«Ostmähren: Einer der heissesten Orte der neuen Welt»
Von Ingrid Schindler
Gegensätzlicher könnten sie nicht sein: das liebliche Kurbad Lazne Luhacovice und die radikal funktionalistische Bat’a-Stadt Zlin, einzigartiges Denkmal der modernen, europäischen Industriekultur. Die beiden Highlights der jungen Tschechischen Republik liegen wenige Kilometer auseinander im Südosten Mährens und sind bei uns so gut wie nicht bekannt.
100 Jahre Tschechien
Die junge Tschechische Republik feiert 2018 ihren 100. Geburtstag. Bis zum Ende des 1. Weltkrieg gehörte die Tschechoslowakei der K & K Monarchie an, 1918 wurde sie eine eigenständige Republik. Die Jahre zwischen den Kriegen stellen die Blütezeit der tschechoslowakischen Kultur, Architektur und Industrie dar. 1938 verleibte sich Hitler im Münchner Abkommen das Sudetenland ein, bevor er 1939 Böhmen und Mähren überfiel und zum Protektorat erklärte – der Beginn des 2. Weltkriegs. Die Deutsch-Tschechen wurden ins Reich zwangseingebürgert und mussten in der Wehrmacht dienen. Nach 1945 wurden sie aus dem Land vertrieben. 1948 proklamierten die Kommunisten die einheitsstaatliche volksdemokratische Republik. Der Versuch eines «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» im «Prager Frühling» 1968 mit mehr Freiheiten und der Lockerung der Planwirtschaft wurde durch den Einmarsch sowjetischer Panzertruppen brutal niedergeschlagen. 1989 stürzte die «Samtene Revolution» das totalitäre Regime. 1993 teilten sich Tschechien und die Slowakei in eigenständige Republiken. 1999 trat Tschechien der Nato bei und 2004 der EU.
Mit 78’800 km2 Fläche liegt das heutige Tschechien grössenmässig zwischen Irland und Österreich, mit 10,6 Millionen Einwohner (134,6 EW/ km2) leicht über dem EU-Durchschnitt (117,2 EW).
«100 Jahre Tschechien – 100 Jahre moderne Architektur»
Auf der Reise durch «100 Jahre Tschechien – 100 Jahre moderne Architektur» erreichen wir Bad Luhatschowitz im Naturschutzgebiet der Weissen Karpaten, Walachei/ Ostmähren, mit dem Zug eineinhalb Stunden von Wien entfernt. Lazne Luhacovice ist eines des grössten, tschechischen Heilbäder mit über 300jähriger Kurtradition. Seinen exzellenten Ruf verdankt es 16 Sauerbrunnen und einer Schwefelquelle, allen voran der Vincentka-Quelle, die zu den heilkräftigsten in Europa zählt. Schriftsteller, Künstler und Komponisten erholten sich hier, wie Milan Kundera, Dvorak und Smetana. Rekordhalter ist Leos Janacek, der 23 volle Kursaisonen in Luhacovice verbrachte, manche seiner Opern hier komponierte und im Kurtheater aufführen liess. Das Janacek-Festival im Juli erinnert daran.
Kuren wie vor 100 Jahren
Die kurze Fahrt vom Bahnhof ins Kurzentrum ist eine Reise in eine andere Zeit. Von der Architektur her reisen wir 100, von der Atmosphäre her 40/ 50 Jahre zurück, als man das Wort Kur noch ehrfurchts- und bedeutungsvoll aussprach und mit der Aussicht auf kleine Abenteuer verband, der Zeit der Kurschatten.
Der weitläufige Kurpark mit seinen Brunnen, Promenaden und Kolonaden präsentiert sich bunt und einladend – und voller schöner Schatten. Um 1900 hat der slowakische Architekt Dusan Jurkovic den Ort mit seinem verspielt-fröhlichen, volkstümlichen National-Jugendstil geprägt. Inmitten der gepflegten Kuranlagen thront sein Hauptwerk, das rosa-ockerfarben gestrichene Kurhaus Jurkovicuv Dum. Das Aushängeschild des Orts trägt den Beinamen «buntes Märchen», weil es Jurkovic weder an Farbe noch an Verzierung mit naiven Motiven der Volkskunst an der Fassade wie im Inneren hat fehlen lassen.
