FRONTPAGE

«55. Solothurner Filmtage – Die Welt aus Schweizer Sicht»

Von Rolf Breiner

Wie alljährlich im Januar lädt Solothurn zum Treffen der Film- und Fernsehbranche, der Filmschaffenden und Filminteressierten. Und es ist auch eine Premiere für Anita Hugi, die neue Direktorin der Filmtage. Die Retrospektive ist der Filmschaffenden Heidi Specogna gewidmet.

An den 55. Solothurner Filmtagen (22. bis 29. Januar 2020) werden annähernd 180 aktuelle Schweizer Filme aufgeführt. Dazu kommen die Filme der Rencontre, der historischen Programme (Cinéma Copines, Filmo) und die Hommagen. Den Auftakt macht Micha Lewinskys Spielfilm «Moskau einfach» am 22. Januar.  Der Filmer befasst sich mit der sogenannten Fichen-Affäre in den Achtzigerjahren, wo die staatlichen Überwachungspraktiken ans Licht kamen. Ein Film, der Sittenbild, Politsatire und Geschichtslektion zu sein verspricht und ein Thema behandelt, das uns heute erst recht betrifft.

Im Panorama des Schweizer Films spiegeln sich Trends, Bedürfnisse, aktuelle und historische Probleme. Das Spezialprogramm Fokus widmet sich dem Thema «Im Bann der Serien» und die Retrospektive der Filmschaffenden Heidi Specogna. Natürlich werden wieder Preise verliehen, allen voran der Prix de Soleure, dotiert mit 60 000 Franken, und Prix du Public (20 000 Franken). Es werden wie 2019 wieder um die 60 000 Besucher oder mehr erwartet.

 

 

55. Solothurner Filmtage 2020:

«Evolution statt Revolution: Premiere für Anita Hugi, neue Direktorin der Filmtage»

 

Von Rolf Breiner

 

Die Schweizerische Gesellschaft Solothurner Filmtage (SGSF) wählte Anita Hugi zur neuen Direktorin, die ihr Amt am 1. August 2019 antrat. Sie ist damit die zweite Frau, welche die Filmtage leitet – nach Seraina Rohrer (2011-2019). Auf den Gründer Stephan Portmann (1967-1987) folgte Ivo Kummer (1987-2011). Anita Hugi, 1975 in Grenchen geboren (Sternzeichen: Löwe) und in Biel aufgewachsen, kann einen breiten Leistungsausweis vorweisen – als Journalistin, Filmerin und Produzentin, Fernsehredaktorin («Sternstunde Kunst», 2005-2016) und Programmdirektorin des Festivals International du Film sur l’Art (Fifa) in Montreal (2016-2018).

 

Wir sprachen mit Anita Hugi, der neuen Direktorin der Filmtage, über ihre Intensionen und Ambitionen und Themen.

Anita Hugi, Sie haben im August 2019 die Leitung der Solothurner Filmtage übernommen. Was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Anita Hugi: Solothurn ist der zentrale Ort des Schweizer Films, quasi der Geburtsort des Schweizer Filmschaffens, wie wir es heute kennen. In Solothurn kommt alles zusammen. Hier kann man die Kreationen des Filmemachens erleben, es werden aber auch seit 1966 klare Forderungen zur Filmförderung und kulturpolitische Fragen zur Diskussion gestellt. Der Schweizer Film zeigt sich in all seinen Facetten. Man begegnet der Schweiz – durch den Film und im Gespräch danach. Solothurn ist ein zentraler Punkt des Austausches. Filmprogramm und Rahmenprogramm sind sehr vielseitig. Eine Premiere bieten wir im Industrieareal Attisholz. Hier wird dieses Jahr der Upcoming Award für die besten Nachwuchsfilme («Talents») verliehen, und es findet an den 55. Solothurner Filmtagen erstmals eine gemeinsame Party der Schweizer Filmschulen statt.

 

Sie können auf ein erfahrenes Team zurückgreifen. Wie sind Sie vorgegangen, welche Ambitionen haben Sie?
Ich habe meine Aufmerksamkeit zu allererst auf das Programm der kommenden Filmtage gerichtet – es mir blieben ja nur wenige Monate. Ich wollte zweitens die Geschichte und die Stukturen der Filmtage von innen kennenlernen, die Abläufe verstehen. Die Filmtage haben ja eine riesige Tradition. Ich wollte nicht alles umkrempeln. In einer ersten Ausgabe setzte ich Akzente, bleibe in der Kontinuität. Also nicht Stop and Go, sondern Evolution statt Revolution.

 

Kommen Ihnen die Erfahrungen von Montreal zugute und wenn wie?
Das Filmfestival von Montreal hat ebenfalls eine grosse Tradition und ein Stammpublikum. Für mich heisst das: Tradition bewahren und Zukunft gestalten. Erneuerung geschieht – so hat es der Künstler Dieter Roth schön gesagt – an den Rändern. Deshalb wird das Stammpublikum in Solothurn wieder das finden, was sie hier lieben. Und ich versuche gleichzeitig, das Bisherige zu stimulieren und ein zusätzliches Publikum anzusprechen.

 

Sie haben über Jahre die «Sternstunden Kunst» beim Schweizer Fernsehen geprägt. Was bringen Sie mit von dieser Tätigkeit?
Ich hatte und habe die ganze Schweiz im Blick. Das heisst Kontinuität, Ansporn, Verstehen der Themen und Anliegen der Filmschaffenden, Anstossen von Produktionen. Das sollte man nicht vergessen: Das Schweizer Fernsehen engagiert sich für unabhängiges Filmschaffen und fördert freies Filmschaffen.

 

Sie waren oder sind Mitglied des Verbandes Freier Berufsjournalistinnen und Berufsjournalisten Zürich und ihre Präsidentin. Man hört nicht mehr viel von dieser Vereinigung.
Er wurde in den Sechzigerjahren, insbesondere von – den ersten – Journalistinnen gegründet, die Mitglieder sind älter geworden. Der Verein hatte den kollegialen Austausch zum primären Ziel. Der FBZ befindet sich quasi im Winterschlaf.

 

Sie waren als Produzentin und Regisseurin tätig, etwa bei der «Roten Hanna» oder «Dad Data». Nun haben Sie eine andere Funktion übernommen, wie würden Sie sie umschreiben?
Wir haben aus mehr als 600 aktuellen Schweizer Filmen ausgewählt und zeigen in Solothurn 178. Ich möchte Sichtbarkeit vermitteln, Solothurn ist ja Festival und Werkschau zugleich. Zu den neuen Schweizer Filmen kommen die Spezialprogramme wie die Rencontre und die filmhistorischen Programme dazu. Die Vielfalt des Schweizer Filmschaffens wird hier sichtbar, erfahrbar. Wir verstehen uns als Forum und Gastgeber, und ich sehe mich als Direktorin auch als Vermittlerin.

 

Mit welchem Ziel..?
Ich möchte verstärkt auch junge Leute ansprechen und ihnen die Magie des Kinos nahebringen. Solothurn ist für mich zweitens ein Ort des gemeinsamen Nachdenkens – über Film, und mittels des Films über gesellschaftliche Fragen. Es zeigt sich, dass ein neues Bewusstsein für Umweltfragen und geopolitische Zusammenhänge angebrochen ist. Anstatt zu reden, handeln wir etwa gegen den Klimawandel. Das schlägt sich auch in zahlreichen Filmen nieder, über Umweltschutz und Flüchtlingsfragen.

 

Gibt es auch Licht am Horizont?
Trotz allem Leid in den Flüchtlingsfragen gibt es auch positive Entwicklungen. Etwa, dass sich beim Versagen der Staaten die einzelnen Personen, das Individuum engagiert. Positives gibt es auch bei der Genderentwicklung. Und das Filmschaffen von Frauen nimmt zu, bei den Kurzfilmen bis zu 59 Minuten Dauer haben wir gleich viele Werke von Regisseuren und Regisseurinnen im Programm.

 

Wenn Sie Wünsche für 2020 frei hätten, was wären die?
In Sachen Klimawandel oder Flüchtling sollte das individuelle Engagement endlich auch ein stärkeres Echo in der Öffentlichkeit finden und gesellschaftspolitische Wirkungen zeigen – die Filmschaffenden haben ihren Teil dazu beigetragen. Jeder Film kann als Anstoss zum Überdenken angestammter Meinungen wirken. Meine allgemeine Devise: Lieber Machen als wünschen! Wenn es ums Wünschen geht, dann würde ich sagen: Ich wünsche mir mehr Solidarität – und natürlich, dass die Menschen in Solothurn eine tolle Zeit erleben.

 

 

Solothurn 2020 – Fakten und Filme

 

Eintritte 2019: 64 971
55. Solothurner Filmtage 22. bis 29. Januar 2020
Budget 3,339 Millionen Franken
178 Filme
Eröffnung am 22. Januar mit Bundesrat Alain Berset.
17.30 Uhr Reithalle: «Moskau einfach!» von Micha Lewinsky

 

Prix de Soleure (60 000 Franken), 12 Dokumentar- und Spielfilme u.a. «Jagdzeit», Spielfilm über Firmenmachtkampf von Sabine Boss, «Al-Shafaq», Spielfilm die Verluste junger Männer im «Heiligen Krieg» von Esen Isik, «Volunteer», Dok über freiwillige Helfer in Griechenland von Anna Thommen und Lorenz Nufer, «Wer sind wir?», Dok über Jugendlich mit starkem Handicap von Edgar Hagen, «Where We Belong», Dok über Trennungskinder von Jacqueline Zünd.

 

Prix du Public (20 000 Franken), 12 Filme u.a. «Baghdad in My Shadow» von Samir, «Bruno Manser – Die Stimme des Regenwaldes» von Niklaus Hilber, «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» von Natascha Beller, «Les particules» von Blaise Harrison, «Moskau einfach!» von Micha Lewinsky, «Contradict» von Peter Guyer und Thomas Burkhalter, «Madame» von Stéphane Riethauser, «Tambour battant» von François-Christophe Marzal.

 

Panorama/Dokumentarfilme, 54 Filme u.a. «Das Forum» von Marcus Vetter, «Das letzte Buch» von Anne-Marie Haller, «Der Bär in mir» von Roman Draux, «Der nackte König – 18 Fragmente über Revolution» von Andreas Hoessli, «Die Chefinnen» von Belinda Sallin, «Die Rückkehr der Wölfe» von Thomas Harat, «Fliancées» von Julia Büntner, «Golden Age» von Beat Oswald, «Irma Ineichen – Erinnerungen an Paris 1951-1955» von Tobias Ineichen, «Paul Nizon – Der Nagel im Kopf» von Christoph Kühn, «Shalom Allah» von David Vogel, «The Song of Mary Blane» von Bruno Moll.

 

Panorama/Spielfilme, 15 Filme u.a. «Aus dem Schatten – Eine Zeit der Hoffnung» von Marcel Gisler, «La Gomera» von Corneliu Porumboiu, «Les hiradelles de Kaboul», Trickfilm Zabou Breitman und Eléa Gabbé-Mévellec, «The Harvesters» von Etienne Katles, «Wir Eltern» von Eric Bergkraut.

