«Einstein, die Zeit und die Historie»
Von Ingrid Isermann
Berlin 1914: Während die Welt untergeht, wird er zum leidenschaftlichen Pazifisten: Thomas de Padova über Albert Einstein, der unser Verständnis von Raum und Zeit für immer verändert hat. Was die Zeit mit uns macht und was wir aus ihr machen, untersucht Rüdiger Safranski in seinem Buch ZEIT. Er war einer der grossen Politiker, sein Rat als Staatsmann war noch in hohem Alter gefragt. Uwe Bahnsen über Helmut Schmidt und seine Vaterstadt Hamburg.
«Thomas de Padova: Allein gegen die Schwerkraft. Einstein 1914-1918»
Thomas de Padovas Biographie lässt Einsteins «Allgemeine Relativitätstheorie» in gänzlich neuem Licht erscheinen. Berlin 1914: Einsteins Welt zerbricht. Seine Ehe mit Mileva scheitert, Deutschland zieht begeistert in den Krieg. Kollegen wie Max Planck unterschreiben den rassistischen „Aufruf an die Kulturwelt“, sein Freund Fritz Haber führt an beiden Fronten einen grausamen Gaskrieg. In bestechend klarer Prosa zeigt de Padova erstmals, wie Einstein in seinen frühen Berliner Jahren zum leidenschaftlichen Pazifisten wird – und wie er inmitten einer kollabierenden Welt die Physik neu erfindet.
Die Geschichte beginnt am 13. Juli 1913, an dem Einstein vor der Entscheidung steht, die Weichen für sein künftiges Leben noch einmal neu zu stellen. Am Zürcher Bahnhof trifft er auf Max Planck und Walther Nernst, die eigens aus Deutschland angereist sind, um ihrem deutlich jüngeren Forscherkollegen einen hoch dotierten Posten anzubieten – einen Traumjob ohne jegliche Lehrverpflichtungen an der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Nach Berlin also? Planck und Nernst kommen ihm vor «wie Leute, die eine seltene Briefmarke erwerben wollen».
Derselbe 13. Juli 1913 ist auch das Datum eines anderen, gewagteren Aufbruchs: Nach einer klaren Nacht steigt der Schweizer Oskar Bider um 4 Uhr früh in einen hölzernen Flugapparat, mit dem er das gesamte Alpenmassiv überqueren will, von Bern bis nach Mailand. Seine motorisierte Maschine rollt auf Fahrradstreifen über eine Wiese – und schon ist Bider in der Luft, winkt den Schaulustigen zu und nimmt Kurs auf das 3500 Meter hohe Jungfraujoch.
Während das staunende Publikum zu Bider und anderen Piloten aufschaut, den gefeierten Helden des 20. Jahrhunderts, dreht Einstein die Perspektive um. Er fragt sich, was jemand erlebt, der aus grosser Höhe im freien Fall auf die Erde zustürzt. Was für einen Piloten eine Höllenfahrt wäre, lädt den Physiker dazu ein, die altbekannten Fallgesetze aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Die Vorstellung, schwerelos zu sein, fasziniert ihn. Kaum ein Forscherkollege, dem Einstein noch nicht davon erzählt hat, wie sich die Schwerkraft aus Sicht eines frei fallenden Beobachters plötzlich in nichts auflösen würde. Sein Entwurf für eine neue Gravitationstheorie, an dem er nun schon seit sechs Jahren arbeitet, baut auf diesem Gedanken auf. Planck betrachtet den Versuch, die bewährte newtonsche Theorie der Schwerkraft aus den Angeln zu heben, mit ziemlicher Skepsis. Dennoch will er Einstein in Berlin sehen. Für Einstein kommt das Angebot unerwartet, aber zur richtigen Zeit. In der Millionenmetropole wartet seine Cousine und heimliche Geliebte Elsa Löwenthal auf ihn.
Kriegsmobilmachung in Europa 1914
Genau ein Jahr später, nur vier Monate nach seinem Umzug, macht das Deutsche Reich mobil. Plötzlich dringt ein lautstarker Nationalismus in alle Stätten der Wissenschaft. Wie eine tückische Krankheit habe er um sich gegriffen und sonst tüchtige und sicher denkende Menschen gefesselt, schreibt Einstein nach Zürich. Warum bleibt Einstein in Berlin, wo er zwar als Wissenschaftler ganz oben schwimmt, «aber allein, wie ein Tropfen Öl auf dem Wasser, isoliert durch die Gesinnung und Lebensauffassung? Die Jahre zwischen 1914 und 1918 sind Jahre des Staunens und des Schreckens. Sie erzählen von der wissenschaftlichen Aufbruchsstimmung in Berlin und der Entfesselung eines gewalttätigen Nationalismus. Wie schnell ihn der Krieg politisiert, lässt sich anhand seines im Jahre 2012 erstmals in seiner Gesamtheit veröffentlichten Briefwechsels mit seinem Freund Heinrich Zangger in Zürich nachvollziehen: Ende 1914 ist sich Einstein der Bedeutung von Wissenschaft und Technik bereits voll bewusst. Ihr Zerstörungspotential ist riesig. Ein europäischer Staatenbund ist in seinen Augen langfristig der einzige Ausweg aus der Gewaltspirale. Er schliesst sich dem soeben gegründeten «Bund Neues Vaterland» an, der sich nach dem Krieg in «Deutsche Liga für Menschenrechte» umbenennen wird.
