FRONTPAGE

«Der gordische Knoten und die Schweiz»

Von Ingrid Isermann

Um was geht es in der Schweiz? Geht es um die von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) initiierte Abstimmung gegen die «Masseneinwanderung», die mit 50.3 Prozent vom Schweizer Stimmvolk hauchdünn angenommen wurde? Oder geht es nicht vielmehr um die grundlegende politische Richtung und Stellung eines Staates im Herzen Europas, der auf die direkte Demokratie stolz ist? Der Bürger ist der Souverän und hat das letzte Wort. Ist ein Volksentscheid deshalb über alle Zweifel erhaben? Mitnichten. Denn er kommt nicht aus dem Blauen heraus, sondern es gibt Vorgeschichten.

Wie zum Beispiel die EWR-Debatte und die Abstimmung vom 6. Dezember 1992, als die Schweiz ebenfalls hauchdünn den Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum ablehnte. Damals wie heute war es das Eingreifen des abgewählten Bundesrats Christoph Blocher, der nun erneut seinen weitreichenden Einfluss geltend gemacht hat. Wie Gulliver stapft er zwischen dem Ameisenvolk Schweiz umher und überlässt das Scherbengericht anderen. Die sollen aufräumen. Und wie sie es taten! Mit mehr als 120 Verträgen wurden die bilateralen Verträge mit der EU aus dem Boden gestemmt, zum Nutzen der Schweiz und der Schaden nicht nur begrenzt, sondern die relativ unabhängige Position noch gefestigt, um ungehindert am europäischen Wirtschaftskuchen teilzunehmen.
Der Einstand für das Wirtschaftswachstum war die Freizügigkeit, das Fundament neben dem Euro der europäischen Union. Genau das war Blocher ein Dorn im Auge. Die Freizügigkeit, die er grollend seinerzeit in Kauf nahm, wenn nur kein EU-Beitritt in Frage kam, wurde mit der Abstimmung vom 9. Februar 2014 aufgekündigt und damit stehen auch die über Jahrzehnte ausgehandelten Verträge auf dem Spiel.
Wie sich SVP-Gründer Blocher am 10. Februar in der Sendung «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens polternd äusserte, dass das alles kein Problem sei, man das der EU so klarmachen müsse und er sich um die Folgen foutiere, wurde klar, dass dies eine Privatfehde Christoph Blochers mit der EU ist. Er will nicht in die EU, mit dem Vorwand, dass die Schweiz unabhängig bleibt und hat nun überall das Feuer unter der Glut angefacht, um die diversen Konfliktherde, die die Schweiz bisher nicht gelöst hat, zu einem Feuerbrand werden zu lassen.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein selbstherrlicher, beleidigter Feldherr agiert, der nicht verkraften kann, dass er 2007 aus dem Bundesrat vertrieben wurde. So hat er zweimal den gordischen Knoten zerschlagen, 1992 und 2014. Was das für Folgen für die Schweiz hat, ist unabsehbar. Doch Blocher hat anscheinend schon den Plan B in der Schublade und führt den gesamten Bundesrat dem Volk vor. Er träumt von einer Freihandelszone mit der EU ohne Freizügigkeit. Dass er damit die Solidaritätsidee eines geeinten Europas verrrät, und die lauernden Rechtspopulisten rundherum aktiviert, ist dem Machtmenschen Blocher egal. Ein Dokumentarfilm über den umstrittenen Politiker, der weiträumig plant, konnte ihm nicht auf die Schliche kommen, da er kein Rezept habe, ausser den Widerstand gegen den Bundesrat und die EU. Ist es ein verschütteter Autoritätskonflikt, der hier auf den Schultern der Schweiz ausgetragen wird?
Denn es ist umso unerklärlicher, als der frühere Firmeninhaber der Ems-Chemie in Donat/Ems jeden zweiten Franken im Ausland verdiente und Fördermillionen von der EU für seine Fabriken u.a. in Portugal einheimste.
Es gibt viele Gründe für ein Unbehagen in der globalisierten Wirtschaftswelt. Die unkontrollierte Zuwanderung, vor allem aus den osteuropäischen Ländern, hat nicht nur in der Schweiz Bedenken ausgelöst. Mit erweiterten flankierenden Massnahmen hätte die Schweiz Mittel und Gesetze gehabt, die Einwanderung zu regulieren. Das absolute Misstrauen gegen das Friedensprojekt Europa, das Christoph Blocher unverhüllt zur Schau trägt, ist beschämend. Nicht zuletzt, weil gerade die Schweiz als Einwanderer- und Auswandererland per se stets von ausländischen Arbeitskräften in hohem Masse profitierte, ohne die sie nicht geworden wäre, was sie ist. Es ist nun Sache der Politiker aufzuklären, wieviel die Schweiz der EU verdankt und was ohne sie auf die Schweiz zukommt. Das ist lange verpasst worden und in diese Lücke ist nun der Manipulator Blocher gesprungen.

