FRONTPAGE

«Generationenübergreifende Freundschaft»

Von Ingrid Isermann

Ein Interview mit dem Schriftsteller Friedrich Dönhoff

«Die Welt ist so, wie man sie sieht»: Marion Dönhoff, gesehen durch die Augen des sechzig Jahre jüngeren Grossneffen. Seine Erinnerungen sind das Dokument einer generationenübergreifenden Freundschaft, denn Friedrich Dönhoff, geboren 1967 in Hamburg, war viele Jahre lang einer der Menschen, die ihr am nächsten standen. Er begleitete Marion Dönhoff im Alltag und auf Reisen.

 

Friedrich Dönhoff schildert die Geschichte einer Freundschaft, wie sie in seinem Alter von zwölf Jahren begann und sich entwickelte. Das ist so anrührend wie spannend zu lesen. Die einzelnen Kapitel umfassen ein breites Spektrum vom Alltag in Hamburg, den Reisen von Marion Dönhoff, die Friedrich als ihr Grossneffe begleitet hat; nach Südafrika, Ostpreussen, Masuren. Reisen in die Schweiz nach Sils-Maria oder nach Ischia. Es liest sich wunderbar, mit leiser Wehmut. Und es ist verdienstvoll, dass diese Schriften vom Diogenes Verlag Zürich wieder aufgelegt wurden. Von Marion Dönhoff stammt auch der schöne Buchtitel.

 

Friedrich Dönhoff, Sie sind der Grossneffe von Marion Gräfin Dönhoff, also war einer der Brüder der Gräfin Ihr Grossvater?
Marion Dönhoffs jüngster Bruder war mein Großvater, daher ist sie meine Großtante.

 

Sie sind in Kenia aufgewachsen, können Sie mir etwas mehr über diese ungewöhnliche Familiengeschichte von ‚Preussen im Exil’ erzählen, wie es dazu kam?
Mein Vater arbeitete für die aufkommende Tourismusbranche einige Jahre in Kenia. Meine Geschwister und ich gingen in englische Schulen und sprachen fließend Swahiii.

 

Gibt es einen besonderen Anlass, dass Sie gerade jetzt «Die Welt ist so, wie man sie sieht», Ihre Erinnerungen an Marion Dönhoff, herausbringen? Anlässlich des 10. Todestages? Am 11. März 2002 ist sie verstorben.
Kurz vor ihrem Tod haben Marion und ich vor dem Kamin in ihrem Haus Gespräche über ihr Leben geführt, diese auf Band aufgenommen, in der Absicht daraus ein Buch zu machen. Nach Marions Tod habe ich den Gesprächen einige Erinnerungen zugefügt und das Buch veröffentlicht. Die Reaktion war enorm, ich habe einen Ordner voller Briefe. Meist zielen die Briefe auf das Thema: Generationsübergreifende Freundschaft. Dies aufgreifend habe ich das Buch nun überarbeitet und einige Szenen hinzugefügt (die mir zwischen zeitlich eingefallen waren), habe auch ein Hörbuch aufgenommen, also das komplette Buch vorgelesen – und der Diogenes Verlag hat beides nun zum 10. Todestag veröffentlicht.

 

Was ist aus dem Pferd ‚Alarich’ geworden, mit dem Marion Dönhoff 1945 Ende des Krieges vor den Russen aus Preussen nach Westfalen flüchtete und sieben Wochen unterwegs war?
Sie brachte es zu einem Gestüt, das Freunden gehörte. Dort verlebte Alarich noch ein paar ruhige Jahre.

 

Warum hat sie sich nie mehr auf ein Pferd gesetzt bzw. ist nie mehr geritten?
Das habe ich sie auch gefragt. Ihre Antwort: «Das war einfach vorbei». Sie war in Entscheidungen sehr konsequent, vor allem wenn es um Themen ging, die ihr nahe gingen.