 

Familienfilm («Die drei(!)»),

Kurz- (12) und Trickfilme/Wettbewerb (11), Upcoming/Talents (22).
Fokus: Schweizer und Internationale Serien u.a. «Bulle»(Episode 1 und 2), «Helvetica» (Episoden 1 bis 3), «Nr. 47» (Staffel 4, Episoden 1 bis 5), «Wilder» (Staffel 2, Episode 4 & 5)

 

Rencontre: Heidi Specogna, 11 lange und 5 Kurzfilme
Histoires du cinéma suisse, u.a. «Le chemin perdu» (1979), «Zanzibar» (1989), «Anna Göldin» (1991), digital restaurierte Fassung (Edition filmo)
Hommages: «Res Balzli – Step Across the Border» (1990), «Bruno Ganz – Messer im Kopf» (1978), «Claude Goretta – Pas si méchant que ça» (1975).

 

Ticketing: www.solothurnerfiomtage.ch/tickets
Reservationen können jeweils am Vortag der Vorstellung getätigt werden.
Infos: www.solothurnerfilmtage.ch

 

55. Solothurner Filmtage – «Prix du Public» für Samir und «Prix de Soleure» für Boutheyna Bouslama

 

I.I. Der irakisch-schweizerische Regisseur Samir erhält für «Baghdad in my Shadow» den mit CHF 20’000.- dotierten Publikumspreis für die Geschichte einer irakischen Exilgemeinschaft, die sich täglich im Londoner Café Abu Nawas trifft und deren Leben dramatische Wendungen nimmt (siehe auch Archiv Filmtipps Literatur & Kunst). Die Preissumme geht je zur Hälfte an Regie und Produktion (Dschoint Ventschr Filmproduktion). Der Film läuft derzeit in den Deutschschweizer Kinos und startet am 19. Februar 2020 in den Kinos der Westschweiz.
Boutheyna Bouslama nahm den zwölften «Prix de Soleure» für ihren Erstling «A la recherche de l’homme à la caméra» entgegen. Die tunesische Regisseurin erzählt in ihrem Dokumentarfilm von der dreijährigen Odyssee, zu der sich die Suche nach ihrem Jugendfreund entwickelt. Sie trifft Menschen, die den vermissten syrischen Medienaktivisten kannten und zeichnet das vielschichtige filmische Porträt einer unsichtbaren Person. Die Jurymitglieder Ursula Meier, Cemile Sahin und Mirko Manzoni zeigten sich beeindruckt «von der Narration, der filmischen Handschrift und der deutlichen Haltung gegenüber der Leerstelle, die ihr Freund hinterliess. Mit ihrem Film macht Boutheyna Bouslama die Verschwundenen von Kriegen und vergessenen Konflikten sichtbar. Sie tut dies mit einer Aufrichtigkeit, die viel öfter nötig wäre». Boutheyna Bouslama wurde an der Kunsthochschule HEAD in Genf zur visuellen Künstlerin und Filmemacherin ausgebildet. Nachdem die Aufenthaltsbewilligung für ihr Studium abgelaufen war, musste sie die Schweiz verlassen und lebt seither in Istanbul. «A la recherche de l’homme à la caméra» ist eine Koproduktion der Genfer Produktionsfirma Close Up Films.

 

 

«55. Solothuner Filmtage: Neue Führung auf bewährtem Kurs»

Von Rolf Breiner

Die Lichter in den verschiedenen Solothurner Kinospielstätten sind ausgegangen, die neue Leiterin Anita Hugi zieht eine positive Bilanz: Die Preise sind vergeben, das Programm stimmte und die Säle waren sehr gut besucht – mit 66 000 Zuschauern und Zuschauerinnen. Wie blicken zurück: Acht Filmtage –acht Aspekte.

 

Leitung/Leitfaden – Im Vorfeld hatte die neue Leiterin bereits annonciert, dass sie die Filmtage nicht umkrempeln werde. Natürlich werden sanfte Anpassungen und auch Neuerungen vorgenommen wie beispielsweise die Party der Filmschulen in Attisholz Nord (etwas aussehalb Solothurns), aber auch für Hugi stehen Filme und Filmschaffende im Vordergrund. «Die Filme bilden ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Themen ab», meint die Filmtagedirektorin. «Mir ist wichtig zu betonen, es sind nicht wir, die die Themen definieren, sondern die Filmschaffenden mit ihren Filmen selbst.» Souverän, unaufgeregt und versiert hat die Bielerin ihre ersten Filmtage, notabene die 55., über die Bühne gebracht und dabei angedeutet, dass ein wichtiger Teil des Zielpublikums junge Filminteressierte seien.

 

Preissegen – Kein Festival ohne Preise, keine Filmtage ohne Preise. Der Bogen spannt sich von Förderpreisen (Upcoming Talents) an Dejan Barac und ihrem kurzen Dokumentarfilm «Mama Rosa» über Prix d’honneur, dotiert mit 10 000 Franken, (er ging an die Filmverleiherin Bea Cuttat) bis Prix Swissperfom und die beiden Hauptpreise Prix de Soleur (60000 Franken) und Prix du Public (20 000 Franken). Stefan Kurt, national wie international eine Schauspielergrösse, wurde mit einem der vier Prix Swissperform 2020, dotiert mit je 10 000 Franken (vormals Fernsehpreis) ausgezeichnet (Jury-Preis), und zwar für seine zwielichtige Rolle als Dr. Sennhauser in dem Fernsehfilm über Psychiatriebehandlung. Aus dem Schatten – Zeit der Hoffnung». Eine Fernsehproduktion mit Kinoqualität übrigens. Gern würde Regisseur Marcel Gisler ihn auf unsere Anfrage hin im Kino sehen, aber er hat seine Zweifel, ob sich ein Verleiher finden würde, eben weil sein Film bereits vom Schweizer Fernsehen im Oktober ausgestrahlt wurde. Weitere Preisträger waren Lorena Handschin für die beste weibliche Hauptrolle in «Nr. 47». Roland Vuilloz wurde, als bester Hauptdarsteller in «Helvetica» und Manuela Biedermann als beste Nebendarstellerin in «Wilder» ausgezeichnet. Die tunesische Regisseurin Boutheyna Bouslama erhielt den Prix Soleur für ihren Erstling «A la recherche de l’homme à la caméra». Sie erzählt in ihrem Dokumentarfilm von der dreijährigen Odyssee, zu der sich die Suche nach ihrem Jugendfreund entwickelt. Den Publikumspreis (Prix du public) in Solothurn gewann Filmemacher Samir für den Spielfilm «Baghdad in My Shadow». Er schildert die Ereignisse um eine irakische Exilgemeinschaft in London.

 

 

Förderung und Annoncierung
Ein Frauen-Kollektiv gewann den 10. Migros-Kulturprozent CH-Dokfilm-Wettbewerb. Fünf Regisseurinnen und zwei Produzentinnen aus der Romandie und der Deutschschweiz nahmen am 24. Januar 2020 den Preis für «Les Nouvelles Èves» (Emilia Productions, ZH) entgegen. Die Realisierung des Gewinnerprojekts wird mit 400 000 Franken sowie zusätzlich von der SRG SSR mit 80 000 Franken finanziert. Dieses spezielle Dokfilm-Kulturengagement wird beendet. Wie Hedy Graber, Leiterin bei der Migros für Kultur und Soziales, mitteilte, wird das Kulturprozent neu ausgerichtet, wobei der Migros-Kulturbeitrag nicht gekürzt, sondern anders verteilt und gewichtet wird. Die Bereiche Tanz, Musik und Theater sollen stärker unterstützt werden. Man möchte gewisse Einschränkungen abbauen und sich einen breiteren Kreis berücksichtigen. Dabei soll ausdrücklich die Förderung der Künstlernachwuchs ausgebaut werden. «Bei der Bühnenkunst, der bildenden Kunst und beim Film sind wir dabei, neue Projekte zu entwickeln», verspricht Hedy Graber

 

Immer wieder gibt der Schweizer Filmpreis zu reden, so auch wieder anlässlich der Nacht der Nominationen in Solothurn. Nominiert wurden von der Akademie die üblichen Verdächtigen «Bruno Manser», «Moskau Einfach!». «Baghdad in My Shadow» etc. Doch ein Film fehlte gänzlich, nämlich Sabine Boss‘ «Jagdzeit». Das packende, sensible Managerdrama mit Stefan Kurt und Ulrich Tukur startet zwar erst im Februar, doch das hätte nicht weiter gestört, wenn die Jury den Film rechtzeitig gesehen hätte, denn es kommt nicht auf 2019 oder 2020, sondern auf die Sichtung an. Weil aber die Nomination vor die Solothurner Aufführung in Solothurn gelegt wurde, kam «Jagdzeit» für eine Nomination nicht infrage. Dafür kann man kein Verständnis aufbringen. Das Academy-Prozedere muss überdacht und schleunigst geändert werden!

 

 

Spuren/Spurensuche
Bemerkenswert. Manche Filmer und Filmerinnen haben sich auf Spurensuche begeben. Das geht von Bruno Manser («Die Stimme aus dem Regenwald»), dem Umweltkämpfer in Borneo, über den Solothurner Kunstmaler Frank Buchser («The Song of Mary Blane»), der in Amerika in geheimer Mission unterwegs war und Indianer malte, bis zu Paul Nizon («Der Nagel im Kopf»), dem Schweizer Schriftsteller, der Mitte der Siebzigerjahre nach Paris zog («Für mich ist Paris zum Schicksal geworden», Nizon).Christoph Kühn («Bruno Maser – Laki Penan», Dokumentarfilm) ist dem Dichter nach Paris gefolgt, um dem Leben des «Exilanten» auf die Spur zu kommen. Was hat ihn bewegt, was treibt ihn, wie lebt er an der Seine? Spurensuche ganz anderer Art Barbara Erni in ihrem kurzen Dokumentarfilm «Making of Makin Nothing» (19 Minuten). Die Fotografin aus Chur, die in Lausanne lebt, hat in der Fotokiste gegraben und die Geschichten ihrer Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter ans Licht gebracht. Liebeswürdig. Ganz anders Daniel Howald. In seiner Recherche «Who’s Afraid of Alice Miller?» reist er mit Martin, dem Sohn der bekannten Psychologin Alice Miller nach Polen, um die wahre Geschichte seiner jüdischen Eltern zu «entlarven». Einer der stärksten Dokumentarfilme an den 55. Filmtagen.

Frauenpower
Viele Filmerinnen haben in Solothurn Spuren hinterlassen. So finden auch ältere Schweizer Filme einen Platz an den Filmtagen. Diesbezüglich sei besonders die Wiederaufführung des Spielfilms «Anna Göldin – letzte Hexe» aus dem Jahr 1991 erwähnt. Mit modernsten Methoden digitalisert, beeindruckt der Film über eine historische Figur noch immer. Gertrud Pinkus, eine Gefährtin des Filmtage-Gründers Stefan Portmann, hatte das Buch von Eveline Hasler verfilmt. Das Solothurner Programm «Histoires du cinéma suisse» zeigte zudem unter dem Titel «Cinéma Copines» fünf Spielfilme dreier Filmpionierinnen aus den Jahren 1977 bis 1991 – von Patricia Moraz, Christine Pascal und Paule Muret. Nicht von ungefähr ist die diesjährige Retrospektive (Rencontre) der Bielerin Heidi Specogna gewidmet («Das Schiff des Torjägers», «Deckname: Rosa», «Pepe Mujica – el presidente» u.a.)
Entdeckungen
Wer dem Treiben von Frauen über 30 noch nicht im Kino beiwohnte, sollte dies möglichst nachholen. Natascha Beller proklamiert schelmisch «Die fruchtbaren Jahre sind vorbei» und macht den Frauen Beine, die Kinder- und Liebesglück suchen, aber… Um eine Frau geht es auch im Dokumentarfilm «Das letzte Buch» von Anne-Marie Haller. Die Bernerin Katharina Zimmermann ist über 80 Jahre rüstig, blickt auf ein Leben als Pfarrersgattin in Borneo und Schriftstellerin in der Schweiz zurück. Sie erzählt vom Amisbühl, dem ehemaligen Hotel ihrer Grosseltern ebenso wie von ihrem Leben in Indonesien. Und noch eine Frauengeschichte der ganz besonderen Art. Im Spielfilm «Insoumises», was so viel wie unbeugsam, nicht unterwürfig bedeutet, wird das Schicksal eines jungen Schweizer Arztes auf Kuba um 1819 beschrieben (nach wahrer Begebenheiten). Enrique Faber behandelt Weisse wie Schwarze, Grundbesitzer wie Sklaven, geflohene, befreite, gleich, heiratet die Farbige Juana und wird als Frau «entlarvt» und verurteilt. Ein wuchtiger Kinofilm von Laura Cazador und Fernando Perez mit Sylvie Testud in der Hauptrolle.