Allgemeine Relativitätstheorie 1915
Aus Sicht seiner Forscherkollegen sind seine pazifistischen Bemühungen ähnlich hoffnungslos wie sein Versuch, die newtonsche Schwerkraft zu überwinden. Tatsächlich stürzt sein mühsam ausgearbeitete Theorie der Gravitation, die auf einer gekrümmten Raumzeit basiert, im Herbst 1915 wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sein Göttinger Kollege Mathematiker David Hilbert ist ein Mitstreiter um die mathematische Formulierung. Einstein gerät in einen Schaffensrausch und präsentiert am 25. November 1915 die Grundgleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie, de er bald darauf auf das Universum als Ganzes anwendet. Als Pfeiler der modernen Kosmologie haben Einsteins Feldgleichungen auch hundert Jahre später nichts von ihrer Faszination eingebüsst. Auf ihnen beruhen heutige Vorstellungen von schwarzen Löchern, Gravitationswellen und expandierenden Universen.
Die allgemeine Relativitätstheorie ist Einsteins bedeutendste wissenschaftliche Leistung. Seine gedankliche Verknüpfung von Raum, Zeit, Materie und Gravitation wirft Fragen auf, die Physiker und Philosophen bis heute umtreiben. Ein Buch mit einer Lebensgeschichte, die sich spannend wie ein Krimi liest! Für seine Verdienste um die theoretische Physik, besonders für seine Entdeckung des Gesetzes des photoelektrischen Effekts, erhielt er den Nobelpreis des Jahres 1921, welcher ihm 1922 überreicht wurde.
Thomas de Padova
Allein gegen die Schwerkraft
Einstein 1914-1918
Hanser Verlag München, 2015
Fester Einband, 308 S., € 21.90.
ISBN 978-3-446-44481-2
Thomas de Padova wurde 1965 geboren, hat in Bonn und Bologna Physik und Astronomie studiert. Er lebt als freier Publizist in Berlin. Bei Piper veröffentlichte er zuletzt „Das Weltgeheimnis“, das vielbeachtete Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 über Johannes Kepler und Galileo Galilei, sowie im Jahr 2013 den Wissenschaftsbuchbestseller „Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit“.
«Rüdiger Safranski: ZEIT – Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen»
Was ist faszinierender als die Zeit? Alles dreht sich um die Zeit: zeitlos, zeitgeistig, zeitgebunden. Zeit sparen, Zeit verlieren, alles kostet Zeit, die wertvolle, die uns im Sekundentakt abhanden kommt. Rüdiger Safranski plädiert in seinem neuen Buch für die Langeweile, um Zeit für sich zu haben. Zeit haben ist eine Kunst!
Der französische Denker und Mathematiker Blaise Pascal wusste schon vor vierhundert Jahren: die Menschen halten es nicht mit sich selbst aus und fliehen darum in die Geschäftigkeit, wobei es es damals ohne Smartphone und moderner Hektik geruhsam zuging. Das Problem aber blieb, nämlich die Fähigkeit, sich nicht in Ruhe konzentrieren zu können.
Rüdiger Safranski ist kein Technikmuffel, er nutzt alle modernen Techniken, erlaubt sich aber den Luxus, auf eine elektronische Nachricht nicht sofort zu reagieren, sondern so damit umzugehen, wie früher mit einem Brief: «Vielleicht habe ich einfach gut reden, weil ich ein freier Schriftsteller bin, aber ich glaube, jeder kann sich Freiräume schaffen, wenn er denn will. Und wir müssen uns auch diejenigen Erfahrungen bewahren, bei denen man die Zeit ganz vergisst. Die Liebe macht so etwas möglich, aber auch die Kunst. Das sind die kleinen Ewigkeiten, die wir in unserem endlichen Leben erleben können».
Erfüllte Zeit und Ewigkeit – Gegenwart ist immer
Die Religion ist immer schon das Thema der Religion und der Metaphysik gewesen, so Safranski. Man nähert sich ihr und umkreist sie, weil man den Absolutheitsanspruch der Zeit nicht akzeptiert. Es muss doch etwas anderes geben über die Zeit hinaus. Platon, der als einer der ersten ausdrücklich über das Ewige im Unterschied zur Zeit nachgedacht hat, nennt das Ewige ein Urbild, wovon die Zeit nur ein vermindertes Abbild sei. Eine ubegrenzte Zeitfolge ist noch keine Ewigkeit. Soll Ewigkeit etwas anderes sein als Zeit, so darf sie keine Sukzession haben, und darum ist sie permanente Gegenwart, ohne Früher und Später, ohne Vergangenheit und Zukunft.
