Schweizer Botschaft Berlin
Tim Guldimann © OSEC / Hasan Sopa
«Unser Nachbar Deutschland»
Von Tim Guldimann
Das Verhältnis der Schweiz zum nördlichen Nachbarn ist verkrampft. Damit schadet sich die Eidgenossenschaft. Was ist zu tun? Eine schonungslose Analyse von Tim Guldimann, dem Schweizer Botschafter in Berlin.
Deutschland ist das wichtigste und mächtigste Land in Europa. Ist diese Nachbarschaft für uns Schweizer ein Vorteil?
Oft sehen wir darin eher ein Schicksal als eine Chance. Aber es ist eine Chance: Die Deutschen mögen uns. Erstens ist die Schweiz in Deutschland beliebter als anderswo, und zweitens bringen die Deutschen unserem Land mehr Sympathie entgegen als anderen Ländern – wenn man Meinungsforschern glauben will. Fest steht in jedem Fall, dass die Schweiz in Deutschland auf ein breites Wohlwollen zählen kann.
Auch wenn sich in den letzten Jahren kritische Töne beigemischt haben, zum Bankgeheimnis oder zur Minarett-Initiative, unser Image ist unverwüstlich. Inzwischen haben die Verschuldungskrise, Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 oder die Kritik an der Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke die bewundernden Seitenblicke auf unsere direkte Demokratie verstärkt.
Wie steht es mit unserer Gegenliebe? Vor kurzem war ich im Engadin. Ich parkte nicht ganz ordnungsgemäss vor einem Haus. Als ich zurückkam, stieß ich auf eine aufgebrachte Gruppe schweizerischer Kurgäste, die lautstark meine Töchter beschimpften. Als sie mich als den eigentlichen Schuldigen entdeckten, war ihre auf Schriftdeutsch geäusserte Wut nicht mehr zu bremsen: Dickes deutsches Auto, deutsche Auto-nummer – die Vorurteile waren bedient. Meine Reue auf Schweizerdeutsch lief ins Leere, ich war der Deutsche. Ihre Beschimpfungen, weiterhin auf Schriftdeutsch, nahmen ihren Lauf.
Wir Schweizer grenzen uns ab. Unsere Zurückhaltung hat Tradition. In den sechziger Jahren versuchten wir Enkel einmal, unsere Grossmutter davon zu überzeugen, einen Mercedes zu kaufen. »I will kai Schwoobenauti« – die resolute Baslerin war nicht umzustimmen.
Seither hat sich unsere Haltung zwar etwas entspannt, sie ist sachlicher geworden. Wer im Fussball die Deutschen unterstützt, wird nicht mehr zum Staatsfeind erklärt. Trotzdem, die Sympathien halten sich in Grenzen.
Und das ist erstaunlich. Die Welschen werden von den Franzosen weniger geliebt als die Deutschschweizer von den Deutschen, und dennoch ist Frankreich in der Westschweiz beliebter als Deutschland in der deutschen Schweiz. Die Welschen haben sich damit abgefunden, eine Minderheit zu sein. Wir Deutschschweizer hingegen sind im eigenen Land die Mehrheit, nicht aber im deutschen Kulturkreis. Deshalb sprechen wir lieber unseren Dialekt, der im Alltag auf dem Vormarsch ist, etwa in unseren SMS oder in der Reklame.
Warum brauchen wir diese Abgrenzung? Sie ist Teil unserer nationalen Identität. Wir haben keine natürlichen Landesgrenzen wie die Briten und Italiener. Wir sind Teil der drei grossen Kulturkreise Mitteleuropas und haben keine eigentlichen Sprachgrenzen mit unsern Nachbarn. Die Dialekte in Vorarlberg und Südbaden sind – was wir gar nicht wahrnehmen wollen – wie unsere Dialekte mittelhochdeutsch geprägt. Auch die Religion bietet uns keine Grundlage zur nationalen Identität.
Umso mehr müssen wir die Abgrenzung durch den eigenen Willen begründen. Nur als Willensnation können wir uns behaupten. Das galt insbesondere für unsern jungen Bundesstaat seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhundert nach der Vereinigung Deutschlands und Italiens. Da waren wir nur noch von großen Staaten umgeben. Von Liechtenstein brauchen wir uns nicht abzugrenzen.
Aber der eigentliche Grund für unsere Abgrenzung ist die kollektive Erinnerung an unsere einzigartige Erfahrung im letzten Jahrhundert: Die Schweiz war die große Erfolgsstory des Kontinents. Und heute sind wir Opfer des eigenen Erfolgs.