 

 

Kurz und kernig
Nicht nur in Solothurn lohnt es sich in die Sektionen mit Kurz- und Animationsfilmen reinzuschauen. Dort kann man immer wieder Kleinode entdecken. Samuel Flückiger etwa erzählt in seinem Kurzspielfilm «Fernsterlos» von einer Mutter (Elvira Plüss), die ihr Baby der sogenannten Babyklappe in Einsiedeln anvertraute. Nach 35 Jahren will sie wissen, was ihrem Baby geworden ist und trifft auf eine junge Frau (Sarah Spale, «Wilder»), die nichts von ihr wissen will. Kunstvoll vereint Christina Benz Zeichnungen, Lyrik und Musik. Sie zeichnet ihre Geschichte in schwarzen Sand, animiert sie in Stop-Motion-Technik (Shifting Sands) und untermalt sie mit Lyrik, im Fall vom Trickfilm «Fulesee» mit Texten und Musik der «Astronauten». Und wenn Sie wissen wollen «Warum Schnecken keine Beine haben», schauen Sie in den Trickfilm von Aline Höchli.

 

 

Bilanz
Reich war das Angebot der 55. Ausgabe und erfolgreich beim Publikum mit 66 000 Eintritten, damit wurde die letztjährige Bilanz übertroffen bei einer Auslastung von 70,5 Prozent (plus 2 Prozent gegenüber 2019). Nur im Jahr 2015 kamen mehr Besucher, nämlich 68 000. Bis auf gewisse Stauzeiten morgens funktionierte das Online-Ticketingsystem praktikabel. Das Anstehen und Gedränge hielt sich im Rahmen. Zu überdenken wäre freilich, ob man nicht Programme oder organisierte Gespräch hier und dort verschlanken sollte, wobei Serien und allfällige Produktionen à la Netflix (mit Schweizer Beteiligung) zu bedenken wären. Die 56. Solothurner Filmtage finden vom 20. bis 27. Januar 2021 statt.
Oscar 2020: «Parasite» macht das Rennen
Zum ersten Mal hat ein nichtenglischer Film die Oscarhürde geknackt, das koreanische Sozialdrama «Parasite» war die Überraschung des Abends (Filmtipp siehe auch Archiv Literatur & Kunst). En bref:
«Parasite» holt vier Oscars nach Südkorea: Regisseur Bong Joon Ho schreibt Geschichte für seine Heimat.
Joaquin Phoenix und Renée Zellweger gewinnen die Oscars für «Joker» und «Judy».
Brad Pitt gewinnt seinen ersten Oscar für den «Besten Nebendarsteller» in Tarantinos «Once Upon a Time in Hollywood». Der Film hat auch den Preis für das beste Set erhalten.
Laura Dern ist beste Nebendarstellerin Oscar für die beinharte Scheidungsanwältin in «Marriage Story».
Das Kriegsdrama «1917» von Sam Mendes holt drei Oscar-Auszeichnungen.
«Bester Originalsoundtrack» geht an das Drama «Joker».
Die Obamas holen eine Auszeichnung für die Dokumentation «American Factory».

10. Februar 2020

 

 

 Fotoausstellung in Winterthur: «Because the Night»

 

I.I. Die vielen Facetten des Nachtlebens fängt die Ausstellung «Because the Night» im Fotomuseum Winterthur ein. Ende der 1970er-Jahre schrieb Patti Smith mit Bruce Springsteen einen ihrer grossen Hits. «Because The Night» erzählt von Liebe und Freiheit. Und davon, dass beide nur in der Nacht möglich sind. 

 

Der nächtlichen Flucht aus dem Alltag widmet sich auch die neue Ausstellung im Fotomuseum Winterthur. Und dass diese Alltagsfluchten nicht bloss eskapistisch sind, sondern viel mit Identitätssuche in unterschiedlich rigiden Gesellschaften zu tun haben, zeigt die Schau auch. Die thematische Ausstellung «Because the Night» widmet sich dem verheissungsvollen Motiv der Nacht. Anhand fotografischer Werkkomplexe von Bieke Depoorter, Georg Gatsas, Thembinkosi Hlatshwayo, Bárbara Wagner und Benjamin de Burca sowie Tobias Zielony wird das Geschehen jener besonderen Stunden in unterschiedlichen kulturellen und topografischen Settings gezeigt. Die vielen Facetten des Nachtlebens, die visuellen Sprachen verschiedener Musikszenen und die Ausdrucksweisen einzelner Subkulturen spielen dabei eine zentrale Rolle, ebenso wie die dunkle Tonalität und die spezifische Beleuchtung, die die geheimnisumwobene Atmosphäre der Nacht widerspiegeln: «…because the night has a thousand eyes…»

 

Für viele sind Clubs und Bars Orte der Freiheit, des Eskapismus und der Unterhaltung. Der Thrill ihres Besuchs beruht jedoch auch darauf, dass dort eigene Regeln gelten, die sich oft in Grenzüberschreitungen und exzessivem, manchmal gar gewalttätigem Verhalten äussern. Gleichzeitig sind sie genauso Zufluchtsorte und geschützte Räume, innerhalb derer (geheime) Identitäten verhandelt oder ausgelebt werden, wo sich Subkulturen und Gemeinschaften abseits des Mainstreams und normierter gesellschaftlicher Wertvorstellungen frei entfalten können. Die Ausstellung Because the Night präsentiert Arbeiten, die die mit dem Nachtleben verbundenen komplexen Beziehungsgeflechte sowie deren soziale Wertsysteme und politische Verortung betrachten, die in einen Dialog mit den radikal persönlichen Perspektiven von Bieke Depoorter und Thembinkosi Hlatshwayo treten und einen intimen Einblick in die nächtlichen Aushandlungsprozesse des Selbst mit seiner Umwelt geben. Die präsentierten, internationalen Positionen sind Spiegel einer jüngeren KünstlerInnen-Generation, die sich inmitten gegenwärtiger Umbrüche und komplexer, durch politische Prozesse aufgeladener Zustände bewegt und diese vorbehaltslos dokumentiert.
www.fotomuseum.ch

 

 

 

Filmtipps

 

 

 

 
Il Traditore
rbr. Mafiathriller und Prozessdrama. Ein beliebter Hinweis im Vorspann: Die Geschichte beruht auf tatsächlichen Begebenheiten. In der Tat, in den frühen Achtzigerjahren bekriegte sich die Mafia selber: Der Clan der Corleonesi machte dem Clan aus Palermo die Führung streitig. Tommaso Buscetta, auch Don Masino genannt, ein hohes Mitglied der Cosa Nostra, hatte die Nase voll und setzte sich mit seiner dritten Frau nach Brasilien ab. Seine Vertrauten und auch Verwandten, Bruder, Söhne, Frauen und Kinder werden von der Konkurrenz massakriert. Die Zahl der Opfer beidseits steigen wie siedendes Wasser, bald sind es 100, 120, 140 Tote. Buscetta bleibt nicht ungeschoren, er wird im Exil verhaftet, nach Italien ausgeschafft, wo ihn ein Prozess erwartet. Dem Staatsanwalt Giovanni Falcone gelingt es, das Vertrauen des Mafioso zu gewinnen. Buscetta ist bereit auszupacken, weil es nicht mehr seine (Mafia-) Familie ist. 360 Angeklagte wurden vor Gericht gebracht. Hunderte werden verurteilt. Doch der vermeintliche Sieg der Justiz hat einen hohen Preis: Staatsanwalt Falcone fällt später einem Attentat zum Opfer.
Marco Bellocchio (Regie) und vier andere, Ludovica Rampoldi, Valia Santella, Francesco Piccolo und Francesco La Licta, schrieben am Drehbuch. «Il Traditore – Der Verräter» heisst ihr Filmwerk, dass nicht nur das Schicksal zweier gegensätzlicher Persönlichkeiten, Buscetta und Falcone, schildert, sondern auch Strukturen und Mechanismen der Mafia-Gesellschaften offenbart und einen historischen Prozess nachzeichnet. Bellocchio beschönigt nichts und beschreibt die Clans als das, was sie waren und sind – als kriminelle, mörderische Organisationen. Der Verräter Buscetta (exzellent Pierfrancesco Favino) ist kein Ehrenmann, er ist in kriminelle Umtriebe und Morde verwickelt wie viele andere Clan-Mitglieder. Er will seine Haut retten und sich rächen. Sein Gegenspieler und «Partner» Falcone (Fausto Russo Alesi) versucht, die Macht der Mafia brechen und fällt 1992 einem Attenta zum Opfer. Derjenige, der die Prozesswelle ins Rollen brachte, überlebt und starb 2000.
Bellocchios Film ist brutaler Mafiathriller, theatralischer Prozessfilm (durchaus dem damaligen Gerichtsspektakel entsprechend) und Gesellschaftsdrama zugleich. Ein Totentanz – freilich ohne politischen Bezüge. Verbindungen der Mafia zu Rom und andere Seilschaften lässt Bellocchio ausser Acht.
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Jagdzeit
rbr. Um Profil und Profit. Film ist Fiktion, auch wenn die Geschichte, die erzählt wird, von wahren Begebenheiten angeregt wurde. So legen die Produzenten von Turnus Film Wert darauf, dass ihr Spielfilm «Jagdzeit» zwar von Ereignissen in der Wirtschaftswelt inspiriert wurde, aber im Wesentlichen fiktiv ist, was Handlung und Personen angeht. Sabine Boss («Der Goalie bin ig») lässt zwei Manager aufeinander los, die beide behaupten, sie agierten zum Wohl der Firma Walser. Die beliefert seit Jahrzehnten Automobilkonzerne. Doch der Schweizer Zulieferkonzern lahmt und ist in Schwierigkeiten geraten. Der Finanzchef Alexander Maier (Stefan Kurt) bemüht sich redlich, geht in seinem Job auf, bis eines Tages ein neuer CEO auftaucht. Hans-Werner Brockmann (Ulrich Tukur) ist ein knallharter Topmanage, der vom deutschen Konzern dem Walser-Unternehmen verordnet wurde, wie so üblich. Brockmann soll die Firma wieder auf Kurs bringen, heisst umstruktuieren. Das geht erfahrungsgemäss nicht ohne Opfer. Einer der Leidtragenden (Mike Müller) protestiert lauthals, natürlich vergeblich.