 

 

 

«Schauspielhaus Zürich: Fiktion, Wirklichkeit und Wahrheit»

 

«Mein Name sei Gantenbein»: Der Mann, der vorgibt, blind zu sein und doch ständig sagt, «das sieht doch ein Blinder». Die burleske Inszenierung des tschechischen Regisseurs Dušan David Pařízek spielt mit Geschichten, die man sich wie Kleider anzieht und blieb mit raffinierten Textcollagen nahe am gleichnamigen berühmten Roman von Max Frisch.

 

Wieviel man sehen will, ist eine Frage des Taktes, auch in der Ehe, heisst es später, noch lange bevor die Frau dem Mann auf die Schliche kommt und er zugeben muss, nicht blind zu sein. Und doch blind für vieles: «Ich bin blind. Ich weiss es nicht immer, aber manchmal. Dann wieder zweifle ich, ob die Geschichten, die ich mir vorstellen kann, nicht doch mein Leben sind. Ich glaub’s nicht. Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist».

 

Die Dialoge klingen aktuell, und die Inszenierung des Regisseurs Dušan David Pařízek spielt mit Zeiten und der Gegenwart. Pařízek arbeitet mit Video-Grossprojektionen der Gesichter auf Leinwänden und Off-Dialogen. Der smarte Enderlin (Michael Neuenschwander) steigt über die Stuhlreihen ins Parkett und bezirzst eine Zuschauerin mit einem Glas Wein, dass er sich nur für eine Frau interessieren kann, wenn sie ihn auch persönlich anzieht. Aha! Die temporeichen Szenen sind kurzweilig, das Bühnenbild kommt mit sechs Stühlen aus, die auch an der Stellwand aus hellem Holz hängen – und besetzt werden; Gantenbein, Svoboda und Enderlin (Lukas Holzhausen, Siggi Schwientek, Michael Neuenschwander) berichten über ihre Erfahrungen: Die Welt ist Lila. Witzig, knorrig und wehleidig: «… es ist wie in Pompeji, ich kann mir nicht vorstellen, wie hier gelebt worden ist, obwohl ihr Morgenrock noch im Badezimmer hängt…». Über Hermes, den Götterboten, sinniert Enderlin, über das unverhoffte Glück.

 

Rollenspiele, Liebe, Eifersucht und Projektionen

Und dann kommt sie ins (Rollen)Spiel, die kapriziöse Lila (Miriam Maertens) und beendet die einseitigen Erfahrungsmuster: «Jeder erzählt eine Geschichte, die er für die seine hält». Felix Enderlin bleibt dabei: «Man tut, als glaube man an die eigene Rolle». Was macht man mit einem Tagtraum?, fragt einer in die Runde. Lila: «Man nimmt ihn». Was tut man, wenn man nicht mehr lange zu leben hat? Enderlin wähnt sich todkrank. Leben! Alles als ob…

 

So zieht sich das Geplänkel hin und her, Lila zieht sich leichtfüssig aus und zieht sich wieder an, zwischen den Szenen und Dialogen, ihr gelbes Kleid, High Hehls und der Vintage-Plattenspieler aus den sechziger Jahren: «Let’s get it on», röhrt Marvin Gaye. Ein pas-de-deux zwischen Lila und dem virilen Enderlin, der den eifersüchtigen Gantenbein (Lukas Holzhausen) zur Weissglut treibt: «devil in disguise», singt Elvis. Lila huscht oben ohne vorbei, gefällt sich in der Rolle der lasziven Femme fatale, und es dauert nicht lange, bis die drei Protagonisten in ein gelbes Kleid und in Stöckelschuhe schlüpfen. Svobada, der erste Ehemann Lilas intoniert sein anrührendes «je ne regrette rien». Die Verkleidung ist perfekt, die nackten Männerbeine im Kleid ein ungewohnter Anblick, die Einlage tiefgründiger als es auf den ersten Blick aussieht, wenn Männer mal in die Frauenhaut und ihre Kleider schlüpfen. Ist es das Gelbe vom Ei? Man möchte ein anderer sein? Eine andere Identität leben? Man stelle sich vor. Bei Frisch heisst es: «Ich probiere Geschichten an wie Kleider», hier wird es wortwörtlich genommen.

