«Design Museum London: Stanley Kubrick – Die ganze Welt im Kopf»
Von Marion Löhndorf,
Auch für Filme, die an entferntesten Orten spielten, fand der amerikanische Meisterregisseur stets Bilder in seiner britischen Umgebung. Wie die Ärzte von Alex in «Clockwork Orange» zwingt auch er uns, hinzusehen, ob wir wollen oder nicht durch die Verführungskraft seiner hypnotischen Bilder. Das Londoner Design Museum zeigt Stanley-Kubricks Kosmos noch bis zum 15. September.
Stanley Kubricks Film-Schauplätze haben sich ins populäre Gedächtnis eingebrannt: Das einsame Hotel in den Rocky Mountains, ein Ausbildungslager der US-Marines, die Schlachtfelder von Vietnam, eine Weltraumstation mit Blicken in die Unendlichkeit des Raums oder eine in die Zukunft projizierte Londoner Suburbia.
Seine Filme hätten überall auf der Welt entstanden sein können. Tatsächlich aber drehte der Amerikaner (1928 – 1999) von 1968 an fast nur noch in Grossbritannien – alle Innenaufnahmen entstanden in den Elstree-Filmstudios in Borehamwood in Hertfordshire und in den Shepperton Studios im Südosten der britischen Hauptstadt: Von «2001 – Odyssee im Weltraum» (1968), «A Clockwork Orange» (1971), «Barry Lyndon» (1975), «The Shining» (1980) und «Full Metal Jacket» (1987) bis hin zu «Eyes Wide Shut» (1999).
Intellektuelle Laboratorien
Ganz gleich, ob es sich um Studiobauten oder um Orte aus der Wirklichkeit handelte, wie die Londoner Brunel University oder die Royal Artillery Barracks in Woolwich in «Clockwork Orange»: Kubricks Schauplätze verwandeln sich auf der Leinwand zu etwas ganz anderem, fast nicht mehr mit den Vorgaben Identifizierbarem. Seine Kosmen – Landschaften und Innenräume von grosser Unterschiedlichkeit – dienen nicht nur der speziellen Ästhetik des jeweiligen Films und fügen sich zu Kunstwelten zusammen. Sie werden zu werden zu intellektuellen Laboratorien und in sich geschlossenen Systemen.
«Im Film versuchst Du ein Foto von der Wirklichkeit zu fotografieren», hatte Stanley Kubrick einmal zu Jack Nicholson gesagt. Das ist seinen Werken anzusehen. Sie haben mit dem Leben nur mittelbar zu tun, betrachten es aus zweifacher Distanz, aber um so schärfer in ihrer Wahrnehmung und unerbittlichen, oft hoffnungslosen Diagnose. Darin liegt ein Reiz des Besonderen, Befremdlichen und manchmal Monströsen, das sie an sich haben. Wenn man die Wahl der in Wahrheit britischen Schauplätze kennt, erscheint einem das Nicht-Realistische noch pointierter. Über die in den englischen Pinewood-Studios gefilmten Kulissen von «Eyes Wide Shut» sagte Martin Scorsese: «Es ist, als ob man New York im Traum erlebt».
In «Lolita» (1962) machte Kubrick aus dem in Frankreich geborenen Ich-Erzähler des Nabokov-Romans einen englischen Ex-Pat in Amerika, gespielt von James Mason, einem Engländer. Es war sein erster zu grossen Teilen in Grossbritannien entstandener Film. Kubrick selbst, ein Kind der Bronx, zog in den sechziger Jahren ins freiwillig gewählte englische Exil und verliess es dreissig Jahre lang, bis zu seinem Tod, nur ungern. «Dabei blieb er zeitlebens ein New Yorker. Er verlor nie seinen Akzent und las täglich die New York Times», erzählt sein Produzent, Nachlassverwalter und Schwager Jan Harlan, der von 1969 an bis zu seinem Tod 1999 Kubricks rechte Hand war, im Gespräch mit der NZZ. Zog Kubrick das Fremde an? Harlan glaubt es nicht. Wohl aber fühlte sich der als Kind einer aus Galizien nach New York eingewanderten Familie der europäischen Kultur tief verbunden.
«Er liebte England. Er mochte es, dass die Leute ihn hier nicht bedrängten, ihm gefiel das Wetter und auch der Regen störte ihn nicht. Es gab auch gutes Radio und anständiges Fernsehen», sagt Jan Harlan. Sein Haus auf dem Land verliess der Amerikaner ungern, nicht einmal in Richtung London. Wenn man Jan Harlan über Kubrick reden hört, bekommt das Image des entrückten Genies Risse: «Wenn das Eis gebrochen war, war er sehr gut, aber von jedem angesprochen und nach dem Ende von <2001> gefragt werden, diese Art Gespräch mochte er nicht». Er sei ein sehr politischer Mann gewesen, sehr skeptisch, eine Haltung, die ja auch seinem Werk eingeschrieben ist. „Er meinte, so wie wir uns benehmen, gehen wir unter,“ sagt Harlan.