In der Chefetage bemüht man sich um Partnerschaft. Ein Verkauf, ein Börsengang wird in Erwägung gezogen. Doch bald einmal wird Maier klar, dass der rigorose, überhebliche Brockmann kein Pardon kennt. Die (moralischen) Standpunkte können nicht gegensätzlicher sein. Der Finanzchef recherchiert, versucht den skrupellosen CEO zu stürzen. Wer den Kürzeren zieht, lässt sich leicht ausmalen. Es herrscht «Jagdzeit» im Business. Der Wirtschaftsthriller von Sabine Boss nimmt das wörtlich. Die Kontrahenten gehen tatsächlich auf Jagd, wobei der arglistige Brockmann seinen Kontrahenten perfide mit Platzpatronen «füttert». Der Finanzexperte trainiert andererseits in seinem Keller und schiesst auf virtuelle Keiler. Auf lebendige Tiere zu schiessen, widerstrebt dem Mann, der brillant mit Zahlen jonglieren kann, aber sowohl als Manager, als auch als Vater und Ehemann versagt. Maier erkennt, dass er zunehmend isoliert ist und vereinsamt. Er sieht nur einen Ausweg, sich zu rächen. Sabine Boss entwirft einen Psychothriller, der natürlich an gewisse Vorfälle in der Banken- und Versicherungsszene erinnert, aber auch (geradezu prophetisch) ans jüngste CS-Debakeln (Überwachung) gemahnt, was Moral, Ehrlichkeit, Beschönigungen und Unschuldsbeteuerungen betrifft. Auch Brockmann wäscht im Film wie einst Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld. Kühl und sachlich distanziert, zeichnet «Jagdzeit» ein verheerendes moralisches Bild aus der Manageretage. Es geht um Profil und Profit. Mit feinen Strichen und Sensibilität seziert der Spielfilm Geschäftsgebaren und Gegenwart. Menschlichkeit bleibt auf der Strecke.

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Enkel für Anfänger

rbr. Alter schützt vor Jugend nicht. Erfreulich. Neben allerlei Party- und Actionklamauk fürs Popcorn-Publikum kann man hier und da auch heitere Streifen über ältere Semester (aber auch für gehobenen jüngeren Geschmack) entdecken. Da wären beispielsweise der Kammerkrimi auf Agatha Christie-Art «Knives Out» (Mord ist Familiensache) mit 007-Daniel Craig oder das amüsante Gaunerstück «The Gentlemen» mit Matthew McConaughey, Hugh Grant und Colin Farrell zu nennen. Und dazu noch die deutsche Seniorenhumoreske «Enkel für Anfänger» mit Topbesetzung. Zum Glück geht’s dabei nicht mit Klamauk und Schenkelklopfen zu und her wie in Dani Levys neustem Berliner Szenen-Streifen «Die Kängeruh-Chroniken» (Start 5. März), sondern um Menschen im Opa- und Oma-Alter, die neue Aufgaben suchen in ihrem beschaulichen Rentnerleben. Zu diesem Zweck, verraten uns Wolfgang Groos (Regie) und Robert Löhr (Drehbuch) in ihrem generationsüberschreitenden Clinch «Enkel für Anfänger», gibt’s Ehrenamt-Agenturen. Die nämlich bieten Grosseltern zum «Mieten» an. Karin (Maren Kroymann), eine Frau im besten Seniorenalter, langweilt sich mit ihrem stubenhockenden Ehemann (Günther Maria Halmer) und macht es ihrer flippigen Flowerpower-Freundin Philippa (Barbara Sukowa) nach und wird zur Leihoma. Zufällig begegnet sie ihrem ehemaligen Schulfreund Gerhard (Heiner Lauterbach), der zum griesgrämigen Solist verkommen ist und seinem verstorbenen Partner nachtrauert. Sie zieht den Widerborstigen mit ins Grosselternboot. Der Rest sind Generationengerangel, komische Missverständnisse und Eingeständnisse, absurde Alltagssituationen und schräge Konfrontationen. Am Ende jedoch wird neuer Lebenssinn und -mut geweckt. Nun kann man sich darüber mokieren, dass der Alltag im Alter gar nicht so schön ist, Enkelkinder sich zu oft als quengelnde, nervende Racker entpuppen und Gebresten viele bremsen, gleichwohl macht die frische, flippige und ironische Seniorenkomödie Spass und hebt die Stimmung.
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Jojo Rabbit
rbr. Kein Hasenfuss, sondern ein Verbündeter. Trotz üppigen Nominationen (6) ging die deftige Nazisatire «Jojo Rabbit» bei der Oscar-Verleihung fast leer aus. Allein für das beste adaptierte Drehbuch gab’s einen Goldenen Schwertträger. Im Vorfeld hatten sich manche gefragt, darf man ernsthaft einen Film inszenieren, wo Hitler als possenhafter Kumpel auftritt und ein Zehnjähriger sich als glühender Nazi-Anhänger gebärdet. Da muss mancher Kinogänger zuerst schlucken: Ein Knabe in Nazi-Klamotten und eine Adolf-Charge, von Regisseur Taika Waititi selbst verkörpert. Ebendieser Hitler-Hampelmann tritt als väterlicher Freund des irrgeleiteten Jojo (eigentlich Johannes) auf – kann das sein, kann das gutgehen? Das geht, wohl auch weil der Neuseeländer Waitit, scheinbar unbelastet, eine bitterböse Groteske inszeniert, die trotz schwarzem Humor und aberwitzigen Zwischentönen das Böse desmaskiert, die Realität nicht aus den Augen verliert und Mitgefühl weckt. Jojo (Roman Griffin Davis), der bei der Hitlerjugend den Spitznamen Rabbit (Hasenfuss) bekommt, weil er kein Kaninchen töten will, ist ein Anhänger Hitlers. Seine Mutter Rosie (Scarlett Johansson) ist aus anderem Holz geschnitzt, sie versteckt ein 16jähriges, jüdisches Mädchen (Thomasin McKenzie), und Jojo muss sich entscheiden: Soll er das Geheimnis und so auch das Mädchen preisgeben, in das er sich ein bisschen verliebt hat?
Unglaublich, dem neuseeländischen Autor und Regisseur gelingt der Spagat zwischen Schrecken, Scherz und Zärtlichkeit: Die Naziherrschaft ist schrecklich, Opfer baumeln am Galgen, das Kriegsende ist brutal, und doch schimmert Hoffnung 1945 in dieser deutschen Kleinstadt, nunmehr von Amerikanern befreit. Mit einem Tänzchen wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Trotz schelmischen Intermezzi werden Nationalsozialismus, seine Handlanger, Mitläufer und auch die Opfer nicht verharmlost. Im Gegenteil, Die satirische Zeichnung schärft die Sicht und stärkt die Emotionen. «Jojo Rabbit» plädiert für Menschlichkeit, Mitgefühl und Liebe selbst in Zeiten der Unmenschlichkeit.
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La Gomera

rbr. Gepfiffen und verpfiffen. Der Titel – er bezieht sich auf Kanaren-Insel Gomera – mag ebenso irritierend sein wie die Zeitsprünge und geografische Wechsel, die der rumänische Regisseur Corneliu Porumboiu auftischt. Er inszeniert ein vertracktes Gauner- und Gendarmspiel, bei dem man nicht sicher ist, wer auf welcher Seite steht, wer gut und wer böse ist – wenn diese Einteilung hier überhaupt Sinn macht. Also, der zwielichtige rumänische Polizist Cristi (Vlad Ivanov) reist nach Gomera, um dort die lokale Pfeifsprache El Silbo zu lernen. Die soll dazu dienen, akustischer Überwachung, etwa durch seine Chefin Magda, zu umgehen, und sich sicher mit den Mafialeuten zu verständigen. Klar, man hört die Pfeiftöne, aber verstanden wird sie nur für Eingeweihte. Besagter Cristi soll den rumänischen Matratzenfabrikanten und Geldwäscher Zsolt (Sabin Tambrea), der verpfiffen wurde, aus einem Gefängnis in Bukarest befreien. Denn der Gauner weiss offensichtlich allein, wo 30 Millionen Euro Drogengeld versteckt sind. Da haben freilich nicht nur Mafiosi und die Polizeichefin ihre schmutzigen Finger im Spiel, sondern auch die verführerische Gilda (Catrinel Marlon), Geliebte des Drogenbosses. Das führt nur zu allerlei Komplikationen, Finessen und Wendungen, zu kunstvoll-komplizierten Verhältnissen. Gauner begaunern sich gegenseitig – das ist unterhaltsam und schelmisch-kriminell. Dazu gehört auch das Gaunergezwitscher El Silbo, das ein Gag ist, aber im Grunde genommen überflüssig. Als kleine Orientierungshilfe für den verwirrten Zuschauer bietet Regisseur Porumboiu acht Kapiteltitel, die wichtige Figuren oder Figurationen betreffen – von Gilda über Il Silbo und Zsolt bis Magda und Cristi. Das grosse Finale findet in Singapur, in der illuminierten Garden Show statt. Ein amüsantes visuelles Ausrufezeichen sozusagen. Zu erwähnen sind auch diverse Songs wie Ute Lempers «Mackie Messer» und Iggy Pops « Passenger». Seh-und hörenswert.
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Little Women