Es gelang uns, uns aus den Katastrophen der ersten Jahrhundert-hälfte, aus zwei Weltkriegen herauszuhalten. Wir behaupteten unsere Selbstständigkeit. Bundesrat Obrecht sagte an der Mustermesse im März 1939: »Wer unsere Unabhängigkeit (…) angreifen sollte, dem wartet der Krieg! Wir werden nicht ins Ausland wallfahrten gehen.«
Wir hatten Glück. Wie ein Symbol der Unversehrtheit ist bei Kriegsende das Gebäude unserer Gesandtschaft in Berlin als einziges Haus im Umfeld des Reichstages stehen geblieben.
Dieser Erfolg prägte unser Verhältnis zu Deutschland und überhaupt zu Europa, während andere Staaten mit anderen Erfahrungen nach dem Krieg ihren Weg in der Zusammenarbeit in der EWG und der Nato suchten. Ich fragte einmal den belgischen Nato-Botschafter, was er von der Neutralität hält. Er antwortete nur kurz: »La neutralité? Très simple, on a essayé deux fois, ça ne marche pas.« Die Belgier hatten weniger Glück.
Der intakte Produktionsapparat lieferte die Grundlage für unseren phänomenalen Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit. Die wirtschaftliche Öffnung verbanden wir mit aussenpolitischer Abstinenz. Wir waren das reichste Land und wurden bewundert im Ausland. Und so wurden die sechziger und siebziger Jahre zum Goldenen Zeitalter unseres Selbstverständnisses: unabhängig und neutral – der Sonderfall. Wir strotzten vor Selbstbewusstsein. Den politischen Aufbau des modernen Europas überließen wir den andern.
Natürlich gab es zunehmend auch kritische Stimmen gegen diese Selbstgefälligkeit, insbesondere von intellektueller Seite. Max Frisch spielte dabei eine prominente Rolle. Vor kurzem fragte ich die Schriftstellerin Monika Maron, wie sie damals von der DDR aus die Schweiz gesehen habe. Sie erzählte von ihren Gesprächen bei einem Besuch in der Schweiz in jener Zeit und sagte: »Das war wie bei uns: Alle wollten raus.« – »Mit einem kleinen Unterschied«, wandte ich ein: »Bei uns gab’s keine Mauer.«
1989 fiel diese Mauer. Die weltpolitische Wende brachte uns in Verlegenheit. Wir waren nicht bereit, uns am Aufbruch zu beteiligen und unsere Abgrenzung zu überwinden: 1992 lehnten wir den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab, während die andern Neutralen Österreich, Schweden und Finnland 1995 der Europäischen Gemeinschaft beitraten. Wir wählten den Bilateralismus, und wiederum waren wir sehr erfolgreich. Der Bilateralismus gelang: Die mittlerweile 120 bilateralen Verträge sichern uns eine weitestgehende Integration im Europäischen Wirtschaftsraum, ohne dass wir beitreten.
Dabei verstärkt sich aber ein Widerspruch mit geradezu schizophrener Bedeutung: Einerseits sind wir heute genauso integriert in den Europäischen Wirtschaftsraum wie der Durchschnitt der 27 EU-Mitgliedstaaten. Wir sind zur Plattform einer sehr tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verflechtung sowohl im europäischen als auch im globalen Rahmen geworden. Wir weisen mit fast 22 Prozent europaweit einen der höchsten Anteile von Ausländern an der Bevölkerung aus. Eine serbische Einwanderin, Melinda Nadj Abonji, gewann den schweizerischen und den deutschen Buchpreis. Diese kulturelle Offenheit ist in den letzten Jahren selbstverständlich geworden.
Andererseits ist unser politisches Denken aber nicht bereit, die Landesgrenzen zu überwinden. Vielmehr hat sich in den vergangenen Jahren die Abgrenzung noch verstärkt. Wir fühlen uns in unserer Eigenständigkeit bedroht. Die Zustimmung für einen EU-Beitritt geht zurück. Unter den Merkmalen der Schweizer Politik, auf welche die Bevölkerung stolz ist, sind die Spitzenreiter mit 95 Prozent Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Die Zustimmung zur Neutralität hat im vergangenen Jahr weiter zugenommen. Sie figuriert in einer aktuellen Umfrage der Credit Suisse unter den »Dingen, wofür die Schweiz für Sie persönlich steht«, zusammen mit der Landschaft an der Spitze.