 

Marion Dönhoff hatte Ihnen von Ostpreussen erzählt und ist mit Ihnen im Auto 1992 auch dorthin gefahren, wo praktisch nichts mehr vom Schloss Friedrichstein bei Königsberg/Ostpreussen vorhanden war, wo sie aufgewachsen ist. Wie haben Sie das empfunden und vor allem Marion Dönhoff? Wem gehören diese Ländereien jetzt und was ist daraus geworden?
Wie sie das empfunden hat, schreibt sie auch im oben genannten Bericht. Übrigens fuhr sie 1989, also noch vor Zusammenbruch der Sowjetunion nach Kaliningrad und Friedrichstein. Bei jener Reise begleitete sie ein anderer Neffe. Marion und ich flogen im Juni 1992 im Flugzeug dorthin. Mir fiel auf, dass Marion in der alten Heimat besonders entspannt war. Auch hatte ich den Eindruck, dass es ihr Freude machte die jüngste Generation, zu der ich gehörte, mir ihre Heimat bekannt zu machen.

 

Marion Dönhoff bemühte sich sehr um eine Aussöhnung, sogar polnische Gymnasien tragen ihren Namen. Das ist ungewöhnlich in der deutschen Nachkriegsgeschichte, wo breite Kreise die Verluste der deutschen Ländereien bis heute schwer verkraften und anerkennen können. Hat sie mit Ihnen auch darüber gesprochen?
Sie konnte gut verstehen, dass Vertriebene einen Groll gegen jene hegten, die nun in ihrer Heimat lebten. Aber politisch gedacht sah Marion sehr früh, nämlich seit Ende der 1950er Jahre keine andere Möglichkeit, als die Ostgebiete aufzugeben und sich mit den Polen und den Russen zu versöhnen. Sie hat die Ostpolitik Willy Brandts publizistisch stark unterstützt.

 

In Ihr Buch haben Sie auch ihre abenteuerlichen Reisen und Reportagen aufgenommen, sie war eine begeisterte, furchtlose Reporterin, deren Artikel man auch heute noch mit Vergnügen und Bewunderung liest. Welche ihrer Reisen hat Ihnen selbst Eindruck gemacht?
Mich beeindruckt am meisten, dass Marion und ihre Schwester Yvonne in den 1930er Jahren zwei Mal in einem Cabriolet 4000 Kilometer von Königsberg quer durch Europa bis auf den Balkan und zum Schwarzen Meer und wieder zurück gefahren sind. Davon gibt es auch tolle Fotos, die in dem Buch „Reisebilder“ zu sehen sind.

 

Sie hatten eine besondere Beziehung zu Marion Dönhoff, wie es eigentlich selten ist in Familien-Generationen. Was meinen Sie, was sie beide verband oder eine Seelenverwandtschaft? Was haben Sie an Marion Dönhoff speziell geschätzt?
Ich denke, dass es mehr Verbindungen zwischen den Generationen geben sollte und geben könnte. Beide Seiten müssen mehr aufeinander zu gehen, sich für einander interessieren. Dass Marion und ich uns so gut verstanden, liegt zum Beispiel daran, dass für uns Alter keine Rolle spielt. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass sie 60 Jahre älter war als ich. Wenn wir zusammen um die Welt reisten, war es als würden zwei Geschwister die Welt erkunden. Besonders habe ich ihre innere Unabhängigkeit und die Neugierde geschätzt. Der Spruch «Die Welt ist so, wie man sie sieht» stammt von ihr. Sie hat wirklich so gelebt. Das finde ich toll.

 

 

Humor, Streitlust, Offenheit und Neugierde prägten diese ungewöhnliche Freundschaft. Das Buch enthält auch ein letztes Gespräch, das der Autor wenige Wochen vor ihrem Tod mit Marion Dönhoff führte. Darin erzählt sie von ihrer ostpreussischen Heimat, spricht über Familie und Glauben und zieht ein Resümee ihres Lebens.

 

Friedrich Dönhoff: «Die letzten Gespräche»

«Irgendwann würde ich gern ein Buch über dich schreiben», sage ich wenige Tage nach ihrem 92. Geburtstag zu Marion.
Ihre Antwort: «Okay, wenn du meinst, dass es jemanden interessiert».