rbr. Ein Hauch von Emanzipation. Obwohl fünfmal nominiert für die Preise der BAFTA (British Academy of Film and Television Arts) nominiert, gewann das Gesellschaftsdrama «Little Women» nur einen Award, nämlich für Jacqueline Durran und das beste Kostümdesign. Die Oscars warten… Die «Women» wurden für Bester Film, Beste Haupt- und Nebendarstellerin, Bestes adaptiertes Drehbuch, Bestes Kostüme und Beste Filmmusik nominiert.
Greta Gerwig («Lady Bird») hat den Buchklassiker aus dem 19. Jahrhundert fein zugeschnitten und zauberhaft in Filmszene gesetzt. Der Stoff über vier Schwestern, die sich aus dem gesellschaftlichen Korsett befreien wollen, ist mehrfach fürs Kino und Fernsehen adaptiert worden, beispielsweise 1933 mit Katherine Hepburn und Joan Bennett, 1949 mit Elizabeth Taylor und Janet Leigh oder 1994 mit Winona Ryder, um nur einige bekannte Namen zu nennen. Die amerikanische Schriftstellerin Louisa May Alcott hatte ihren stark autobiographisch gefärbten Roman in zwei Teilen veröffentlicht: «Little Women» (1868) und «Good Wives» (1869). Im jüngsten Kinoschaustück spielen Saoirse Ronan die junge rebellische Jo (Josephine), die gern Schriftstellerin werden möchte, Eliza Scanlen die aufopfernde Beth, Florence Pugh die egoistische Amy, die sich ihren Weg als Künstlerin bahnt, und Emma Watson die bodenständige Meg. Das Schwestern-Viergestirn lebt im Herrenhaus ohne Herren (der Vater glänzt durch Abwesenheit, er kämpft im Bürgerkrieg). Schauplatz ist Neuengland Mitte des 19. Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte der Schwestern vorwiegend aus der Perspektive Jo Marchs, welche quasi die Autorin vertritt, und ihre Entwicklung in sieben Jahren. Jo flattert schier unbeschwert durch ihr junges Leben. Meg fügt sich, beugt sich den Konventionen und heiratet früh. Beth, musikalisch begabt, verdrängt ihre Ambitionen, lebt im Grunde für andere und erkrankt an Scharlach. Amy ist sich selbst am nächsten, sieht sich als Künstlerin, bricht aus, reist nach Europa und heiratet den wohlhabenden Nachbarsjungen Laurie.
Vier Frauen im Aufbruch mit verschiedenen Ambitionen: Sie versuchen, gesellschaftliche Fesseln abzustreifen und bleiben teilweise doch hängen, was materielle Basis (Heirat) und andere Gegebenheiten angeht. Greta Gerwig inszenierte sogfältig, geradezu akribisch, ohne dass ihr Film als verstaubter Kostümschinken wirkt, exzellent besetzt bis in die Nebenrolle, etwa mit Meryl Streep als reiche Tante March. Im Grunde gleicht die Coming-of-Age-Geschichte einem Mikrokosmos und beschreibt die wirtschaftliche Situation gutbürgerlicher Frauen vor rund 150 Jahren, ihre kleinen Chancen und materiellen Sicherheit. Ein sympathischer und aufschlussreicher Film, in dem ein Hauch von Emanzipation weht.
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Bombshell
I.I. Das Ende des Schweigens. Aktueller denn je. Das muss man den Amerikanern lassen, sie können Geschichten erzählen. Ob Dokumentarfilm oder Spielfilmdrama. Da können sich Schweizer Filmschaffende noch eine Scheibe abschneiden. «Bombshell» ist ein Filmdrama nach wahren Begebenheiten im amerikanischen Fernsehsender Fox News und überrascht mit spritzigen Dialogen und temporeicher authentischer Story (Drehbuch Charles Randolph, oscarprämiert für «The Big Short»). Der Film erzählt die wahre Geschichte von TV-Moderatorinnen, die sich mit Roger Ailes, dem CEO von Fox News, wegen sexueller Belästigung anlegten und deshalb gekündigt wurden. 1996 hatte Roger Ailes (1940-2017) für Rupert Murdoch den konservativen Sender konzipiert, unter seiner Führung entwickelte sich Fox News zum erfolgreichsten Nachrichtensender der USA. Ailes war auch einflussreicher Medienberater der republikanischen Präsidenten Richard Nixon, Ronald Reagan und George H. W. Bush. Im Juli 2016 wurden Vorwürfe gegen Ailes wegen sexueller Belästigung publik. Die inzwischen entlassene Moderatorin Gretchen Carlson (Nicole Kidman) hatte gegen Roger Ailes (John Lithgow) Klage eingereicht. Im fiktiven Charakter der Produzentin Kayla Pospisil (Margot Robbie) wurden etwa 20 reale Personen vereinigt, um die Erfahrungen der Betroffenen zeigen zu können, die eine Stillschweigeerklärung unterzeichnen mussten und nicht im Film auftreten durften. Nachdem sich weitere Mitarbeiterinnen des Senders, darunter die Journalistin Megyn Kelly (Charlize Theron) den Vorwürfen angeschlossen hatten, musste Ailes am 21. Juli 2016 alle Funktionen bei Fox News niederlegen. Ailes erhielt eine Abfindung von 40 Millionen Dollar. Carlson wurde 20 Millionen Dollar zugestanden und sie erhielt eine offizielle Entschuldigung von Fox News.
Regisseur Jay Roach versteht es, das turbulente Leben in einem Nachrichtensender spannend umzusetzen, umsomehr als auch die Beleidigungen von Donald Trump über Frauen vor seiner Wahl zum amerikanischen Präsidenten thematisiert werden. Ailes war mit Trump gut bekannt, der sich bei ihm telefonisch über die Moderatorin Gretchen Carlson beschwerte, die es gewagt hatte, ihn im Interview über seine abwertende Haltung zu Frauen zu kritisieren. Das Impeachment der Demokraten gegen den Präsidenten wegen Amtsmissbrauch erinnert an diese gemeinsame Aktion der Frauen noch vor MeToo. Der rasante Film (Musik von Theodore Shapiro) hat bereits drei Nominierungen für den Oscar, darunter für Charlize Theron als beste Hauptdarstellerin.
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J’accuse

rbr. Im Zeichen des Antisemitismus. Allen Querelen, Vorwürfen und Anfeindungen zum Trotz wurde Roman Polanskis neustes Werk «J’accuse – Intrige» am Filmfestival Venedig 2019 gefeiert und mit dem Silbernen Löwen (Grosser Preis der Jury) ausgezeichnet. Fürwahr ein Historiendrama mit aktuellen Bezügen. Militärköpfe schmiedeten ein Komplott gegen einen jüdischen Offizier der französischen Armee: Alfred Dreyfus soll Spionage für Deutschland betrieben haben. Man erinnere sich: Frankreich hatte den Krieg gegen den Nachbarn 1890/91 verloren, und Deutschland demütigte den Gegner, indem es das neue Kaiserreich auf besiegtem Boden proklamierte – in Versailles.
Eine Todsünde in Frankreich – wer dann für den Erzfeind arbeitete. Und so geschah es: Die Spionageabteilung hatte den jungen Hauptmann Alfred Dreyfus (Louis Garrel) ins Visier genommen und ihm mit vagen, teils falschen Indizien den Prozess gemacht. Degradiert, entehrt, gedemütigt wurde Dreyfus verurteilt und auf die Teufelsinsel (Französisch-Guayana) im Atlantik verbannt. Ausgerechnet dem neuen Leiter der militärischen Spionageabwehr, Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), ist das ganze Verfahren suspekt, besonders als weitere militärische Geheimnisse scheinbar verraten werden, obwohl Dreyfus längst aus dem Verkehr gezogen wurde. Er beginnt nachzuforschen und kommt einem Komplott aus rassistischen Gründen auf die Spur.
Aus seiner Perspektive erzählt Roman Polanski (Regie, Buch mit Robert Harris) diesen historischen Justizskandal, der ein markantes Beispiel für aufkeimenden Antisemitismus ist im 19. Jahrhundert darstellt. Und das führt Altmeister Polanski subtil und engagiert vor Augen. Er selbst hat einen Cameoauftritt bei einem Konzert, wie auch seine Frau Emmanuelle Seigner als Pauline Monnier, eine Gefährtin von Dreyfus. Das packende Historiendrama – ohne Staub und Schminke – sagt viel über unsere Gegenwart, über aufkeimende Vorurteile und intrigante Machenschaften aus– egal ob auf politischer, gesellschaftlicher oder juristischer Bühne.
Der Originalfilmtitel «J’accuse» bezieht sich auf einen Artikel des Schriftstellers Emile Zola, der 1898 in der Tageszeitung «L’Aurore» erschien, für Aufsehen sorgte und einiges in Bewegung brachte. Polankis Justizdrama spielt im 19. Jahrhundert, und man fragt man sich, ob sich heute grundlegend etwas geändert hat an Vorverurteilungen, Falschheiten (Fake), Machtmissbrauch und Antisemitismus.

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Moskau Einfach!
rbr. Bünzli wird zum Wendehals – aus Liebe. In der jüngsten Schweizer Vergangenheit graben Filmer nicht gern, vom Dokumentarfilm einmal abgesehen. Dann muss es schon «Zwingli» oder der Gotthard sein. Filmer Micha Lewinsky («Die Standesbeamtin») wundert sich selber, weshalb der Fichenskandal um 1989 noch nicht aufgegriffen wurde. Er hat zugegriffen – und gleich auch am Drehbuch zu «Moskau Einfach!» mitgeschrieben. Gestandene Kinogänger erinnern sich: Der Staat, der Schweizer Staat, hat über Jahrzehnte Bürger und Bürgerinnen bespitzelt, wenn auch nur ein Hauch linker Gesinnung spürbar oder Kontakte zum Ostblock vorhanden waren.
In den Fünfzigerjahren initiiert der US-Senator McCarthy eine amerikanische Gesinnungshatz auf Linksverdächtigte. Es herrschte Kalter Krieg zwischen den Machtblöcken USA und UdSSR. Zwanzig Jahre später wurde in der Schweiz eine ähnliche staatliche Schnüffelaktion organisiert. Die Staatsschützer hatten heimlich rund 900 000 sogenannte Fichen (Dossiers) angelegt, um die einen zu diskriminieren und die anderen zu «schützen.»
In diesem Klima siedelt Micha Lewinsky seine Romanze mit Fichen-Touch «Moskau Einfach!» an. Ein bünzliger Polizeibeamte, namens Viktor (Philippe Graber), der brav und bieder seinen Schreibtischjob ausübt, wird eines Tages von seinem Chef Marogg (Mike Müller) zur Geheimdiensttätigkeit animiert und beauftragt, während seiner «Ferien», sich als Statist beim Zürcher Schauspielhaus einzuschleusen,. Er sollte dort linke Elemente beobachten und entlarven, an einer Kulturstätte eben, wo subversive, zwielichtige Geister wie Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt wirkten. Eine Brutstätte dazumal, in der die Initiative zur Abschaffung der Schweizer Armee massiv unterstützt wurde.

