thurgautravel.ch

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