 

Wir verabreden, für dieses Vorhaben Gespräche aufzuzeichnen. «Ich bringe ein Aufnahmegerät aus dem Büro mit», sagt Marion, und wir gucken uns ein Wochenende aus.
Das Kaminfeuer brennt. Marion setzt sich in ihren Sessel, ich mich gegenüber. Dackel Felix gesellt sich zu uns und liegt nun lang ausgestreckt vor dem Kamin. Ich schalte das Aufnahmegerät ein (Ausschnitt).

 

Ich hab ja nicht zuletzt auf deinen Rat hin, Zivildienst gemacht. Was würdest du heute raten?
Zivildienst, unbedingt.

 

Warum?
Weil ich alles, was mit Waffen zu tun hat, als eine Versuchung zu falscher Schlussfolgerung empfinde. Dass man denkt, mit mehr Bewaffnung könne man mehr erreichen, ist letztendlich Blödsinn. Man kann wie Kennedy rüsten und reden. Ich glaube, theoretisch ist das sogar richtig. Aber es kommt darauf an, wer es macht. Bei einem wie Bush hat das wenig Sinn. Alleine reden ist gut. Aber allein rüsten ist ganz schlecht. Ausserdem erlangt man mit vielen Waffen gar nicht so viel Macht, wie man denkt. Was nützt den Amerikanern ihre Atombombe? Sie können sie sowieso nicht abwerfen.

 

Wieso nicht?
Weil es ihr eigenes Ende bedeuten würde. Nein. Macht bekommt man anders, durch Energie zum Beispiel. Wer Öl hat, hat Macht. Oder was noch kommt: Wasser. Ich finde, durch den Zivildienst kann man lernen, dass die wichtigen Punkte ganz woanders sitzen als bei der Frage der Macht.

 

Friedrich Dönhoff
«Die Welt ist so, wie man sie sieht»
225 S., Paperbeck mit div. Privatfotos,
CHF 15.90 Euro 9.90 (D). Euro 10.20 (A).
ISBN 978-3-257-24168-6
Erscheinungsdatum: März 2012
Hörbuch, 3 CD, 2 Std. 59 Min., sFr 42.90 / € 24.90 / ISBN 978-3-257-80319-8. März 2012.

 

Friedrich Dönhoff, geboren 1967 in Hamburg, ist in Kenia aufgewachsen. Nach dem Studium der Geschichte und Politik und der Ausbildung zum Drehbuchautor hat er sich zunächst mit Biographien einen Namen gemacht. Seit 2008 schreibt er auch Krimis, die ersten beiden Fälle für Sebastian Fink, Savoy Blues, und Der englische Tänzer, sind im Diogenes Verlag erschienen. Friedrich Dönhoff lebt in Hamburg und ist seit über zehn Jahren Mitglied des Vorstands der Marion Dönhoff Stiftung, die jährlich u.a. auch den Marion Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung vergibt.

 

 

«Sie setzte Masstäbe»

Ein Leseerlebnis: Texte von Marion Dönhoff, Chefredaktorin der ZEIT.
Von Margrit Gerste

 Marion Gräfin Dönhoff war ein Leitbild – nicht nur als Journalistin. Sie war die einflussreichste Journalistin im Nachkriegsdeutschland. Dass die ZEIT eine so grosse Bedeutung im In- und Ausland gewann, hat sehr viel mit der grossen Journalistin und Autorin Marion Dönhoff zu tun. Sie starb 2002 mit 92 Jahren, ihr Todestag jährte sich am 11. März 2012.