Viktor alias Walo (Deckname) erweist sich als talentierte Bühnenkraft, ihm wird gar eine kleine Rolle in Shakespeare’s «Was ihr wollt» anvertraut – notabene unter der Regie eines verdächtigen deutschen Sozialisten. Viktor/Walo ist mit Feuer und Flamme bei der Sache, freilich verlagert sich sein Spion-Interesse von den vermeintlich subversiven Kräften am Theater auf die Schauspielerin Odile (Miriam Stein). Nur ist die ausgerechnet das Objekt seiner Observierungsbegierde und Tochter eines strammen rechten Zünftlers und Militärs. Amor durchkreuzt die Schnüffelpläne, und Bürokrat Viktor muss sich entscheiden zwischen «Staatsräson» und Liebe.
Die Autoren haben redlich recherchiert – von den linken Studenten, Protestlern, Radiopiraten à la LoRa bis Autor Frisch und Politiker Moritz Leuenberger, der die PUK in der Fichen-Affäre leitete. Es gibt stimmige Momente, etwa wenn Odile als Gilberte de Courgenay die Herzen der versammelten Zünftler, ihren Vater inbegriffen, rührt oder Walo auf der Bühne die Hosen runterlässt und bekennt…
Lewinskys romantische Komödie hat gute Ansätze, doch es dauert fast eine Stunde, bis sie Fahrt aufnimmt, bis der Schnüffler die Deckung (Tarnung) aufgeben muss und endlich zu dem steht, was er wirklich will. Als Polit- oder Gesellschaftssatire ist diese neckische Episode doch zu brav und lieb. Sie stösst das Problem Überwachung, Gesinnungsschnüffelei und die Folgen (etwa Berufsverbot) – die heute aktueller denn je sind (siehe Hongkong) – zwar an, bleibt aber allzu nett, harmlos und harmoniebedürftig. Etwas mehr Pfeffer, Biss und Schärfe hätte dem Blick zurück gutgetan. Irgendwie typisch schweizerisch, unterhaltsam (im zweiten Teil), aber insgesamt betulich und brav.
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Lindenberg! Mach dein Ding!
rbr. Vom Ekel zur Ikone. Wer einmal seine schnoddrige Stimme im Ohr hat, vergisst sie nicht. Seine Markenzeichen sind Schlapphut, Sonnenbrille, schlaksige Haltung und eben diese Stimme zwischen rau und zart. Udo Lindenberg, Trommler aus dem Münsterland (Gronau), Sänger und Rockperformer, erlebt im reifen Alter von 73 Jahren seinen x-ten Frühling. Er ist hoch in den Charts und wieder auf Tournee (am 13. Juni in Zürich). «Panic»-Udo, Wegbereiter der deutschen Rockmusik, ist eine Ikone der Musikszene, spätestens seit seinem ironischen Verbrüderungssong «Sonderzug nach Pankow». Dem jungen, wilden Udo hat Hermine Huntgeburth aus Paderborn (Ostwestfalen) ein Biopic gewidmet, hat seine «Tour» vom Provinznest in Westfalen nach Hamburg, in die lybische Wüste und zurück verfolgt – auf Gassen, in Kneipen und Kaschemmen. Auch wenn er x-mal abgesackt ist, platt war und auf die Schnauze gefallen ist, hat Udo sich wieder aufgerafft und die Bühnen vom Strip-Lokal bis zu bei Onkel Pö in Hamburg und anderswo geentert. Erst als er mit seinem Panikorchester auf deutsche Songs setzte, kam der Erfolg in den Siebzigerjahren («Andrea Doria»).
Huntgeburths Spielfilm schildert das Auf und Ab, den Einfluss seiner Jugendliebe Susanne (Ella Rumpf, in Paris geboren, in Zürich aufgewachsen), seine Beziehung zu St. Pauli, den Kumpels, allen voran seinem Bassisten Steffi Stephan (Max von Groeben) oder seinem St. Pauli-Schwarm Paula (Ruby O. Fee). Der Film beschreibt auch Udos Elternhaus, den versoffenen Vater Gustav (Charly Hübner), der Klempner war und lieber Dirigent geworden wäre, und die Mutter Hermine (Julia Jentsch), die ihre Träume für die Familie aufgab. Fraglos hat Regisseurin Hermine Huntgeburth Stimmung, Milieu und Selbstverständnis des jungen zügellosen Musikers Lindenberg phänomenal getroffen. Das ist auch dem 23jährigen Darsteller Jan Bülow zu verdanken, der gar nicht erst versucht hat, Udo zu imitieren, sondern dessen Ton, Haltung und schnoddrige Lebensphilosophie rüberzubringen. Dem Kino-Udo zollte auch Panik-Udo seinen Respekt («Ich bin begeistert…Jan ist ein Geschenk der panischen Götter!», so in einem Stern-Interview). Der Udo-Film ist ein zeitlich begrenztes Biopic (endet um 1973), er hat natürlich viel mit Musik zu tun, ist aber kein Musikfilm, eher eine Fallstudie, wobei Udo Lindenberg alles andere als ein Strahlemann ist, mehr Saufbold, Rocker, Ekel, abgesegnet von Rockstar Udo heute, der übrigens als Drummer bei Klaus Doldingers Jazzformation mitgewirkt und die «Tatort»-Titelmelodie dazumal eingetrommelt hat.
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1917
rbr. Die Hölle zwischen Schützengraben und Ruinen. Kriegsfilme gibt es zuhauf, seltener sind dagegen Antikriegsfilme, besonders was den Ersten Weltkrieg betrifft. Erwähnt seien hier nur der Klassiker «Im Westen nichts Neues» von Lewis Milestone (1930) und der Dokumentarfilm «They Shall Not Grow Old» von Peter Jackson (2018). Regisseur Sam Mendes, der sich bisher eher als «Bond»-Macher hervor getan hat, schrieb auch das Drehbuch zu dieser Höllenfahrt auf den Schlachtfeldern im Norden Frankreich 1917. Zwei britische Soldaten, Corporal William Schofield (George MacKay) und Corporal Tom Blake (Dean-Charles Chapman) erhalten den Auftrag, sich durch feindliche Linien zur britischen Einheit unter Colonel Mackenzie (Benedict Cumberbatch) zu schlagen, um sie vor einem Hinterhalt des deutschen Heeres zu warnen. Blake ist zusätzlich motiviert, den Befehl unter allen Umständen zu erfüllen, weil sein Bruder, Lieutenant Blake (Richard Madden), in Mackenzies Einheit Dienst tut. Das Himmelfahrtskommandogeht soweit gut, bis die beiden Boten einen französischen Bauernhof erreichen und Zeuge eines Luftkampfs werden. Der deutsche Pilot stürzt ab, sie beiden wollen ihn retten, doch der deutsche Flieger attackiert Blake. – Fast zwei Stunden dauert dieser Höllenritt durch den Krieg. Doch anders als in vielen Kriegsfilmen geht es hier nicht um Schlachtengetümmel und Grabenkämpfe, sondern um Strapazen und Opferbereitschaft zweier Soldaten, um ihr Kampf ums Überleben, um das eigene Leben und das ihrer Kameraden. Sam Mendes und sein Kameramann Roger Deakins folgen den beiden Helden Schritt um Schritt. Der Film wirkt wie eine einzige Einstellung, wie ein durchgehender Shot, um Echtzeit zu suggerieren. Das ist grandios und glaubwürdig gelungen. Die Figuren sind ständig in Bewegung. Es gibt nur eine kleine Ruhepause, als Schofield einer jungen Bauersfrau begegnet. Die eindringliche Inszenierung – schmutzig, düster und nur wenig erhellt – zollt Tribut der «Kiegshelden» und Opfer, wobei die Nationalität keine Rolle spielt, sondern nur der Mensch in den Vernichtungsrädern des Ersten Weltkriegs. «1917» ist ein Meilenstein des Antikriegsfilms, er wurde mit zwei Golden Globe Awards (Film und Regie) ausgezeichnet und zehnmal für den Oscar nominiert, u.a. als Bester Film, Beste Regie, Bestes Originaldrehbuch, Beste Kamera).
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Judy
rbr. Oscarreife Performance. Den Golden Globe hat sie schon bekommen, nun ist sie eine heisse Favoritin bei der Oscar-Verleihung im Februar. Renée Zellweger, Hollywood-Star mit Schweizer Wurzeln, bietet eine sensationelle Performanceleistung als Schauspielerin und Sängerin in «Judy», dem tragischen «Abgesang» auf Judy Garland («The Wizard of Oz», 1939), die 1969 in Chelsea an einer Überdosis Schlaftabletten starb – nur 47 Jahre alt. Regisseur Rupert Goold konzentriert sich in seinem «Judy» -Porträt auf ihr letztes Lebensjahr in England. Die Amerikanerin feierte bereits als 16-Jährige einen grossen Filmerfolg mit dem «Zauberer von Oz» und dem Songklassiker «Over the Rainbow».
In den Sechzigerjahren ist der einstige Star quasi pleite, ausgelaugt, alkohol- und pillenabhängig, labil. Da setzt der Film ein und spickt die Handlung mit einigen Erinnerungen an Kindheit und die frühe Karriere. Jetzt ist Judy ein verzweifelter Mensch vor dem Abgrund: Ein Star, der allmählich erlischt. Eine neue Chance bietet ihr Impresario Bernard Delfont (Michael Gambon) und engagiert sie für ein fünfwöchiges Gastspiel in London, im Nachtklub «Talk oft he Town». Mehr der Not gehorchend als den eigenen Gefühlen, lässt sie ihre Kinder beim geschiedenen Mann Sidney (Rufus Sewell). Sehnsucht und Sucht nach der Bühne sind zu gross. Judy heiratet wieder in London, blüht scheinbar an der Seite ihres jungen Gatten (dem fünften) und Managers Mickey (Finn Wittrock) auf. Assistentin Rosalyn (Jessie Buckley) versucht, der ausgezerrten Sängerin Halt zu geben, kann aber Abstürze nicht vermeiden. Ihre Auftritte faszinieren, und doch mehren sich die Zeichen des Zusammenbruchs. Die ausgelaugte Künstlerin putscht sich auf, doch die Jahrzehnte zuvor haben an ihrer Substanz gezerrt. Produktionsboss Louis B. Mayer (Richard Cordery) hatte sie als Kind, als Jungstar gefordert und ausgebeutet. Die Tragödie ihres Starlebens liegt unter anderem in dieser Frühphase begründet. Man gönnte ihr keinen Freiraum, kein privates Vergnügen, dröhnt sie zu, setzt sie unter Druck. Schlaflosigkeit, Unstetigkeit, Alkoholabhängigkeit, Beziehungslosigkeit waren die Folge. Sie hatte eigentlich nie die Kontrolle über ihr Leben.
Das schildert das «Judy»-Drama drastisch, ungeschminkt, und das geht unter die Haut. «Judy» ist kein Musikfilm (der erste Song wird erst nach einer Stunde vorgetragen), kein Starvehikel, sondern eine düstere, auch wehmütige Tragödie mit sparsamen Lichtblicken. Judys Tochter Liza Minnelli (Gemma-Leah Devereux) bleibt eine Randerscheinung. Absolut brillant ist fraglos die schauspielerische und gesangliche Performance Renée Zellwegers. Sie interpretiert alle Garland-Songs selbst, inklusive «Over the Rainbow». Grandios, das geht durch Mark und Bein.
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Platzspitzbaby
rbr. Leben am Abgrund. Nein, es geht nicht um die «Kinder vom Bahnhof Zoo», den Film um «Christiane F.» und Berlin um 1975, sondern um die Zeit zwanzig Jahre danach, um die offene Zürcher Platzspitz-Drogenszene und deren Auflösung im Februar 1995. Michelle Halbheer hatte ihre Erlebnisse von dazumal als Kind einer Drogenmutter im Buch «Platzspitzbaby» 2013 verarbeitet, Pierre Monnard hat den Stoff verfilmt. Dabei geht es im Kern nicht um die damalige Zürcher Szene, sondern um die Folgen, festgemacht an der Junkie-Mutter Sandrine (Sarah Spale) und ihrer elfjährigen Tochter Mia (Luna Mwezi). Die heruntergekommene Fixerin ist auf dem Land gelandet, hangelt sich von Tag zu Tag, von Droge zu Droge, benutzt Mia, verspricht, vertröstet, verkommt. Diese sucht die Nähe einer Jugendgang und flüchtet sich in eine Wunschwelt.
Es ist eine schmutzige, gnadenlose und trostlose Welt, die Hölle auf Erden, die Monnard etwas pastell beschreibt – man hat das Gefühl, als wäre diese Wirklichkeit gefiltert, gemildert. Es bleibt ein (gespieltes) Filmdrama, das sich um dokumentarischen Touch bemüht und selten tiefer berührt. Sicher kein Unterhaltungsstoff, eher Mahnung und Moralappell. Besonders junge Zuschauer, aber auch Erzieher, Pädagogen und Eltern sind gefordert. Das Drama um «Platzspitzbaby» ist Anstoss und Warnung zugleich. Respekt vor der Leistung der Darstellerin Sarah Spale, die anders als in der TV-Krimireihe «Wilder» keine Sympathieträgerin ist, sondern eine haltlose kaputte Mutter verkörpert, bei der Tochter Mia nur einen Ausweg sieht: die Flucht. Jungschauspielerin Luna Mwezi ist eine Entdeckung und Wucht als im Stich gelassenes «Platzspitzbaby». Regisseur Pierre Monnard («Wilder») hat es geschafft, seine «Kommissarin» Spale umzudrehen und zu überzeugen, sich in eine Dröglerin zu verwandeln und als abgefahrene Mutter ohne Sympathiebonus zu agieren. Respekt!
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Queen & Slim