Wer hier absteigt, kurt wie vor 100 Jahren, als man das Kohlensäurebad noch in goldenen Badewannen nahm. Das Gold ist inzwischen abgeblättert, das Prozedere, die Wannen und Kurkabinen sind geblieben. Anders, aber ebenfalls stilvoll lässt es sich im Jugendstilhotel Popper in alten Zeiten schwelgen. Der richtige Name lautet Dum B. Smetany, aber als Filmkulisse «Popper» aus einer beliebten tschechischen Fernsehserie, die in den 20er Jahren spielt, ist das Hotel ein Begriff. Wenn ranghohe Staatsgäste oder der tschechische Präsident kommen, logieren sie hier.
Luhacovice hat sich fein gemacht
Wohin man schaut, überall herausgeputzte Musik- und Bäderpavillons, renovierte Jugendstilvillen und Sanatorien aus der Zeit zwischen 1900 und 1930, als Tschechiens Architektur in Blüte stand. Die auffallendsten Gebäude am Park sind, abgesehen vom Jurkovicuv Dum, das funktionalistische Gemeinschaftshaus und der Prachtbau des öffentlichen Inhalatoriums, wo man sich auch zum Singen trifft, denn «Singen vertreibt die Zeit beim Inhalieren und verstärkt das Einatmen ätherischer Dämpfe», erklärt Andrea Baumannova, die deutschsprachige Tourismus-Managerin des Orts.
Nicht nur Luhacovice, auch das Publikum putzt sich heraus. Kinder, junges Volk, Selfies machend, Frauen, Kinderwägen schiebend und in Boutiquen stöbernd, Familien zwischen Formschnittbäumen und Blütenflor flanierend. Trinkbecher werden mit Heilwasser an den Brunnen gefüllt, Kuchen und Eisbecher in den Cafés bestellt, Oblaten gekauft, «jeder Kurort hat seine eigenen». Andere nehmens sportlicher und kommen zum Joggen, Baden, Wandern, Inlineskaten und Velofahren her. «Bei jungen Familien ist Luhacovice ein beliebtes Wochenendziel und bei älteren Herrschaften kommt der Ausflug gut an», kommentiert die Touristikerin das bunte Treiben in astreinem Deutsch.
Der Doktor spricht Deutsch
Die Gäste kommen aus Tschechien, der Slowakei und Österreich. Schweizer oder Deutsche verirren sich kaum nach Mähren, dabei sind die Angebote sehr attraktiv.
In medizinischer Hinsicht bietet das Kurhotel Palace, 1926 eröffnet, 2018 frisch renoviert, die modernsten Therapieeinrichtungen. Mit über 60 Behandlungsarten unter ärztlicher Aufsicht geht das Spektrum weit über traditionelle Trinkkuren, Kohlensäurebäder und Inhalationen hinaus. Man behandelt vor allem Erkrankungen der Atemwege und des Bewegungsapparats, Nerven, Kreislauf, Magen-Darm und Diabetes. Es gibt auch spezielle Kuren für Kinder. Wer dagegen «nur» wellnessen möchte, fühlt sich wohl im luxuriösen Hotel Alexandria am richtigen Platz. Ca. 500 Euro kostet im Schnitt eine Kurwoche im DZ/ Pers. inkl. Halbpension, Anwendungen, Sauna, Schwimmbad etc. in den besten Häusern, dem Palace, Jukovicuc Dum und Alexandria, und das in der Hauptsaison.
Die Verständigung ist in medizinischen Fragen ein wichtiger Punkt. «Kein Problem», meint Baumannova, «die jungen Therapeuten können Englisch, die Älteren und Alten zwangsläufig Deutsch, die Ärzte beides». Ihre eigenen Deutschkenntnisse «verdankt» sie ihrer bewegten Kindheit. Ihre Eltern flohen nach dem Prager Frühling nach Deutschland. Da war sie zwei Jahre alt und sollte bald nachkommen. Das «Verräterkind» wuchs in der Zwischenzeit bei den Grosseltern auf. Ein Ausreiseantrag um den anderen wurde abgelehnt, erst mit zehn Jahren durfte Baumannova auf Druck der Bundesregierung nach Deutschland ausreisen. Auf einen Schlag musste sie nicht nur die fremd gewordenen Eltern, sondern auch das gesamte, neue Umfeld in einer fremden Sprache kennenlernen. Als ihre eigenen Kinder erwachsen wurden, kehrte sie nach Mähren zurück, das Heimweh war zu gross.