 

Man hatte sie ein Stück ihres journalistischen Weges begleiten dürfen, das war ein Glück und ein Vergnügen. Und es war traurig, ohne sie und den Dönhoffschen Geist weiterzumachen. So haben es auch viele Leser empfunden, die ihre liberale publizistische «Erziehung» ihr zu verdanken hatten, noch Jahre nach ihrem Tod kleideten sie ihren Ärger über irgendeinen Artikel gerne in den Satz: «Die Gräfin wird sich im Grabe umdrehen!»
. Gerade in diesen Tagen des politischen Aufruhrs würde man gern wissen, was Marion Dönhoff denkt, über deutschen Chauvinismus, griechische Pleiten, Europas Chancen und die grundstürzenden Ereignisse des neuen Jahrhunderts.
Es gibt eine, nun ja, zweitbeste Möglichkeit, Antworten zu finden. Der Diogenes Verlag ist auf die schöne Idee gekommen, ein «Lesebuch» (so lautet der Titel einer neuen Buchreihe des Verlags) mit Texten von Marion Dönhoff aus sechs Jahrzehnten zu veröffentlichen: «Zeichen ihrer Zeit». Viele Texte sind schon einmal erschienen, die Auswahl und Zusammenstellung durch die Herausgeber Irene Brauer und Friedrich Dönhoff ergibt allerdings ein frisches Leseerlebnis. Marion Dönhoffs Lebensthemen – Demokratie und Verantwortung, politischer Widerstand, Ostpolitik, Kapitalismus und Ethik – hätten, so schreiben die Herausgeber, die Auswahl aus über 2.000 Artikeln, aus Reden und Tagebüchern bestimmt. Dazu kommen Reisereportagen und Porträts berühmter Freunde und Zeitgenossen, besonders lesenswert das des Historikers George F. Kennan.

 

Klingt dies nicht ganz und gar gegenwärtig?
«Die eigentlichen Regenten dieses Landes sind heute die demoskopischen Institute… was für ein kläglicher Gebrauch von der Demokratie.» Oder: «Was haben wir eigentlich mit der berühmten Freiheit, die wir doch besitzen, angefangen? Gelegentlich scheint es so, als würde sie nur dazu benützt, den optimalen Verbraucher zu züchten, damit das Gesetz der Massenproduktion, das den höchsten Lebensstandard garantiert, praktiziert werden könne.»

 

Das hat Marion Dönhoff 1960 geschrieben – und zehn Jahre später:
«Das faszinierte Starren auf Wachstumsraten hat uns für vieles blind gemacht, für die enormen Umweltschäden und für die Tatsache, dass »dem Gott des Wohlstands viel geopfert wurde: geistige Werte, kreative Befriedigung, menschliche Wärme und Anteilnahme. Vielleicht ist ein wohlüberlegtes Gleichgewicht, ein Wachstum von zwei oder drei Prozent auf die Dauer weit zuträglicher als alle Rekordleistungen, denen zahlreiche Minusposten entgegenstehen». Ihr Lebensthema, das in den neunziger Jahren in dem legendären Aufruf gipfelte: «Zivilisiert den Kapitalismus»!

 

Dessen historischem Sieg misstraut Marion Dönhoff wohl als eine der Ersten zutiefst. Die Mauer steht gerade noch, da schreibt sie auf Seite eins der ZEIT:
«Gewiss, als wirtschaftliches System ist der Sozialismus im Wettstreit mit der Marktwirtschaft gescheitert. Aber als Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit für die Unterdrückten, Hilfe für die Schwachen ist er unvergänglich.»

 

Mit welcher Hellsicht und Seelenqual zugleich Marion Dönhoff, deren Heimat immer Ostpreussen blieb, ihr anderes Lebensthema, die Ostpolitik, die Aussöhnung von Deutschen und Polen, entwickelte – auch dies macht das Lesebuch so interessant, und man fragt sich, wo wäre heute ein so tief in der Geschichte verwurzelter Mensch, der das gefährdete Europa neu denkt, jenseits von Kalkulationen in kleinster Euromünze.

 

COURTESY DIE ZEIT, 23.2.2012 Nr. 09

 

Marion Dönhoff setzte sich dafür ein, dass ein Denkmal des Philosophen Immanuel Kant im früheren Königsberg (heute die russische Exklave Kaliningrad) auf dem Platz vor der Universität wieder aufgestellt werden konnte. Im Diogenes-Lesebuch schildert Marion Dönhoff ihre «Reise ins verschlossene Land. Oder: eine Fahrt für und mit Kant», wie schwierig es war, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Jahre nach dem Krieg hatte sie erfahren durch einen Russen, dass die Statue verschwunden sei.