Da Kubrick, der unter Flugangst litt und Reisen vermied, holte er sich die Welt nach Hause. Seinen Landsitz Childwickbury Manor in Hertfordshire benutzte er auch als Planungsbüro für seine Filmproduktionen, für die Lagerung von Kulissen und Kostümen und als Schneideraum. Von dort blickte er «auf die Welt wie auf eine Modell-Landschaft», wie Michael Althen schrieb und «hat aus seinen Filmen und Büchern, die er dort hortete Muster und Regeln herausdestilliert, die er dann auf seine Filme und Figuren anwandte». Leben und Arbeit gingen an diesem Ort ineinander über. Stanley Kubrick starb dort, im Garten des Anwesens ist er begraben. Seine Frau Christiane lebt und malt dort noch immer.
Auch Bilder für Filme, die an weit entfernten Orten spielten, fand Kubrick in der englischen Umgebung. Die Szenen im Ausbildungscamp in «Full Metal Jacket», dem «Marine Corps Recruit Depot Parris Island, South Carolina», wurden auf einem ehemaligen Stützpunkt der Royal Airforce in der Nähe von Cambridge gedreht und der Wirklichkeit massstabsgerecht nachgebildet. Die im Film gezeigte Gemeinschaftstoilette in der Unterkunft der Einheit, ebenfalls im Studio nachgebaut, war allerdings reine Erfindung, die er «lustig und absurd» fand und als «künstlerische Freiheit» bezeichnete, so Harlan: «Man hat ihn immer für wahnsinnig pingelig gehalten. Doch viel wichtiger war, dass es für ihn richtig war».
Kein Entkommen
Das Vietnam der zweiten Filmhälfte von «Full Metal Jacket» entstand in London, auf dem Gelände eines abbruchreifen Gaswerks, das während der Aufnahmen demoliert werden durfte. Palmen, Rauch, zerstörte Gebäude und Plakate mit vietnamesischer Schrift – das waren die Bestandteile, aus denen der Regisseur und seine Crew die Bilder des Krieges in einem Land zusammensetzten, in dem die Soldaten ihre Orientierung verlieren, geographisch und moralisch. Oft wirken Kubricks Schauplätze auch bei Aussenaufnahmen klaustrophobisch, wie Stätten von denen es kein Entkommen gibt.
So wie im Alptraum-Hotel von «The Shining», dessen Eingangssequenz geradewegs ins Grauen führt (und von Jan Harlan mit Kameramann Doug Milsome in Oregon in der «Timberline Lodge» vor Mount Hood gedreht wurde: «Für die Winteraufnahmen waren wir ganz alleine. 1000 Watt-Lampen waren in unseren Schlafzimmern, sodass man nach frischem Schneefall – und ganz früh während der Morgendaemmerung – diese schöne Lichtmischung aus dem verschlafenen Hotel vor diesem erloschenen Vulkan im Schnee bekam»), während alle Innenaufnahmen in Londoner Elstree Studios entstanden. Die Architektur der Hotelkulisse, die im Film wie aus einem Guss wirkt, ist in sich nicht schlüssig und auch sonst bleiben bei dem Film jede Menge Fragen offen (Wie kann Jack dem Vorratsraum entfliehen?). Aber schliesslich ist es ein Film über Geister: «Nichts passt! Doch das spielt überhaupt keine Rolle» erklärt Jan Harlan. «Genau das reizte Stanley. Als er das Buch gelesen hatte, sagte er. <Why not try it?>».
Eine der berühmtesten Szenen führt durch endlose Hotelflure. In schneller Fahrt folgt die Kamera einem Kind auf einem Dreirad, nur ein paar Zentimeter über dem Boden. Das ist so hypnotisch wie die pausenlose Wiederholung der vorbeirasenden Muster des Teppichbodens. Sie geben der Sequenz eine abstrakte, fast psychedelische Qualität, zusammen mit einem nervtötenden Soundtrack, der sich immer dann ins Ohrenbetäubende steigert, wenn die Räder von den schallschluckenden Teppich-Korridoren auf Parkettböden krachen.
Das aber ist Kubrick pur: es geht ums Sehen, um ein Delirium des Sehens in diesem Fall, reichen Tonspur, auch jenseits des Dialogs. Die fast stummfilmhafte Qualität zeigt sich schon in ganz frühen Filmen wie „Killer‘s Kiss“ (1955), der mit ganz wenigen Worten auskommt und deren Requisiten und Kulissen denselben Stellenwert haben wie seine Figuren. Damals diente noch Kubricks Geburtsstadt New York als Schauplatz und Drehort, doch wirkte sie schon so entrückt und eigenartig wie alle anderen, späteren Kubrick-Orte. Seine Sicht der Stadt – als Labyrinth voller Sackgassen und bedrohlicher Strassenkorridore, abweisender Häuserfronten, enger, zugestellter Zimmer und verschlossener Lagerräume – gab schon einen Vorgeschmack auf das Kommende.