In diesem Widerspruch zwischen einerseits intensiver wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vernetzung mit der Außenwelt und andererseits unserem territorial begrenzten politischen Denken spiegeln sich unsere Globalisierungsängste. Diese finden in der Schweiz konkrete Adressaten im Ausland, wenn Gefühle des Heimatverlustes sich aus dem Unbehagen mit der deutschen Einwanderung nähren oder wenn die zumeist diskussionslose Übernahme von EU-Recht als Fremdbestimmung wahrgenommen wird.
In diesem Widerspruch laufen wir Gefahr, die Entwicklung in Europa gar nicht mehr richtig wahrzunehmen. Ein Beispiel: Vergangenes Jahr lud ich Rainer Eppelmann zum Essen ein. Er erzählte von seinem Leben als Theologe und Dissident in der DDR und wie er als letzter Verteidigungsminister der DDR den Vollzug der deutschen Einheit begleitet hatte und in den Bundestag einzog. Am Schluss fragte ich ihn nach seiner Meinung über die Schweiz. Er habe nur eine Frage: »Wann kommt ihr zu uns?« Ich verstand nicht recht und dachte an die DDR und an die Mauer und fragte: »Wie meinen Sie das?« Er antwortete: »Zu uns in die EU.« Da wurde mir plötzlich klar, wie sehr ich unterbewusst mit meinem Denken im vergangenen Jahrhundert verhaftet bleibe, während er schon lange im 21. Jahrhundert angekommen ist.
Wir spüren, dass sich die Welt um uns herum verändert hat, und sind in unserer Identität verunsichert. Wenn wir dagegen nur noch das Schweizerkreuz hochhalten und zur Selbstbehauptung mit dem Modewort »Swissness« eine neue Folklore in alle Lebensbereiche einziehen lassen, ist das nicht patriotisch, sondern peinlich provinziell.
Wir trauern einer Heimat nach, die es nicht mehr gibt. Wir trauern um das Goldene Zeitalter unserer Identität. Wir verstehen aber nicht genau, was uns abhanden gekommen ist. Den Verlust zu verstehen fällt uns vor allem deshalb schwer, weil die Veränderungen nicht so sehr bei uns, sondern vor allem um uns herum stattgefunden haben. Wir haben nämlich unsere komparativen Vorteile verloren.
Erstens sind wir sind nach längerer Stagnation in den neunziger Jahren nicht mehr die Wohlstandsinsel. Das Wohlstandsgefälle zu andern europäischen Staaten hat sich verringert, auch wenn wir wirtschaftlich weiterhin gut platziert sind.
Zweitens ist die Weltgewandtheit unserer Wirtschaft keine Ausnahme mehr. Englisch können die andern auch. Gleichzeitig hat die europäische Integration in den EU-Staaten nicht nur im wirtschaftlichen, sondern vor allem im politischen und administrativen Denken eine Horizonterweiterung mit sich gebracht. Im Vergleich dazu ist schweizerisches Denken kleinräumiger, um nicht zu sagen provinziell geworden.
Drittens genießen wir zwar im Ausland nach wie vor große Sympathien. Unser Land ist aber schon lange nicht mehr die Insel der intellektuellen Freiheit und der kulturellen Toleranz in Europa. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts kamen oder flohen in vielen Fällen die Eliten des europäischen und vor allem des deutschen Geisteslebens in die Schweiz. Gottfried Semper, Richard Wagner, Alfred Einstein, Hugo Ball, Erich Maria Remarque, Paul Klee, Thomas Mann, Hermann Hesse sind nur die wichtigsten Namen.
Ohne die Inspiration des von deutschen Emigranten beseelten Zürcher Schauspielhauses wären Frisch und Dürrenmatt nicht zu Figuren der Weltliteratur geworden. Ich bezweifle, dass man heute einem Monte Verità im Tessin die gleiche Toleranz entgegenbrächte wie vor hundert Jahren. Es gibt heute zwar immer noch deutsche Einwanderer, doch diese beglücken weniger unser Geistesleben als unsere Steuerbehörden: Boris Becker, Jan Ullrich und Schumi, der Rennfahrer.
Ich sehe diese Veränderungen als Hintergrund für die nationale Verunsicherung der letzten Jahre, die durch den Niedergang zweier Flaggschiffe unserer Wirtschaft akzentuiert wurde: Das Grounding der Swissair 2001 wurde zur nationalen Tragödie, ihr Verkauf an die deutsche Lufthansa schmerzte. In der Finanzkrise havarierte unsere größte Bank und konnte nur noch vom Staat gerettet werden.