 

Aus dem Lesebuch „Zeichen ihrer Zeit“:
«Ich brachte eine Skizze zu Papier, zeichnete auch die nächstgelegenen Gräben ein, weil ich dachte, irgendwelche klassenbewussten Komsomolzen hätten vielleicht den vermeintlichen Junker in einem Graben verschwinden lassen – aber alles Suchen war vergeblich.
 Zwar war ich für diesen Verlust nicht verantwortlich, aber er ging mir doch auf besondere Weise nahe. So beschloss ich herauszufinden, ob vielleicht die Gipsform noch irgendwo zu finden sei. Der ehemalige Direktor der staatlichen Schlösser und Gärten, Martin Sperlich, war sogleich bereit zu helfen. Er schrieb an seine Kollegen, auch an die in der DDR. Zwar führte ihn diese Aktion nicht zu dem erhofften Erfolg, aber er machte dabei eine wichtige Entdeckung: In der Gipsformerei in Charlottenburg gibt es noch die Gipsform einer Statuette von Kant – auch sie von der Hand Rauchs. Sie praktisch identisch mit dem verschwundenen Denkmal, aber eben nicht in Lebensgrösse, sondern nur etwa sechzig Zentimeter hoch. Da ich gerade den hochdotierten Heine-Preis der Stadt Düsseldorf erhalten hatte, gab ich den Bronzeguss in Auftrag – und den haben wir jetzt nach Könisberg transportiert».
Marion Dönhoff brach also mit Immanuel Kant auf dem Rücksitz einer ‚Ente’ bei Kilometerstand 35 626 nach Berlin auf. Früher war sie die Strecke Berlin-Königsberg oft mit dem Auto gefahren: 600 Kilometer, leicht an einem Tag zu bewältigen, wie sie schreibt. Aber die Sowjets erlaubten nur den Weg über Warschau-Brest-Wilna. Als sie am zweiten Tag in Königsberg ankamen, waren sie 1600 Kilometer statt 600 Kilometer gefahren. Dann ging es quer durch Polen, von Frankfurt/Oder bis zur sowjetischen Grenze in Brest über schnurgerade, baumlose Strassen, gut gepflegte Felder, ohne westliche Autos.
«Auf den 3500 Kilometern dieser Reise haben wir nicht mehr als ein halbes Dutzend Personenwagen mit westlichen Nummern getroffen.
Und dann, die Sonne stand schon tief, fast berührte sie den Horizont, taucht plötzlich ein Ortsschild auf, das mich elektrisiert: ‚Wirballen’. Es ist auf der ganzen Reise der einzige Ort, der seinen alten Namen behalten hat. Wirballen, das war in früheren Zeiten die Grenze zwischen Ostpreussen und Litauen. Dort beginnen die herrlichen Alleen, dicke schwarze Stämme, deren dichtes Geäst oben zusammenstrebt, so dass man das Gefühl hat, eine Kathedrale vor sich zu haben. Es sind uralte Linden, zuweilen auch Eschen oder Eichen, auch eine kilometerlange Birkenallee. Die Zeit scheint stillzustehen».

Die Stadt Königsberg wurde im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört. Nur sechs Prozent der Häuser waren stehen geblieben. Die Stadthalle, während des 19. Jahrhunderts im klassischen Stil erbaut, blieb unversehrt, berichtete Marion Dönhoff weiter. Der Dom stand als imponierende Ruine auf seiner Insel, wie auch einige der alten Forts. Nichts erinnerte sie mehr an das alte Königsberg. Niemand von den 400 000 Russen, die heute dort wohnen, wüssten, wie das alte Königsberg ausgesehen hat. 1945 war alles zerstört, aber heute steht da eine riesige Stadt, nicht gerade schön nach unseren Begriffen, übersät mit typischen Denkmalen, wie die Russen sie lieben. Erfreulich sei, dass es viel Grün gäbe in der Stadt und natürlich die alten Seen, den Schlossreich und den Oberteich, so Dönhoff. Sie hatte noch den Beginn der Zerstörung erlebt, als die Engländer im Herbst 1944 mit einem Grossangriff schweren Schaden anrichteten und die Bomben die lange Kette der alten Speicher vernichteten.