Vom Schuhmacher zum Milliardär
Aus dem nur etwa 20 km entfernten Zlin stammen die Grosseltern von Ivanka, Donald Junior und Eric Trump, den Kindern aus der Ehe von Donald und Ivana Trump, geborene Zelnickova. Die Enkel verbrachten etliche Sommer bei ihren Grosseltern in Zlin, Trump junior spricht fliessend Tschechisch, Donald Senior war auch mehrmals hier.
Die wirklich interessante Familie aus Zlin, die es weit nach oben schaffte und die Stadt wie keine andere geprägt hat, sind die Bat’as, Schuhmacher seit Generationen. Die sagenhafte Geschichte des visionären Firmengründers Tomas Bat’a verschwand während der sozialistischen Zeit völlig in der Versenkung, allmählich taucht sie wieder auf: 1894 gründete Tomas Bat’a 18-jährig mit seinen Geschwistern eine eigene Schuhfabrik in Zlin. Die Firma gedieh, die Produktion von billigen Leinenschuhen, eine konsequente Tiefpreisstrategie, die weltweite Expansion und die Order des österreichischen Kaisers von Militärstiefeln für seine Soldaten im 1. Weltkrieg verliehen ihr enormen Schub. Von mehreren Reisen nach Amerika brachte Bat’a die Idee der automatisierten Serienproduktion mit, die er bei Ford in Detroit studiert hatte und in seinen Werken implementierte.
Urbanisierung im Grünen
Um attraktiven Wohnraum und Infrastrukturen für die ständig wachsende Belegschaft zu schaffen, engagierte Tomas Bat’a die renommiertesten Architekten und Städteplaner des Landes: Jan Kotera, Frantisek L. Gahura und Vladimir Karfik. Das Ziel: Die ideale, funktionalistische Stadt mit geraden Strassenzügen nach amerikanischem Vorbild und Wohnquartiere mit viel Grün nach dem Vorbild englischer Gartenstadtsiedlungen zu entwerfen. Der Zweck: Das Wohl der Arbeiter zu fördern und gleichzeitig die Produktivität und Effizienz der Arbeitskraft zu steigern, kurz die perfekte Synthese von Arbeit und Erholung zu erreichen. Das Ergebnis: Nirgendwo wurden die Pläne so radikal wie in Zlin umgesetzt, so dass die «Bat’a-Stadt» zu einem weltweit einmaligen Baudenkmal des Funktionalimus wurde und das Unternehmen zum grössten Schuhproduzenten der Welt expandierte. 1931 fertigten allein im Werk in Zlin 20’000 Arbeiter 35 Millionen Paar Schuhe im Jahr an.
Dass Tomas Bat’a seit 1923 Bürgermeister von Zlin war, machte die Sache leichter. Er liess das grösste Kino Mitteleuropas, Schulen, Internate, Kindergärten, Sozialhäuser, ein Gemeinschaftshaus, heute Hotel Moskva, Haus der Kunst, Krankenhaus, Sportplätze, Kaufhäuser und immer neue Häuser für die Mitarbeiter bauen. Wie bei den Werkhallen bildeten bei allen Bauten 6,15 m hohe, lange und tiefe Kuben das Skelett. Als Le Corbusier 1935 Zlin besuchte, war er so begeistert, dass er es als «einen der heissesten Orte der Welt» bezeichnete.
Tragödie auf dem Weg in die Schweiz
«Die Arbeiter kamen von weit her. Die Bat’as waren beliebt und zahlten gut, oft mehr als das Doppelte des Üblichen», erfahren wir von Andrea Baumannova. «Nie zuvor hatte man in Tschechien bessere und schnellere Aufstiegschancen, und das bei vorbildlicher sozialer Absicherung und urbaner Infrastruktur.» Dafür verlangten sie den Mitarbeitern einiges ab. Für gute Leistung gab es Boni, für schlechte Mali. Das Firmencredo lautete: «Sage nie, dass etwas nicht geht – sage mir, dass du es nicht kannst.» Man setzte auf Sprachen, Bildung, Fortbildung und Kontrolle.