Doch die wichtigste Verletzung unseres wirtschaftlichen Selbstwertgefühls erfolgte im Frühjahr 2009. Die Kritik am Bankgeheimnis erlebten wir als Angriff gegen die Schweiz. Die heutige Bundespräsidentin Calmy-Rey äußerte sich dazu vor einem Jahr in der ZEIT: »Die zunehmende Kritik aus dem Ausland hat hierzulande eine Desorientierung verursacht. Wir leben seither in einer Art Schock. Man könnte vielleicht sogar von einem nationalen Trauma sprechen.«
Die Nation im Schockzustand, ein nationales Trauma – erstaunlich. Wir sprechen nicht von Japan nach dem Super-GAU, sondern von einem Land mit der stabilsten Politik, dem konkurrenzfähigsten Technologiestandort, der geringsten Verschuldung, mit tiefster Arbeitslosigkeit und einem Spitzenplatz auf der Skala von Wohlstand und Lebensqualität. Wir fühlen uns irgendwie bedroht, aber wer bedroht uns denn?
Ich behaupte, dass, wenn wir Schweizer eine Karte der heutigen EU betrachten, unsere kollektive Erinnerung sie mit einer andern Karte, nämlich mit jener vor 60 Jahren, von 1941/42, in Verbindung bringt. Die Schweiz ist die Insel in Europa geblieben.
Jetzt wenden Sie vielleicht ein, niemand mache solche historischen Vergleiche. Kürzlich kritisierte Christoph Blocher bei der SVP-Delegierten-versammlung in Lugano den Vorschlag, im Rahmen weiterer bilateraler Verhandlungen mit der EU auch die Frage der Übernahme von künftigem EU-Recht zu diskutieren. Mit »Hütet euch am Morgarten!« rief er zum nationalen Widerstand auf. Die Schlacht am Morgarten ereignete sich 1315, also vor 700 Jahren.
So liefert uns eine lange Geschichte die Referenzen für die Abgrenzung. Sie sind zuerst im Verhältnis zu den Habsburgern, dann vor allem zu Deutschland entstanden. Daraus hat sich in unserem Sprachgebrauch ein Schlachtendiskurs von Morgarten über Winkelried bis Marignano eingenistet. Dieses seltsame Geschichtsbild lässt uns das Privileg verkennen, Teil der großen Kulturkreise Mitteleuropas, insbesondere als Deutschschweiz Teil des deutschen Kulturkreises zu sein. Wir engagieren uns zwar aktiv in der Frankofonie, die scheint uns nicht zu bedrohen. Wie wäre es denn mit einer Germanofonie?
Gottfried Keller sagte von sich, er sei ein deutscher Dichter und ein Schweizer Staatsbürger. Peter Bichsel sagt das auch von sich. Autoren der Deutschschweiz gelten als Autoren der deutschen Literatur und haben als solche Weltruhm erlangt.
Ist die Deutschschweiz damit Teil der deutschen Kultur? Das wäre eine kühne These. Unterschiede im Denken zeigen sich schon in der Reformation. Luther und Zwingli trafen sich nur ein Mal, 1529 in Marburg, und stritten über das Abendmahl. Luther trennte sich von Zwingli mit den Worten: »Ihr habt einen andern Geist.« Die Bedeutung dieses Satzes geht für mich weit über die Theologie hinaus.
Der wohl wichtigste Unterschied betrifft das Verhältnis zwischen Staatsbürger und Staat. Wenn man diesen Unterschied etwas übertreibt, könnte man behaupten, wir hätten gegenüber dem obrigkeitsstaatlichen Politikverständnis in Deutschland einen basisdemokratischen Ansatz, vor allem durch unsere direkte Demokratie. Das zeigt sich auch im Verhältnis zwischen Steuerzahlern und Steuerbehörden. Dem Schutz der Privatsphäre messen wir einen hohen Wert bei. Wir würden es nie akzeptieren, dass sich der Staat wie in Deutschland die Einkommensteuer direkt beim Arbeitgeber abholt, ganz abgesehen vom absurden Wildwuchs des deutschen Steuersystems.