I.I. Ein Tinderdate mit dramatischen Folgen. Ein Roadmovie, das an Bonnie & Clyde erinnert. Das Spielfilmdebüt der zweifachen Grammy-Gewinnerin Melina Matsoukas, bekannt für ihre Musikvideos für Beyoncé und Rihanna, wagt sich an das brennende Thema des Rassismus in den USA. Das Drehbuch schrieb Lena Waithe. Der Schuhverkäufer Ernest Hines (Daniel Kaluuja) und die Juristin Angela Johnson (Jodie Turne-Smith) lernen sich bei einem Tinder-Date in einem Restaurant kennen. Als Ernest sie mit seinem Honda nach Hause fahren will, werden die beiden jungen Afroamerikaner von einem weissen Polizisten angehalten. Ernest befolgt die Anweisungen des Officers, aus dem Fahrzeug auszusteigen und den Kofferraum zu öffnen. Als Officer Reed (Sturgill Simpson) Ernest befiehlt, sich auf den Boden zu legen und die Gefahr eskaliert, springt Angela aus dem Auto, erklärt dem Officer, sie sei Rechtsanwältin und greift zum Mobilphone, um die Szene zu filmen. Der Officer schiesst auf sie, es kommt zu einem Gerangel, Ernest bekommt die Waffe in die Hand und erschiesst den Polizisten in Notwehr. Sie wissen, dass sie vor Gericht keine Chance haben, dass man einem Schwarzen die Notwehr nicht glaubt und flüchten mit dem Honda. Ihre erste Station ist Angelas Onkel Earl (Bokeem Woodbine) in New Orleans. Als sie ihre Fahndungsfotos in den TV-Nachrichten und auf den Titelseiten der Zeitungen sehen, gelten die beiden als Cop-Killer und werden im ganzen Land gesucht. Inzwischen unterstützen viele Schwarze sie als Helden und demonstrieren öffentlich, sie freizulassen, umsomehr als sich herausstellt, dass der Polizist schon zwei Jahre vorher einen Menschen getötet hat. Sie wollen nach Kuba fliehen und dem weissen Amerika entkommen. Die Flucht in ihrem türkisfarbenen Pontiac, den Onkel Earl zur Verfügung gestellt hat, führt sie durch den amerikanischen Süden. Das Roadmovie ist packend inszeniert und besticht mit seinem gelassenen Grundton und poetischen Bildern. ‘Black lives matter’ ist hier kongruent umgesetzt. Das Unrecht, das im rassistisch besetzten Amerika vielen Schwarzen widerfährt, wird hier auf eindrückliche Weise sichtbar. Ein herausragender, sehenswerter Film!
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The Two Popes
rbr. Disput auf höchster Ebene. Nach «Roma» im Jahr 2018, «The Irishman» und «Marriage Story» 2019 startet nun die Netflix-Produktion «Two Popes» in den Kinos – nach dem Online-Start. Warum, fragt sich das St. Galler Tagblatt? Dem Kino zuliebe, heisst es vage. Aber nicht alle spielen mit. Basler Kinobetreiber wollen «Two Popes» nicht aufführen. Dabei hat der Netflix-Film «The Two Popes» zweifellos Kinoqualität. Es geht um die zwei aktuellen Kirchenväter, den Bayern Kardinal Joseph Ratzingen alias Benedikt XVI. und den Argentinier Jorge Mario Bergoglio alias Papst Franziskus. Der Südamerikaner war 2005 ärgster Kontrahent bei der Wahl des bayrischen Papst-Kandidaten. Ratzinger wurde zu Benedikt XIV. gekrönt. Der argentinische Kardinal zieht sich in sein Heimatland zurück. Frustriert will er sein Amt 2012 niederlegen und bittet beim Papst Benedikt XVI. um Audienz. Doch der verweigert dem Südamerikaner die Demissionierung, im Gegenteil: Er, der Konservative, will ihn, den Fortschrittlichen, zu seinem Nachfolger machen. Denn er plant seinen vorzeitigen Rücktritt 2013, ein (fast) einmaliger Vorgang in der Kirchengeschichte.
Wie auch immer sie sich ausgetauscht haben, welche Gespräche sie genau geführt haben – der Neuseeländer Anthony McCarten ist ihnen nachgegangen, hat recherchiert, hat die Dispute nachempfunden und niedergeschrieben. Seine sachkundige und einleuchtende Nacherzählung «Die zwei Päpste. Franziskus und Benedikt und die Entscheidung, die alles veränderte» (Diogenes Verlag 2019) schildert die Vorgänge nahezu akribisch. Seine Anmerkungen und Quellenangaben umfassen über 40 von rund 400 Seiten. Eine spannende und informative Lektüre.
McCarten lieferte auch das Drehbuch zum Spielfilm «The Two Popes» (126 Minuten) von Fernando Meirelles. Und etwas Merkwürdiges passiert: Man kann sich mit diesen beiden Persönlichkeiten anfreunden, ihre Überlegungen, Diskussionen und Absichten nachvollziehen. Die Schauspieler werden zu überzeugenden Stellvertretern der Heiligen Väter auf Erden (bzw. im Kino). Anthony Hopkins verkörpert Benedikt und Jonathan Pryce den zurückgetretenen Franziskus. Phänomenal. Dabei kommt es nicht auf eventuelle Ähnlichkeiten, sondern auf Geist und Habitus an. Hier der Krimianhänger von «Kommissar Rex», dort der Fussballfan (Bergoglio/Franziskus). Zu den Höhepunkten zählt etwa die Begegnung in der Sixtinischen Kapelle (die für den Film in sechs Wochen nachgemalt wurde, so Autor McCarten). Auch wenn gewisse dringliche Themen wie Stellung der Frauen in der Kirche, Geburtenkontrolle oder Kindermissbrauch nur vage angesprochen wurden, leistet das Bild zweier gänzlich unterschiedlicher Kirchenmänner ein fesselndes Gesellschafts- und Zeitbild.

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Motherless Brooklyn
rbr. Detektiv mit Macken. Es ist ja nicht so, dass klassische Privatdetektive wie Hercule Poirot von Agatha Christie oder Philipe Marlowe (unvergesslich Humphrey Bogart) von Raymond Chandler keine Macken haben, aber Schnüffler Lionel Essrog (Edward Norton) hat einen Tick, der irritiert und Kopfschütteln hervorruft. Der Privatdetektiv fummelt dauern an irgendetwas wie Wollfäden seines Pullover herum oder brabbelt scheinbar zusammenhanglos Worte und Satzfetzen vor sich hin – mal passend, mal nervig, mal obszön. Lionel leidet am Tourette-Syndrom, und das einen Vorteil: Er merkt sich Worte, Sprüche, Sätze haargenau. Von seinem Boss Frank Minna (Bruce Willis) wird er «Motherless Brooklyn» genannt, weil er eben Waise ist und aus Brooklyn stammt. Frank hat ihn wie die Kumpels der Detektei L&L aus dem Waisenhaus geholt, doch nun ist Frank tot, von finsteren Gesellen angeschossen. Lionel macht es sich zur Aufgabe, herauszufinden warum und wieso. Dabei taucht er tief ins die Jazzclub-Milieu von Harlem, gewinnt die Aktivistin (Gugu Mbatha-Raw) und Tochter des Nachtklubbesitzers zur Partnerin bei seiner besessenen Aufklärungstour. Und die führt in höchste Kreise, sprich zum skrupellosen Städteplaner Moses (Alec Baldwin) und dessen Bruder (Willem Dafoe). Lionel ist einer grossen «Sauerei», sprich Korruption, Machtaneignung und perfiden städtebaulichen Massnahmen, auf der Spur.
Fraglos erinnert die Figur Moses nicht nur an den wahren Robert Moses, der New York im 20. Jahrhundert durch seine Baumassnahmen geprägt hatte, der Slums ausradiert, Parks und Brücken einrichten liess, sondern auch an den US-Präsidenten Trump, der nur ein Credo, ein Gesetz und ein Ziel kennt: das eigene. Edward Norton, der sich die Filmrechte am Buch (1999) von Jonatham Lethem gesichert hatte, schrieb das Drehbuch, versetzte die Handlung in die Fünfzigerjahre (statt Neunziger), übernahm die Regie und agierte auch als Titelheld «Motherless Brooklyn». Phänomenal. Der beste Detektivfilm seit Jahren – verschlungen, irritierend, fesselnd und vielsagend.
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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
rbr. Auf der Flucht. Berlin im März 1933. Neue radikale politische Kräfte (Nationalsozialisten) sind im Vormarsch, und die Reichstagswahl steht bevor. Arthur Kemper (Oliver Masucci), Journalist und Schriftsteller, ist ein ausgesprochener Gegner der Nazis. Ihm schwant Böses, wenn Hitler und seine Gefolgsleute die Macht ergreifen. So beugt der kritische Zeitgenosse vor und organisiert mit seiner jüdischen Familie, Frau Dorothea (die Schweizerin Carla Juri), den Kindern Max (Marinus Hohmann) und Anna (Riva Krymalowski), die Flucht. Anna (in Wahrheit Judith Kerr) muss ihr geliebtes rosa Stoffkaninchen und Onkel Julius (Justus von Dohnányi) zurücklassen. In der Schweiz finden sie Aufnahme (gedreht wurde im Engadin und im Bergell) und werden dort mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert. Schweizer Blätter wollen sich nicht die Finger verbrennen, Journalist Kemper findet kein Auskommen. Die Fremdenpolizei verbietet die Erwerbsarbeit. Die unfreiwillige Reise geht deswegen weiter nach Paris. Die Eltern ziehen nach London, suchen eine neue Bleibe und müssen ihre Kinder (vorerst) zurücklassen. Onkel Julius hält die Stellung in Berlin, berichtet über die Entwicklungen, bis…
Ihr eigenes Schicksal als Flüchtlingskind hat Judith Kerr (1913 – 2019), Tochter des intellektuellen Kritikers und Journalisten Alfred Kerr, niedergeschrieben. Ihr Buch «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl» (1971, auf Deutsch 1973), u.a. mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974 ausgezeichnet, wurde nun von Caroline Link (Regie, Drehbuch mit Anna Brüggemann) fürs Kino adaptiert. Familiengerecht, etwas brav und bieder. Die Thematik – Verfolgung durch das Naziregime – wird in der schweizerisch-deutschen Koproduktion (119 Minuten) eher behutsam und sanft behandelt. Die Verfilmung entspricht wohl den Intentionen der Autorin, doch hätte man sich etwas mehr Biss und Kantigkeit gewünscht.
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Star Wars: The Rise of Skywalker
rbr. Déjà vu oder die Galaxis reproduziert sich. War es das? Oder ist das das Ende der Space-Saga, die sich mittlerweile über vier Jahrzehnte und neun Episoden entwickelt hat, der Anfang einer neuen Ära, weiteren Episoden oder Trilogien? Wer weiss, und Produzent Disney (Lucasfilm) macht keine weiteren Andeutungen. Sicher scheint, dass die Geschichte von Skywalker abgeschlossen ist. Dabei werden verschiedene Bande entschlüsselt beziehungsweise geknüpft. Da wäre beispielsweise der Imperator und Oberschurke der dunklen Seite, ein Geist, jetzt als Palpatine (Ian McDiarmid) bei Namen genannt, der Kylo Ren (Adam Driver) oder Ben, der Sohn Han Solos, ködert und Rey (Daisy Ridley), offensichtlich die Enkelin des Imperators, auf seine Seite ziehen will. Die beiden mögen sich, aber… Rey könnte die Tochter des Skywalkers sein. Alte Bekannte sind mit von der letzten Partie, beispielsweise Prinzessin Leia (die 2016 verstorbene Carrie Fisher wurde auf Grund alten Filmmaterials wiederbelebt), die nochmals Macht ausübt und dann stirbt, der Geist Luke Skywalkers (Mark Hamill ist tatsächlich alt geworden) mischt mit, auch Haudegen Han Solo (Harrison Ford) hat einen Auftritt. Kumpel Chewbacca wird entführt, und die Fähigkeiten des Roboter C3PO (Anthony Daniels, bei allen Episoden dabei) sind immer noch gefragt.
Die Dunkle Macht ist wiederwacht, das reaktivierte Phantom Palpatine alias Imperator hat eine riesige Flotte von Sternenzerstörern und eine Sith-Armee aufgebaut. Jetzt soll den Rebellen endgültig der Garaus gemacht werden. Rey, ihre Gefährten Finn (John Boyega), Poe (Oscar Isaac) und auferstandene Jedi-Ritter lassen die Galaxis nicht verkommen. Kylo alias Ben Solo seine Mutter Leia, wie erwähnt, aber auch andere segnen das Irdische oder besser Galaktische, auch Rey stirbt, wird aber wiedererweckt. In der Galaxis ist alles möglich.
Regisseur J.J. Abrams hatte bereits Episode 7 «The Force Awakens» (2015) Regie geführt und inszenierte nun das Space-Finale mit grosser Kelle. Für eingefleischte «Star Wars»-Fans das gigantische Finale (142 Minuten) ein Muss, für Neulinge ein Ereignis, für andere Kenner eher ein Déjà-vu-Erlebnis. Einige neue Figuren und spektakuläre Kampfszenen, u.a. mit zotteligen Rössern auf einem Raumkreuzer, aber sonst irgendwie bekannt – die Luftkämpfe, die Duelle mit den Lichterschwertern, Emotionen, kurrligen Typen, Soldatenmassen, Spaceschlachten und über allem der Endkampf zwischen Dunkler Macht (Siths) und Jedis samt Rebellen. Am Ende werden die Lichtschwerter von Rey Skywalker vergraben: Die weibliche Kraft hat gesiegt. Und das kann doch nicht der letzte Akt sein …?
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Knives Out