Längst war Bat’a als grösster Arbeitgeber des Landes auch auf anderen Feldern tätig. Der Konzern stieg in die Gummi- und Reifenproduktion ein, den Flugzeug- und Maschinenbau, die Schwer- und Autoindustrie und ins Filmgeschäft. Man produzierte eigene Spielfilme, Kindersendungen und die Firmenwerbung. Der eigene Flughafen Bat’ov sollte Tomas Bat’a 1932 zum Verhängnis werden. Er war auf dem Weg nach Basel, um den Batapark in Möhlin einzuweihen, als er mit seiner Junker F13 beim Start tödlich verunglückte.
Zeit der Superlative
Jan Antonin Bat’a führte das Werk seines Halbbruders fort. In seine Zeit fallen der Bau des 53 km langen Batakanals, zum Zweck des Kohlentransports ins firmeneigene Kraftwerk, und des Hochhauses Nr. 21, das mit 75 m Höhe 1938 das zweithöchste, nichtkirchliche Gebäude Europas war. Von der Dachterrasse hat man den besten Blick über die funktionalistische Schuhmacher-Stadt. Zu reden machte der Wolkenkratzer von Zlin auch wegen des Direktionsbüros: Jan Antonin Bat’a liess es mit allen technischen Finessen in einen Aufzug einbauen, damit er auf jeder Etage präsent sein konnte. Dazu kam es nicht. Bei Hitlers Einmarsch in Tschechien wurde er verhaftet.
Nach seiner Freilassung floh er nach Brasilien, wo er weitere Bat’a-Städte gründete. Die Bata’s wurden als Volksfeinde verunglimpft, die Fabriken in Tschechien beschlagnahmt, nach dem Krieg verstaatlicht und unter dem Namen Svit weitergeführt – bis in den Ruin. Zlin wurde in Gottvaldov umbenannt und bekam erst 1990 seinen Namen zurück. Im Kommunismus hat eine solche Erfolgsgeschichte nicht ins Konzept gepasst. Man stellte die Pioniere als rücksichtslose, kapitalistische Ausbeuter dar.
Inzwischen hat Bat’a 14 Milliarden Paar Schuhe in aller Welt verkauft. Die ehemalige Gummifabrik, heute Barum Continental (Reifen), ist jetzt der grösste Arbeitgeber Tschechiens. Die Bat’a-Firmensitze befinden sich in Lausanne, Singapur, Mexiko-Stadt und Toronto. Ins Hochhaus Nr. 21 ist die Stadtverwaltung eingezogen, das Parterre, den Fahrstuhl und die Dachterrasse kann man besichtigen. Im Fabrikgebäude Nr. 14 hat man ein Museum eingerichtet, das sich dem «Bata-Prinzip» widmet und gleichzeitig Schuhmuseum ist. Tschechien tut sich mit der Aufarbeitung der geschehenen Unrechts und dem Erbe der Bat’as immer noch schwer – jetzt stellt sich die Frage: Wie geht man mit Tausenden von Häusern mit je vier kleinen Wohnungen um, die zeitgemäss saniert werden müssten, ohne das einzigartige, architektonische Kulturgut zu zerstören?
Um den Brocken zu verdauen, bräuchten wir erstmal einen Sliwowitz. Eigentlich habe jeder, der einen Garten besitzt, einen Zwetschgenbaum und damit seinen eigenen, selbstgebrannten Schnaps, meint Andrea Baumannova. Unermüdlich, wie sie ist, schleppt sie uns noch zu Jelinek, dem weltgrössten Obstbrand-Produzenten, ein paar Kilometer weiter in Vizovice. Bevor wir uns aber durch die wunderbaren Brände ihrer Heimat probieren können, erfahren wir eine weitere unglaubliche Geschichte und fühlen uns bald reif für eine Kur.
Infos: www.czechtourism.com
www.lazneluhacovice.cz/de/
www.moravia-czech.eu/
www.muzeum-zlin.cz
www.ic-zlin.de
www.batacanal.cz