«Tove Ditlevsen: Kindheit, Jugend, Abhängigkeit – ein literarisches Juwel»
Von Ingrid Isermann
Es sind nur drei schmale Bände, doch sie lösen ein literarisches Erdbeben und begeisterte Kritiken aus. Dabei war ihr Name ausserhalb Dänemarks bisher kaum bekannt. Das ändert sich jetzt. Denn Tove Ditlevsen hatte ein Geheimrezept: die Sprache, die Poesie.
Der erste Band «Kindheit» spielt im Kopenhagen der 1920er Jahre, die keine goldenen Jahre sind, zumindest nicht für die kleine Tove und ihre Eltern. Die hartherzige Mutter, die kein anderes Rezept für ihre Tochter hat, als ihr früh eine Heirat nahezulegen, damit sie versorgt ist, der oft arbeitslose Vater aber findet, das solle Tove doch selbst entscheiden, wenn es soweit ist. Er liest Bücher und ist Gewerkschafter. «Ein Mädchen kann nicht Dichter werden», hatte der Vater zu ihr gesagt.
Im zweiten Band «Jugend» zeichnet Tove Ditlevsen das Porträt einer jungen Frau im Kopenhagen der 1930er, die ihren eigenen Weg geht, rebellisch, wild, fesselnd erzählt. Die Nazis haben Kopenhagen besetzt, manche von Toves Freunden werden zu nationalistischen Anhängern. Ihr neuer Freund Ebbe interessiert sich für ihre Gedichte und sie verlässt den älteren Herausgeber einer Literaturzeitschrift, der ihren Gedichten zuerst etwas abgewinnen konnte.
Im dritten Band «Abhängigkeit» beschreibt Tove Ditlevsen offen und mit frappanter Unmittelbarkeit ihr Leben als Schriftstellerin und Mutter, über Liebe, Freundschaft und die Verlockungen der Sucht. Die Geschichte einer Befreiung, und das eindringliche Porträt einer Frau, verletzlich, souverän, eigenständig.
Trotz aller Bedrängnisse sind diese drei Bücher – einfach schön, durch ihre leuchtende Sprache, präzise, prägnant und nachhaltig. Denn es ist die Sprache, die Tove Ditlevsen rettet und einzigartig macht, womit sie sich aus der Armut herausträumt und herauskatapultiert, als ihre ersten Gedichte und Erzählungen erscheinen.
Eine frühe Heirat, Mutterschaften und später eine fatale Drogenabhängigkeit, befördert von ihrem dritten Mann Carl, Arzt und selbst psychisch krank, der an Morphium, Perthidin oder Methadon herankommt und sie ihr ohne Limit verschreibt.
Erst als sie nur noch 30 kg wiegt, ruft sie einen anderen Arzt an, der sie sofort in eine Suchtklinik einweist, wo sie mehrere Monate bleibt und gesundet. Fünf Jahre nach Erscheinen des dritten Bands der Trilogie «Abhängigkeit» nahm sie sich 1976 mit 58 Jahren mit Schlaftabletten das Leben.
In den letzten Jahren erlebten Tove Ditlevsens Bücher in Dänemark eine Renaissance, wie nun auch international, nachdem sie zunächst von jungen Autorinnen und Lyrikerinnen wiederentdeckt wurde, schreibt die Übersetzerin Ursel Allenstein in ihrem Nachwort. Für deutsche LeserInnen sind diese drei Erinnerungsbücher zum ersten Mal vollständig zugänglich, Kindheit und Jugend entstanden 1967 und wurden jetzt erstmals übersetzt, Abhängigkeit (1971) liegt in einer Neuübersetzung vor.
Als Tove Ditlevsen nach fünf Jahren der Medikamentenabhängigkeit und Schaffenspause, wie in Abhängigkeit geschildert, aus der Suchtklinik entlassen wurde, kam sie in eine veränderte literarische Welt. Der Modernismus hatte sie eingeholt, und seine überwiegend männlichen Vertreter hielten ihre Gedichte für altmodisch, ihre autobiografische Subjektivität für narzisstisch und ihre weiblichen Themen für banal. Gelesen wurde sie jedoch immer, ihre Bücher verkauften sich gut, denn sie kannte die Probleme der Leserinnen, ihre Sorgen und ihren Schmerz. Aufgrund der Radikalität ihres autofiktionalen Schreibens wird sie als Vorläuferin von Annie Ernaux und Rachel Cusk gesehen. Vor dem Hintergrund ihrer Zeit und Herkunft erscheint die Kompromisslosigkeit, mit der Tove Ditlevsen von klein auf ihren eigenen Weg verfolgte, umso beeindruckender. Über die grössten menschlichen Abgründe zu schreiben, verleiht der Kopenhagener Trilogie eine faszinierende und zeitlos moderne Bedeutung.
Leseproben (Auszüge):
KINDHEIT
EINS
Am Morgen war die Hoffnung da. Sie sass als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar meiner Mutter, das ich nie zu berühren wagte, und sie lag mir auf der Zunge wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei, den ich langsam verspeiste, während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete, die reglos auf den Zeitungsberichten über die Spanische Grippe und den Versailler Vertrag ruhten. Mein Vater ging arbeiten, mein Bruder in die Schule. Also war meine Mutter allein, obwohl auch ich da war, und wenn ich mich nicht rührte und nichts sagte, konnte die ferne Ruhe in ihrem seltsamen Herzen andauern, bis der Vormittag alt wurde und sie auf die Istedgade zum Einkaufen gehen musste wie die gewöhnlichen Hausfrauen. (…)
ZWEI
Auf dem Grund meiner Kindheit steht mein Vater und lacht. Er ist so alt und schwarz wie unser Kachelofen, aber nichts an ihm macht mir Angst. Sämtliche Dinge, die ich über ihn weiss, darf ich wissen, und wenn ich mehr wissen will, brauche ich ihn nur zu fragen. Er spricht nicht von sich aus mit mir, weil er nicht weiss, wie er mit kleinen Mädchen reden soll.
