«Keramik aus Süditalien», Eigenverlag Lazertis Galerie
Die grossen Amphoren dienten von alters her und bis in die Zeit der Kunststoff- und Aluminiumtanks als Vorratsgefässe für Öl und Wein. Bild: pd
«Pitale», Ölgefäss, innen und beim Ausguss glasiert, Kalabrien
«Orcio» (Olivengefäss), «Bottiglia» (Flasche) und «Pignata» (Kochtopf), Bild: pd
«Schlichte Schönheit»
Von Sabine Arlitt
Seit Jahrtausenden steht Keramik im Dienst des Alltags und ist dennoch zugleich ästhetisches Objekt. Im Museum für Völkerkunde in St. Gallen begegnen sich Gefässe von der Antike bis ins 20. Jahrhundert aus Süditalien.
Wer in Zürich die Universitätsstrasse Richtung See hinunterfährt, entdeckt kurz vor der ETH Zürich ein Schaufenster mit wie zufällig arrangierten Krügen und Tellern, Bechern und Behältern. Die winzige Lazertis Galerie gehört Lily Brülisauer, deren Privatsammlung von Gebrauchskeramik nun im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen in der Sonderausstellung «Ceramica Popolare – das kulturelle Gedächtnis Süditaliens» gezeigt wird.
Lily Brülisauers über mehrere Jahrzehnte gesammelte Stücke sind in das 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu datieren. Es ist allerdings nicht vorrangig das Alter, das bei so genannter Volkskunst sowieso schwieriger zu bestimmen ist, was für Brülisauers Sammelleidenschaft ausschlaggebend ist. Im Vorwort ihres im Eigenverlag herausgegebenen, reich bebilderten Katalogs schreibt sie vom Variantenreichtum der «beseelten Schöpfungen». Es ist die «schlichte Schönheit beziehungsweise schöne Schlichtheit» der bäuerlichen Gebrauchsgegenstände, welche ihre Auswahl lenkt. Die Kunsthistorikerin Caroline Kesser greift «dieses besondere Verhältnis von Funktionalität und freier Gestaltung, von Ökonomie und Poesie» in ihrem Katalogtext auf.
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Im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen werden die von Brülisauer gesammelten Stücke antiken Objekten aus der hauseigenen Sammlung gegenübergestellt, die als Schenkung der Familie Züblin, St. Galler Kaufleute in Bari (Apulien), ins Museum gelangten. Isabella Studer-Geisser, die Kuratorin der Ausstellung, regt so nicht nur einen Vergleich zwischen den antiken süditalienischen Grabbeigaben und den aus der gleichen Gegend stammenden vorindustriellen Gebrauchskeramiken an, sondern sie verweist darüber hinaus auch auf die Gründungs-geschichte der Schweizer Textilindustrie in Süditalien.
Die Gebrauchskeramik zählt zu den ältesten Kulturtechniken des Menschen. Im Laufe des Jahreswechsels wurde der Mensch immer wieder aufs Neue damit konfrontiert, verschiedene Lebensmittel aufbewahren und konservieren zu können. Bei den zur Feldarbeit mitgenommenen Tonflaschen beschränkte sich die Glasur auf den Ausguss. Dank der porösen Oberflächen konnten Flüssigkeiten bei hohen Aussentemperaturen kühl gehalten werden. Das Prinzip der Verdunstungskälte wird auch in der modernen Klimatechnik wieder genutzt. Kochgefässe, die zweimal gebrannt wurden, um der Hitze auf den Feuerstellen standhalten zu können, weisen häufig zwei Henkel auf. So konnten sie mit beiden Händen ins Feuer gestellt werden, ohne dass man sich die Hände verbrannte.
Daran, dass es sich bei den heute zu Raritäten gewordenen Gebrauchskeramiken einst um massenweise hergestellte Ware handelte, erinnert Studer-Geisser mit der Präsentation der Gegenstände in Regalen, die an Lagergestelle erinnern. Ausgewählte antike Stücke werden in Vitrinen gezeigt. Andererseits stehen mehrere kleine schwarze «Oinochoe», antike Kännchen mit einer kleeblattförmigen Mündung, direkt neben Wein- und Wasserkrügen aus der Zeit um 1900 mit derselben Öffnung. Der Vergleich einiger unglasierter Keramiken der Antike mit unglasierten Objekten der vorindustriellen Zeit lassen einen bei der grossen Ähnlichkeit der Masse und Formen die dazwischen liegenden Jahrhunderte für Augenblicke beinahe vergessen.