rbr. Klassischer Kammerkrimi. Vor nicht allzu langer Zeit trieb er sich noch in unendlichen Spaceweiten herum: Rian Johnson führte das Lichterschert beziehungsweise die Regie in der achten Space-Wars-Episode «The Last Jedi». Nun hat er sich auf einen Krimi der klassischen Agatha-Christie-Art kapriziert. Nur, dass diesmal nicht Hercule Poirot am Werke ist, sondern ein Schnüffler namens Benoit Blanc und nicht Christie die Feder führt, sondern Rian Johnson selber. Die Ausgangslage ist nicht ganz unbekannt und bei manchen Krimi-Kammerspielen beliebt: Harlan Thrombey (Christopher Plummer), Krimischreiber und Patriarch, feiert auf seinem Landsitz den 85. Geburtstag. Doch am Trag danach lebt er früher ab, als ihm lieb ist. Und so beginnt das grosse Puzzlespiel: Wer war’s in der mehr oder weniger illustren Gesellschaft? Marta (Ana de Armas), die herzensgute, aber auch sehr vertraute Pflegerin des grossen Abwesenden, kommt wohl kaum in Frage. Aber da wären ja auch noch der verbitterte Sohn Walt (Michael Shannon), die aasgeiergierige Tochter Linda (Jamie Lee Curtis), die durchtriebene Schwiegertochter Joni (Toni Collette) samt Gatten Richard (Don Johnson) sowie der nichtsnutzige Enkel Ransom (Chris Evans), der sich desinteressiert gibt. Wie in besten Agatha-Christie-Kammerkrimis muss ein Ermittler das verworrene Knäuel dieser mörderischen Party entwirren. Detektiv Blanc (007-Akteur Daniel Craig) und Assistent, Leutnant Troy Archer (Keith Stanfield) legen Schicht um Schicht frei (insgesamt über 130 Minuten). Es wird gelogenen und getrickst, traktiert und taktiert, fingiert und agiert. Mag das Mörderspiel auch etwas altmodisch wirken, hat es doch gesellschaftliche Spannung und gediegenen Charme. Ganz nebenbei teilt Johnson auch Seitenhiebe gegen die US-Gesellschaft und den selbstherrlichen US-Führer aus. Ein betuliches, fast schon behagliches Vergnügen.

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Les Hirondelles de Kaboul
rbr. Bekenntnis zur Liebe. Selten birgt ein Animationsfilm so viel Leid und Liebe, Verzweiflung und Hoffnung, Schrecken und Zärtlichkeit. Die Geschichte spielt 1998 in Kabul, ist aber zeitlos und nicht an Afghanistan gebunden. Zugrunde liegt der Roman «Die Schwalben von Kabul» von Yasmina Khadra (dahinter verbirgt sich der Algerier Mohammed Moulessehoul). Die Herrschaft der Taliban hat allen «Untertanen» Freiheit geraubt, sie unterdrückt, zu Werkzeugen gemacht, vor allem ist sie absolut frauenfeindlich. Die junge Zunaira, voller Lebenslust, ist quasi zuhause gefangen. Sie liebt Mohsen, doch nur hinter verschlossenen Türen, bis die rebellische Zunaira eines Tages von Taliban-Schergen entdeckt und zum Tode verurteilt wird. Atiq ist Wärter in einem Frauengefängnis, und hat auch Zunaira zu bewachen. Er selbst hat eine todkranke Frau daheim, lehnt die radikalen menschenverachtenden Talban innerlich ab und hat Erbarmen mit dem jungen Leben.
Zabou Breitman (Regie) und Eléa Gobbé-Mévellec (Zeichnungen) haben diese bewegende Geschichte mit einfachen Bildern zum Leben erweckt. Da bedarf es keiner ausgefeilten 3-D-Technik. Mögen die Bilder auch oberflächlich scheinen, so sprechen sie für sich, fast schon dokumentarisch. Sie erzählen von ideologischer Verblendung und Unterdrückung, dem täglichen Terror, der Ohnmacht der Menschen und der Kraft der Liebe – über das irdische Leben hinaus. Ein beeindruckender Animationsfilm, ungeschönt, dramatisch, ergreifend –jenseits von Disney oder Hollywood.
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Les Misérables
rbr. Recht im Unrecht. Hier herrscht das Gesetz der Strasse oder des Stärkeren – in Vororten wie Montfermeil (bei Paris). Stéphane (Damien Bonnard) hat sich einer Sondereinheit der Polizei zuteilen lassen. Ein «Neuling», der von seinen Teamkollegen, dem weissen Anführer Chris (Alexis Manenti) und dem schwarzen Partner Gwada (Djibril Zonga), gehänselt und nicht für voll genommen wird. Es ist die Zeit der Fussball-WM, als Frankreich 2018 siegte. Das Trio geht auf Pirsch, streift quasi mit dem Streifenwagen durchs Quartier, das von dem selbsternannten Bürgermeister (Steve Tientcheu) und dem Muslimführer Salah (Almany Kanoute) mehr oder weniger kontrolliert wird. Ein kleiner Vorfall eskaliert: Der Strassenjunge Issa (Issa Perica) klaut ein Löwenbaby aus dem Zirkus, der Anführer der Zirkusleute, ein Zigeuner, klagt und droht den Quartierführern. Irgendwie kommen die drei Polizisten dem minderjährigen Issa auf die Spur, verfolgen ihn, dabei verletzt Gwada den Dieb mit einem Gummigeschoss. Den Vorfall filmt der junge Buzz (Al-Hassan Ly) mit der Drohne. Gwada und seine Kumpel stecken in der Klemme. Wenn das herauskommt… Der Krieg zwischen Kids und Flics eskaliert. – Der Spielfilm Ladj Lys (Regie, Drehbuch) beruht auf eigene Erfahrungen und tatsächlichen Begebenheiten. Er ist in Montfermeil aufgewachsen und sein Film erinnert an die Unruhen von 2005. Der Filmer hatte zuvor verschiedene Ereignisse dieser Art dokumentiert («365 Tage in Clichy-Montfermeil»). So entstand ein sehr realistisches, dokumentarisches Drama, in dem Recht und Gesetz aus dem Ruder laufen, in dem verschiedene Welten aufeinanderprallen. Ladj Ly nimmt dabei überwiegend die Perspektive der Polizisten ein, ohne sie zu schützen. Es bleibt offen, ob am Ende Gewalt oder Einsicht siegen, es zum Stillstand kommt. Das Problem bleibt, dem sich die französische Politik nicht angenommen hat: Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Missstände, Perspektivlosigkeit in den Multikulti-Vorstädten, wo teilweise 30 Nationalitäten Seite an Seite existieren müssen. Ein schonungsloser Spielfilm nah an der Realität, der von Frankreich für den Oscar angemeldet wurde. Der Filmtitel «Les Misérables» bezieht sich augenscheinlich auf den Roman von Victor Hugo («Die Elenden»), der 1862 in Montfermeil spielt, hat aber mit diesem Buch nichts zu tun, schon gar nicht mit dem Musical und der Verfilmung (2012) .
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Portrait de la jeune fille au feu
I.I. Ein Kleinod von Film. Wie ein Äquivalent der Malerei, mit langen Landschaftseinstellungen der bretonischen Steilküste, dem tosenden Meer, den schreienden Möwen, schwermütigen Menschen, die nicht viel reden. Zwei Stunden lang steht eine Frau im 18. Jahrhundert im Mittelpunkt, eine Malerin, Marianne (Noèmie Merlant), die das Geschäft ihres Vaters übernommen hat. Man sieht ihr zu, wie sie für ihre Schülerinnen posiert, und wie sie souverän Auskünfte erteilt, wie Selbständigkeit für sie eine Normalität darstellt, die es zu ihrer Zeit keinesfalls ist. Und wie sie Aufträgen nachreist, Menschen zu porträtieren, wie die junge Héloise (Adèle Haenel), die sich weigert, Modell zu stehen für ihr Hochzeitsporträt. Sie soll mit einem Unbekannten in Milano verheiratet werden. Ihre Schwester hätte statt ihrer mit ihm getraut werden sollen, sie hatte sich von den Steilküsten in den Tod gestürzt. Marinne soll Héloise heimlich malen, so ihre Mutter (Valeria Golino). Doch Marianne gesteht Héloise den Schwindel und zerstört ihr Bild. Daraufhin beschliesst Héloise, nun doch für sie zu posieren. Eine Intimität entsteht zwischen den beiden, die eine unmögliche Liebesgeschichte eingehen. Die Regisseurin Céline Sciamma inszeniert den wunderbaren Film als Kunstwerk, der in Cannes für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde.
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Pavarotti

I.I. Die Oper war sein Leben. Oscar-Gewinner Ron Howard (Apollo 13, Illuminati) widmet sein Musik-Doku dem weltberühmten, umschwärmten Opernsänger Luciano Pavarotti, mit bis heute unveröffentlichten Fotos und privaten Film-Aufnahmen. Pavarotti verkaufte 26 Millionen Tonträger, mit seinen Konzerten und einem Mix von Opern- mit Popmusik erreichte er Millionen. 2007 starb Pavarotti im Alter von 71 Jahren. Hollywood-Regisseur Howard setzt dem begnadeten Künstler mit seiner Biopic ein filmisches Denkmal, um dem ereignisreichen Leben des grossen Sängers nachzuspüren, wobei der Schwerpunkt auf dem künstlerischen Aspekt liegt. Der Film besteht aus einer Fülle an Konzert-Ausschnitten und Arien, von mehr oder minder guter Qualität, ergänzt durch Interviews mit Managern, Journalisten und Musikerkollegen wie Bono von U2. Es sind vor allem die begeisternden Aufnahmen der «drei Tenöre» Luciano Pavarotti, Placido Domingo, José Carreras und die emotionalen Konzertszenen mit Künstlern der Popmusik, die zeigen, dass Pavarotti die Grenzen klassischer Musik und Gesangskunst sprengte. Wer Pavarotti liebt, wird diese Doku als Erinnerung schätzen.
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to be continued

 

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