Hin und wieder tätschelt er mir den Kopf und sagt: «Hehe». Dann presst meine Mutter die
Lippen zusammen und er zieht die Hand hastig wieder zurück. Mein Vater hat gewisse Rechte, weil er ein Mann ist und uns alle versorgt. Damit muss sich meine Mutter wohl oder übel abfinden, allerdings tut sie es nicht ohne Protest. «Du könntest dich ruhig hinsetzen wie wir anderen auch», bemerkt sie, wenn er sich aufs Sofa legt. Und wenn er ein Buch liest, sagt sie: «Vom Lesen wird man wunderlich. Alles, was in Büchern steht, ist gelogen». (…)
JUGEND
FÜNF
Hitler ist in Deutschland an die Macht gekommen. Mein Vater sagt, das sei ein Sieg der Reaktionären, und die Deutschen hätten es nicht besser verdient, weil sie ihn selbst gewählt hätten. Herr Krogh nennt es eine Katastrophe für die ganze Welt und ist so bedrückt und schwermütig, als hätte er einen persönlichen Verlust erlitten. Die Damen in der Pension jubeln und sagen, wenn Stauning so wäre wie Hitler, hätten wir keine Arbeitslosigkeit. Stattdessen sei er schwächlich, korrupt und versoffen, und seine Regierung mache alles falsch. Anstelle ihre Mittagsschläfchens hören sie die Nachrichten im Radio, kehren mit leuchtenden Augen zurück und sagen, der Reichstagsbrand sei von den Kommunisten gelegt worden und während des Prozesses würde das nun auch bewiesen. Mein Vater und Herr Krogh sagen, die Nazis hätten ihn selbst gelegt, und wenn ich überhaupt eine Meinung habe, dann dieselbe wie sie. Vor allem bin ich erschrocken, als könnten die Wellenbewegungen des grossen Weltmeeres jeden Moment mein kleines, zerbrechliches Schiff zum Kentern bringen. (…)
ABHÄNGIGKEIT
FÜNF
Dann hört die Zeit auf zu existieren. Eine Stunde kann wie ein Jahr sein und ein Jahr wie eine Stunde. Es hängt davon ab, wie viel oder wie wenig in der Spritze ist. Mitunter wirkt sie auch gar nicht, und ich sage zu Carl, der immer in meiner Nähe ist: «Es war viel zu wenig drin». Er reibt sich mit einem gequälten Ausdruck das Kinn. «Wir müssen die Dosis ein wenig herabsetzen», mahnt er, «sonst wirst du am Ende noch krank». «Ich werde krank, wenn ich nicht genug bekomme», erwiderte ich, «warum lässt du mich so leiden?». «Jaja,», murmelte er mit einem hilflosen Achselzucken, «dann kriegst du eben noch ein bisschen mehr».
(…) Ich verpasse den Wechsel der Jahreszeiten. Die Gardinen sind immer zugezogen, weil mir das Licht in die Augen sticht, und es gibt keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Ich schlafe, ich bin wach, ich bin gesund oder krank. Irgendwo weit weg steht meine Schreibmaschine, in so grossem Abstand, als würde ich sie durch ein umgedrehtes Fernglas sehen, und aus dem Untergeschoss, wo sich das lebendige Leben abspielt, dringen die Stimmen der Kinder zu mir herauf wie durch viele übereinandergeschichtete Wolldecken.(…)
SIEBEN
Es ist Frühjahr, als ich in das Haus auf dem Ewaldbakken zurückkehre. In den Gärten duften die Forsythien und der Goldregen, dessen Blütentrauben über die Hecken entlang des schmalen Kieswegs hängen. Jabbe hat eine kleine Festtafel gedeckt, es gibt Schokolade und selbstgebackenen Kuchen, und die Kinder sitzen sauber und ordentlich gekleidet ringsherum. Mitten auf dem Tisch lehnt ein Pappschild an einer Blumenvase. „Willkommen zu Hause, Mama“, steht dort mit schiefen Blockbuchstaben, und Helle erzählt, dass sie es selbst gemalt hat. Sie sieht mich mit ihren mandelförmigen Ebbe-Augen an, während sie auf mein Lob wartet. Die beiden Jüngeren sind still und schüchtern, und als ich Tine, diesem fremden kleinen Vogel, über das Haar streichen will, schubst sie meine Hand weg und schmiegt sich an Jabbe. (…)
Tove Ditlevsen (1917–1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der grossen literarischen Stimmen Dänemarks. Die „Kopenhagen-Trilogie“ mit den drei Bänden „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die „Kopenhagen-Trilogie“, erschienen im Aufbau-Verlag, Berlin, wird derzeit in sechzehn Sprachen übersetzt.
Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.
Tove Ditlevsen
Kindheit
Aufbau Verlag, Berlin 2021
Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie
Aus dem Dänischen und mit
einem Nachwort von Ursel Allenstein
Hardcover, 120 S.
CHF 27.90. €18,00
ISBN: 978-3-351-03868-7
Tove Ditlevsen
Jugend
Aufbau Verlag, Berlin 2021
Teil 2 der Kopenhagen-Trilogie
Hardcover, 124 S.,
CHF 27.90. € 18,00
ISBN: 978-3-351-03869-4
Tove Ditlevsen
Abhängigkeit
Aufbau Verlag, Berlin 2021
Teil 3 der Kopenhagen-Trilogie
Hardcover, 180 S.
CHF 27.90. €18,00
ISBN: 978-3-351-03870-0