Gerade das Unregelmässige und das Unvorhersehbare machen den Reiz der Sammlungsstücke von Lily Brülisauer für uns heute aus. Da sorgt der unberechenbare Farbverlauf der Glasuren für eine individuelle Note und es begeistert die aufgebrochene Strenge tradierter ornamentaler Dekorationen. Welche Einflüsse auf diese Keramiken eingewirkt haben, ist noch längst nicht umfassend erschlossen und wird es wohl kaum je sein. Eine Richtung weist mit Bestimmtheit der Bezug zur Antike, auch in der arabischen Kultur dürften Quellen liegen. Zudem bieten sich spanische, toskanische und venezianische Vorbilder an.
Eine elementare Symbolik schwingt mit und oft ist die individuelle Lust am undogmatischen Schmücken zu spüren. Manch übermütig oder windschief anmutender Linienverlauf dürfte schlicht auf ein Arbeiten unter Zeitdruck oder auf eine momentane Gestimmtheit des Töpfers zurückzuführen sein. Das Ungekünstelte und Direkte interpretieren wir mit unseren heutigen Augen gern als Poesie. Und da ist sicherlich auch das Haptische, das spürbar Handgemachte, wirksam, das zur Faszination dieser einfachen Gegenstände beiträgt. Häufig anzutreffen sind der Mäander und das Wellenband, Palmetten-Muster, Rosetten und Sterne. Man findet florale Motive und rudimentäre Streifenlinien, Vegetations- und Sonnensymbole, Kreis- und Vogelmotive. Eindrücklich ist, wie der Dekor bei diesen schlichten Keramiken den formalen Vorgaben Respekt zollt. Verblüffend zudem, mit welchem Variantenreichtum klassische Ornamente abgewandelt wurden.
Die «robba gialla», die honigfarbenen Gefässe mit ihrem Farbspektrum von Gelb zu Braun, sind am häufigsten anzutreffen. Sie bilden den Grundton der süditalienischen Keramik. Die monochrom elfenbeinfarbene «robba bianca» gilt als edelste der «ceramica rustica». Geradezu das Wahrzeichen Apuliens bilden die grossen Teller mit blauen Blümchen beziehungsweise kleinen Sternen, die mit Hilfe von Stempeln friesartig angebracht wurden und mit Kreisen kombiniert auftreten. Auch braun marmorierte zylindrische Gefässe sind anzutreffen. Die beliebte grüne Sprenkelglasur, einst mit Thymianzweigchen aufgespritzt, findet sich oftmals an bauchigen Vorratsgefässen und Waschschüsseln. Der italienische Künstler und Autodidakt Alberto Magnelli (1888-1971) verwendete eine solche «Limmu» für seine Assemblage «Nature morte» aus dem Jahre 1914. Die Arbeit, die sich heute im Centre Pompidou in Paris befindet, wirkt wie eine Anti-Skulptur. Es scheint einzig um die Ausbalancierung elementarer Kraftverhältnisse zu gehen. In einem filmischen Essay wird dieses Werk im Herzen der St. Galler Ausstellung erkundet. Die Gedanken beginnen um Fragen der Abstraktion und Moderne zu kreisen.
(Erstveröffentlichung 10.4.2011 in „Der Landbote“, Winterthur)
Historisches und Völkerkundemuseum
St. Gallen, Museumstrasse 50, bis 26. Februar 2012. Katalog «Keramik aus Süditalien», Eigenverlag Lazertis Galerie, Fr. 38.-.
Lazertis Galerie, Universitätsstrasse 9+21,
8006 Zürich, Di-Fr 12-18.30 h, Sa. 12-16 h.
Tel/Fax +41 (0)44 261 14 13.