«Schönheit»
Von Hedi Wyss
In Spitzbergen sah ich sie nur als weisse Punkte weit droben über dem Meer. Und natürlich begleitete uns auf den Landausflügen immer ein Führer mit Gewehr. Denn einem Eisbär zu begegnen, wäre doch – obschon sicher ein grosses Erlebnis – gefährlich gewesen. Das sind jetzt fünf Jahre her.
Und die Berichte häufen sich, dass die grossen Fleischfresser das grosse Schmelzen das immer rasanter fortschreitet in diesem Jahrhundert noch mit dem Aussterben bezahlen müssen. Nun ja, ich habe Eisbären nur im Zoo von nahe gesehen.
Eigentlich könnte mir gleichgültig sein, ob es sie noch gibt. Zumal es ja von ihnen die wunderbarsten Aufnahmen und Filme gibt. Zu meines Grossvaters Zeiten gab es sie noch im Überfluss, in der wilden weissen Landschaft, wo sie auf Eisschollen Robben jagen konnten, und die Bärenmütter mit ihren winzigen Sprösslingen über die glitzernden Weiten zogen. Aber er hatte wohl damals keine Chance, ihre Schönheit zu bewundern, zu ahnen, was für eindrückliche, elegante Wesen das sind.
An meiner Wand hängt ein riesiges Foto eines springenden Servals – ein Blatt aus einem Kalender über all die wilden Grosskatzen, die es auf der Welt noch gibt. Noch! Und ich kann es nicht weghängen, so wunderbar ist dieser schlanke Körper in Bewegung. Obschon ich weiss, dass dieser Anblick in der Natur mir immer vorenthalten sein wird. Und auch da: Wird es mich denn berühren, wenn eintritt, was als Resultat der Zerstörung des Lebensraums, der Ausbreitung der menschlichen Spezies bis in die hintersten Winkel der Erde, unausweichlich scheint. Zumal es sich bestimmt erst nach meinem Tod in seiner ganzen fatalen Auswirkung zeigt.
Je mehr ich weiss über die wunderbaren Lebensgemeinschaften in den schwindenden Regenwäldern, den belebten Wüsten, den eisigen Kontinenten, je mehr seltsame und staunenswerte Phänomene entdeckt werden – von der Brutpflege gewisser Frösche bis zum Echolot der Fledermäuse. Von den kunstvollen Gesängen der Wale und ihrer Kommunikation per Ultraschall über tausende von Kilometern hinweg, bis zu den erstaunlichen kognitiven Fähigkeiten der gewöhnlichen Krähen, die auf unseren Feldern leben, desto mehr fühl ich eine Verbundenheit mit der Erde. Eine Art Aufgehobenheit in einer Welt, in der es nicht nur die eine, alles in Besitz nehmende Art- die Menschen- gibt, sondern überall Leben, das aufregende Geheimnisse birgt. Die Vielfalt des Lebens! Aber nicht nur das Spektakuläre weit weg, sondern auch hier vor meiner Tür: ein Glühwürmchen in meinem Garten, irgendeines Nachts, das blinkend seinen Partner sucht. Eine Fledermaus, die ich vor sieben Jahren zum letzten mal herumflattern sah und schon dachte, sie sei verschwunden, weil die alte Scheune gegenüber Luxuswohnungen weichen musste; und die jetzt plötzlich in der Dämmerung vor den grossen Bäumen in meinem Garten wieder Insekten jagt. Und so freu ich mich jetzt schon wieder auf den Frühling. Wenn ich dann mit der ersten Tasse Kaffee auf dem Balkon sitze und um sieben Uhr morgens zusehe, wie eine Spinne zwischen den Ästen des Rebstocks und den Eisenstangen des alten Geländers geduldig und genau ihr Netz webt. Denn jeden Tag erschafft sie ein Werk voller Schönheit.
Schönheit. In der Debatte um fortschreitende Naturzerstörung, um Klimawandel und die wahrscheinlich dramatischen Folgen, sind meist Argumente vorherrschend, die vor der Knappheit der Ressourcen, und den Auswirkungen auf Wirtschaft und Politik, warnen. Und wenn man kritisch vom Bevölkerungswachstum spricht, wird dann als eine Art Trost bekräftigt, dass die Erde bis zu 9 Milliarden Menschen ernähren könnte. Wenn, ja wenn?
Probleme gewiss, die man – wenn’s nur ums menschliche Überleben geht, wahrscheinlich lösen könnte. Natürlich nur unter Ausnutzung aller Ressourcen!
Ich finde es schade, dass da die Schönheit vergessen geht. Schönheit, für mich ein Lebenselixier. In der Kunst, in der Musik, in der Architektur, in der Dichtung. Aber auch die Schönheit ursprünglicher Landschaften, die Schönheit und Vielfalt, von der wir nur einen winzigen Teil erst kennen, all der anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Immer mehr erfahren wir von ihr, dank der modernene Medien. Und immer deutlicher zeigt sich, dass diese Schönheit, wenn es so weiter geht, auf immer verloren wäre.