«Stanley Kubrick: The Exhibition»
Die Stanley-Kubrick-Ausstellung seit dem 26. April und bis zum 15. September im Londoner Design Museum zu sehen, hat eine Weltreise mit zwanzig Stationen hinter sich. Gezeigt werden Materialien aus dem persönlichen Nachlass des Regisseurs sowie Leihgaben aus internationalen Museen und Privatsammlungen. Die meisten Objekte entstammen Kubricks Arbeitsarchiv. Im Jahr 2003 erschloss das Deutsche Filmmuseum Frankfurt diesen vorher für die Öffentlichkeit weitgehend unzugänglichen Bestand auf Kubricks Wohn- und Arbeitsstätte nahe London.
«Louise Bourgeois & Pablo Picasso: Anatomies of Desire»
I.I. Getroffen haben sie sich nie, aber sie sind nun in einen Dialog unter dem Titel «Anatomies of Desire» gestellt, der es in sich hat. Die Galerie Hauser & Wirth, Zürich präsentiert in einer formidablen Ausstellung über neunzig Gemälde, Skulpturen und Arbeiten auf Papier von Louise Bourgeois und Pablo Picasso, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Oeuvres der beiden bedeutenden Künstler ermöglicht.
Leitmotiv der Ausstellung ist ‚das Paar‘, Mann und Frau, Sexualität, Schwangerschaft und Mutterschaft. Zwar weisen Bourgeois und Picasso weder formal noch wesensmässig eine grosse Nähe auf, dennoch verbindet sie das Thema ‚Sexualität‘. Was Bourgeois über sich sagte, lässt sich auch auf Picasso anwenden: «… mein Zentrum ist meine Sexualität. Alles liegt darin. Sie ist der Fixpunkt».
Die Umarmung als körperliche Verschmelzung ist ein häufiges Sujet in den Arbeiten von Picasso, wie in einer filmischen Nahaufnahme vereinigen sich die beiden Profile von Mann und Frau zu einer einzigen Linie. Das Thema der Paarung findet sich auch in Bourgeois‘ Werken. ‚End of Softness‘ (1967) beispielsweise vereint nicht nur Mann und Frau, sondern auch die Ideen von Härte und Weichheit zu einer unheimlichen ambivalenten Einheit, einer Art erstarrten Metamorphose. Ambivalenz ist bei Bourgeois ein häufiges Stilmittel.
Louise Bourgeois und Pablo Picasso haben sich nie kennen gelernt. Während sie sein Werk bewunderte, scheint er ihr Werk nie gesehen zu haben. Dennoch gibt es zwischen ihren Biografien und dem Kunstverständnis erstaunliche Parallelen. Sowohl Bourgeois wie Picasso wuchsen in der künstlerischen Atmosphäre der elterlichen Werkstatt auf und für sie wurde das Sammeln und Horten persönlicher Gegenstände zur Obsession. Beide glaubten an die Macht des Wortes und schufen ein reiches poetisches Werk. Picasso eher voluminös und kalligrafisch, Bourgeois als obsessive Tagebuchschreiberin auch literarisch. Zudem glaubten beide, in der Kunst stecke etwas zutiefst Autobiografisches und griffen auch bevorzugt auf archaische, primitive Quellen des Schöpferischen zurück.
Sowohl Bourgeois wie Picasso entwickelten ihre Ideen rund um die von Muttergöttinnen verkörperte Fruchtbarkeit. Bourgeois‘ nuancierte und ambivalente Mutterfiguren markieren allerdings einen markanten Unterschied zu denen von Picasso. Das Motiv der Schwangerschaft tauchte in Bourgeois‘ Oeuvre bereits 1947 mit ‚Pregnant Woman‘ auf, einer hieratischen Figur aus Holz und Gips, gleich einem urtümlichen Kultbild. Später, in den frühen 2000er Jahren, entstanden Figuren aus rosa Stoff, bei denen das Kind manchmal ausserhalb des Mutterleibs in einem transparenten, mutterschossähnlichen Sack aus Tüll gehüllt wurde, um dessen Zerbrechlichkeit hervorzuheben. Auch Picasso stellte mehrfach Schwangerschaften dar, so zum Beispiel mit der Skulptur ‚Femme enceite (‚Pregnant Woman‘), die zwischen 1950-1959 entstand, als Picassos Partnerin Françoise Gilot mit Claude und später mit Paloma schwanger war. In dieser und ähnlichen Arbeiten erforschte er wiederholt die Metamorphosen des weiblichen Körpers während der Schwangerschaft (Hauser & Wirth, bis 14. September 2019).
Ein ausführlicher, grossformatiger Ausstellungskatalog mit diversen Abbildungen ist in der Galerie erhältlich.
Louise Bourgeois & Pablo Picasso
Anatomies of Desire
Hauser & Wirth Publishers, 2019. Edited by Marie-Laure Bernadac.
Beiträge von Emilie Bouvard, Jerry Gorovoy, Ulf Küster,
Gérard Wajcman, Diana Widmaier Picasso.
Hauser & Wirth
Limmatstrasse 270
8005 Zürich
www.hauserwirth.com