Zwar erlebt man die Zeit als verstreichende, doch diese verstreichende Zeit durchläuft für den, der sie erlebt, immer eine Gegenwart, und dieses Jetzt der Gegenwart bleibt.
Gegenwart ist immer. Wenn man, so Ludwig Wittgenstein, unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Gegenwart ist das selbst nicht zeitliche Nadelöhr, durch das die Zeit hindurchgezogen wird. Sie ist das schlechthin Beharrende oder, wie es Schopenhauer einmal formuliert, jene Vertikale, welche das horizontrale Zeitverstreichen schneidet.
Wenn die alte Metaphysik sich Ewigkeit als Zeitlosigkeit vorzustellen versucht, bezieht sie sich insgeheim auch auf dieses bleibende Gegenwartsfenster, das zwar einigermassem mysteriös ist, aber doch zur alltäglichen Erfahrung von Zeit gehört, obwohl man sie kaum eigens bemerkt und sie nur selten aus dem Fluss des Erlebens heraushebt.
Rüdiger Safranski, geboren 1945, ist Philosoph und vielfach preisgekrönter, in 30 Sprachen übersetzter Autor u.a. von großen Biographien über E.T.A. Hoffmann, Heidegger, Nietzsche, Schiller, von Büchern über die menschlichen Grundfragen, u.a. über das Böse und die Wahrheit, und zuletzt der vielgepriesenen Bücher über die Romantik (2007), über die Freundschaft von Goethe und Schiller (2009), über Goethe (2013) sowie über die Zeit (2015). 2014 wurde Rüdiger Safranski u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.
Rüdiger Safranski
ZEIT
Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen
Hanser Verlag München, 2015
272 S., fester Einband, € 24.90.
ISBN 978-3-446-23653-0
«Mit Hamburg im Herzen: Helmut Schmidt und seine Vaterstadt»
Historische Grösse verlangt Weitblick im Denken und Handeln. Sie erfordert Charisma, das nachwirkt, und eine emotionale Verankerung im Volk, die sich auf Vertrauen stützt. Beides als Folge einer Leistung, die den Zustand des Volkes durchgreifend und dauerhaft zum Guten verändert hat, so der Biograph Uwe Bahnsen über Helmut Schmidt.
Das Jahrhundert hat ihn mit Ehrungen, Auszeichnungen und Preisen überhäuft wie nur wenige Politiker vor ihm. Berühmt wurde er nicht nur durch seine Politik, für die er mit unerbittlicher Gradlinigkeit stand. Längst gilt Helmut Schmidt (1918 – 2015) als Persönlichkeit der Zeitgeschichte, als ein Staatsmann von europäischem Rang. Wie die Historiker sein politisches Lebenswerk auch einordnen mögen – für die Nachwelt wird er eine der prägenden Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts sein.
Seine Erfahrungen, auch die bitteren, begannen in Hamburg, seiner Vaterstadt, die ihn geprägt hat und die er liebt. Er hat immer wieder bekannt, wie viel er zum Beispiel der Lichtwark-Schule verdankt, wie ihn überhaupt »Hamburgs Genius loci während der ersten 35 Jahre meines Lebens entscheidend erzogen« habe. Und in Hamburg fand er den Weg von der sozialen Frage zur Sozialdemokratie. Aber seine Liebe, seine Treue zur Vaterstadt, sein Stolz auf diese »großartige Synthese einer Stadt aus Atlantik und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Leben lassen« – all das hat eine durchaus komplizierte Komponente.
Uwe Bahnsen, passionierter Zeithistoriker, untersucht in seinem Buch »Mit Hamburg im Herzen« dieses diffizile Verhältnis Helmut Schmidts zur Hansestadt und den Hanseaten, deren berühmtester er selbst geworden ist. Helmut Schmidt hat Hamburg nicht nur bittere Wahrheiten ins Stammbuch geschrieben. Er hat der Stadt auch bittere Konzessionen abgenötigt, und das schloss zuweilen schmerzliche Wunden persönlicher Verletzung ein. Helmut Schmidt und Hamburg – das ist kein eindimensionales, sondern ein durchaus vielschichtiges Thema.
«Wenn ich nicht Berliner wäre, so würde ich für immer in Hamburg bleiben wollen, vielleicht auch in München – aber wo sonst in Deutschland? Es bleibt Hamburg, diese grossartige Synthese einer Stadt aus Atlantic und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Lebenlassen. Ich liebe diese Stadt mit ihren kaum verhüllten Anglizismen in Form und Gebärden, mit ihrem zeremoniellen Traditionsstolz, ihrem kaufmännischen Pragmatismus und ihrer zugleich liebenswerten Provinzialität». Helmut Schmidt.
Uwe Bahnsen, geboren 1934, studierte Geschichte und Nationalökonomie und berichtete viele Jahre als Korrespondent für DIE WELT und die WELT am SONNTAG. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. »Die Stadt, die leben wollte« (2004) und der Biografie »Karl Schiller« (2009).
Uwe Bahnsen
Mit Hamburg im Herzen
Helmut Schmidt und seine Vaterstadt