Lila wirft Gantenbein vor: «Ich sehe, dass du mich nur als Frau siehst!». «Entschuldige», sagt er, «findest du das nicht ungeheuerlich, ich nehme dich nur als Frau, das sagst du jetzt, nachdem du bei einem anderen Mann gewesen bist – offenbar nicht als Frau?».

Zuletzt wird sinniert: «Es geht nur darum, wer den Abschied vollstrecken kann, um weniger zu leiden». Wer zuerst geht. «Blue Moon», auch das geht unter die Haut. Es geht um die Würde in der Vollstreckung. Denn: jede Rolle hat ihre Schuld.

 

Das Stück ist lebhaft komponiert und die Collage aus dem Originaltext destilliert, die das fulminante Ensemble zu funkelnden Wortkaskaden führt. Für die Slapstick-Einlagen gabs Szenenapplaus und bedenkenswerte Anregungen für Zweisamkeiten, oder mitunter auch Einsamkeiten, wie sie zum Leben gehören. Wenn ein Theaterstück dazu verführt, den Originaltext wieder zu lesen, kann die Aufführung als inspirierend gelten. Steht das auch alles im Buch, was sich da auf der Bühne abspielt oder sind die Dialoge frei nach Frisch erfunden? Vielleicht sollte man den brillanten Roman (1964) wieder zur Hand nehmen. Es ist gut vorstellbar, dass es «Mein Name sei Gantenbein« von Max Frisch nicht ohne seine wechselvolle Beziehung zur Dichterin Ingeborg Bachmann geben würde. Wie auch immer, vorstellen kann man sich, dass vieles aus dem Leben gegriffen ist.

 

 

Mein Name sei Gantenbein
Nach dem Roman von Max Frisch

Textfassung von Dušan David Pařízek und

Roland Koberg
Aufführungsrechte Suhrkamp Verlag Berlin
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek
Kostüme: Kamilla Polivkova
Mit Miriam Maertens

Siggi Schwientek
Michael Neuenschwander
Lukas Holzhausen

Aufführungsdauer: 135 Minuten ohne Pause

Premiere am 16. Januar 2014 im Pfauen
Schauspielhaus Zürich

Aufführungsdaten: www.schauspielhaus.ch

 

 

Der tschechische Regisseur Dušan David Parízek, 1971 in Brünn geboren, studierte Komparatistik und Theaterwissenschaften an der Universität München sowie Schauspiel und Regie an der Akademie für Darstellende Künste. In Prag leitete er von 1998 bis 2012 das von ihm gegründete Ensemble Prager Kammertheater. Pařízek widmete sich in Prag mehrfach dem Werk Thomas Bernhards, Elfriede Jelineks, Werner Schwabs und Peter Handkes, er inszenierte u. a. Stücke von Robert Musil, Roland Schimmelpfennig und R. W. Fassbinder. Seit 2002 führt er auch in Deutschland und in der Schweiz Regie, so am Schauspiel Köln („Hamlet“, „Shape of Things“, „Platonow“, „Die Räuber“, „Emilia Galotti“, „Nathan/The Believer“), am Deutschen Theater Berlin („Die Verwirrungen des Zöglings Törless“), am Staatstheater Dresden („Der Prinz von Homburg“), am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg („Die Hermannsschlacht“, „Kabale und Liebe“, „Dantons Tod“, „Götz von Berlichingen“), am Düsseldorfer Schauspielhaus („Der zerbrochene Krug“, „Nora3“) und am Schauspielhaus Zürich („Gestern“, „Das Käthchen von Heilbronn“, „Faust 1–3“, „Wilhelm Tell“). 

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