«Meine Heimat Friedrichstein liegt zwanzig Kilometer östlich von Königsberg. Nun war ich also eine halbe Stunde von diesem Ort entfernt – sollte ich ihn besuchen oder ihn lieber so im Herzen bewahren, wie er für mich zum Inbegriff von Heimat geworden war? Ich schwankte, schliesslich war die Anziehungskraft stärker als das Bedenken. Wir fuhren. Als wir nach Löwenhagen kamen und links nach Friedrichstein einbogen, hielt ich den Atem an: Ob die Allee noch stand? Ja, sie steht. Freilich, einige der alten Recken hatten sich zum Sterben gelegt – kein Wunder, man schrieb das Jahr 1747, als ein Vorfahr sie pflanzte.
Weiter nach Friedrichstein den Hohlweg hinunter. Der erste Blick fällt auf den verträumten See, schön wie eh und je, zumal jetzt, da die Baumkronen, die ihn einrahmen, vom ersten herbstlichen Glanz verklärt sind. Aber was man dann sieht oder vielmehr nicht sieht, ist unfasslich: Das riesige Schloss ist wie vom Erdboden verschluckt, nichts ist davon geblieben, nicht einmal ein Trümmerhaufen. Wir müssen eine Weile suchen, ehe wir finden, wo genau es gestanden hat. Vom Rasenplatz, den Hecken, den Wegen ist nichts mehr zu sehen. Die alte Mühle – einfach weg, der lange Pferdestall – weg auch er. Alles ist überwuchert von Sträuchern, Brennnesseln, heranwachsenden Bäumen. Ein Urwald hat die Zivilisation verschlungen.
 Der nächste Tag ist Immanuel Kant gewidmet. Kant wird in Kaliningrad sehr verehrt. Übrigens auch Schiller; dessen Denkmal ist wieder aufgestellt, und einmal im Jahr versammeln sich dort Studenten und tragen Gedichte vor. Jurij Iwanow sagt: Kant gehört nicht den Russen und auch nicht den Deutschen, er gehört der Menschheit.
 Beim Bürgermeister im Rathaus wird bei einer Kaffeetafel, auf der unsere Rauch Kant-Büste steht, in Gegenwart von allerlei Honorationen über Geschichte, Zukunft und unser Geschenk philosophiert. 
In den langen Wartestunden auf der Rückreise frage ich mich, was denn wohl von dieser Reise bleibt. Ich glaube, neben dem Eindruck, wie ausserordentlich liebenswert und menschlich die Russen sind, hat sich für mich ein merkwürdiger Bedeutungswandel vollzogen. War Friedrichstein bisher eine Realität, unerreichbar zwar, aber doch existent, so ist es jetzt zu einer unwirklichen Erscheinung der Traumwelt geworden – und da ist es eigentlich ganz gut aufgehoben».

 

 

Marion Gräfin Dönhoff
«Zeichen ihrer Zeit»
Irene Brauer (Hg.), Friedrich Dönhoff (Hg.)
ISBN 978-3-257-06805-4
Artikel aus der ZEIT, Reiseberichte, Tagebucheinträge, Briefe, Porträts, Reden. Diogenes Zürich 2012 Hardcover Leinen, 496 Seiten, sFr 42.90 /€ (D) 24.90 / / € (A) 25.60. März 2012.

Hörbuch , 3 CD, 2 Std. 59 Min., € 24.90 / sFr 42.90

Marion Gräfin Dönhoff, Irene Brauer (Hg.), Friedrich Dönhoff (Hg.)
ISBN 978-3-257-60138-1 E-Book, 496 Seiten, € (D) 22.99 / sFr 34.00* / € (A) 22.99. Erscheint im April 2012.

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