Wir haben auch eine andere Streitkultur, die Deutschen würden sagen, wir hätten keine. Wir seien immer so nett miteinander und suchten den Kompromiss, bevor wir es wagten, Differenzen beim Namen zu nennen. Ich zum Beispiel habe das deutsch-schweizerische Verhältnis eins zu eins in meiner Familie abgebildet. Wenn ich meiner Frau sage: »Sei doch nicht so aggressiv!«, reagiert sie gereizt: »Ich bin nicht aggressiv, ich sage nur, was Sache ist.« – »Eben!«
Deutschland hat uns vieles voraus, unter anderem die Romantik. Auch in der Philosophie haben wir nicht viel geliefert. Der Philosoph Diderot spottete einmal über Réaumur und sein Mikroskop: »Aux grands génies les grands objets, les petits objets aux petits génies.« Uns ist Réaumur sympathischer. Weltbetrachtungen durchs Weitwinkelobjektiv liegen uns nicht, uns entspricht der Blick durchs Okular des Uhrmachers. Wir sind praktisch und pragmatisch. Unser Staat ist nicht ein Ideal, sondern er dient den Bürgern. Wenn wir ein Problem haben, fragen wir: Was ist die Lösung? Während die Deutschen meistens zuerst fragen: Was ist die Vorschrift? Entscheidungskompetenzen sind bei uns viel tiefer angesiedelt, in den Gemeinden oder im Betrieb. Die Hierarchien sind flacher. Das ist ein Vorteil.
Eigentlich hätten wir den Deutschen viel voraus, und trotzdem scheint mir, wir hätten Komplexe gegenüber Deutschland. Zumindest ist unser Verhältnis verkrampft. Dabei besteht die Gefahr, dass wir aus unserer Perspektive die Probleme falsch sehen und mit mangelndem Selbstwertgefühl unser Potenzial nicht richtig wahrnehmen.
Wir haben gegenüber Deutschland so etwas wie eine »Göttibueb-Illusion«. Wir wissen, unser großer Nachbar mag uns, und wir bilden uns deshalb ein, dieser liebe Onkel werde uns immer als Pate beistehen. Wir glauben, dass uns seine Sympathien davor schützen, dass er sich gegen uns wenden könnte. Genau das ist aber geschehen, als uns vor zwei Jahren im Steuerstreit ein deutscher Finanzminister mit der Kavallerie drohte.
Wir reagierten mit nationaler Empörung, deren Folgen bis heute andauern. Eigentlich war es Liebesentzug, der uns so tief verletzte, weil wir in unserem nationalen Selbstverständnis immer darauf zählen, dass uns die andern lieben und bewundern. De Gaulle hat einmal gesagt: »Der Staat, der seinem Namen gerecht wird, hat keine Freunde, nur Interessen.« Damit behaupte ich nicht, wir könnten uns nicht deutsche Sympathien zunutze machen. Ich glaube sogar, wir nutzen sie zu wenig vor allem dort, wo die beiden Staaten ähnliche Interessen haben. Nur dürfen wir uns nicht einbilden, deutsche Sympathien hülfen uns gegen handfeste deutsche Interessen.
Gleichzeitig bilden wir uns ein, ein Kleinstaat zu sein. Wir leiden an einem umgekehrten Napoleonkomplex. Napoleon war klein und wollte gross sein. Wir haben Grösse und machen uns klein. In Europa gibt es bedeutend mehr Länder, die eine kleinere Bevölkerung als die Schweiz aufweisen, als die bevölkerungsmässig größeren Staaten. Drei Viertel aller Staaten in Europa haben eine kleinere Volkswirtschaft als die Schweiz. Vergleichbare Staaten wie Belgien, Schweden oder Österreich kämen nie auf die Idee, sich als Kleinstaaten zu bezeichnen. Wir hingegen reden uns ein, klein zu sein, und verbauen uns damit die Möglichkeit, unsere Interessen entsprechend unserem Potenzial wahrzunehmen.
Ich plädiere damit gegen Abgrenzungspatriotismus und Minderwertigkeitskomplexe und bin überzeugt, dass wir allen Grund für mehr Selbstvertrauen hätten, auch in unserem Verhältnis zu Deutschland. Ein europaoffenes Selbstvertrauen kann sich auf unsere substanziellen Beiträge zur Lösung europapolitischer Aufgaben stützen.
Zwei Beispiele: Mit dem Bau der NEAT haben wir das Kernstück der europäischen Nord-Süd-Transportachse von Genua bis Rotterdam oder Hamburg gebaut. Sowohl das Jahrhundertbauwerk als auch seine direktdemokratische Abstützung stießen in Deutschland auf große Bewunderung, die wir medial viel zu wenig ausgeschlachtet haben. Das war auch meine Schuld. Ein zweiter Beitrag lag in den Stützungskäufen der Nationalbank mit dem Ziel, die Frankenaufwertung einzudämmen und einer Deflation vorzubeugen. Diese Marktinterventionen mit einem dreistelligen Milliardenbetrag haben substanziell dazu beigetragen, den Euro in einer kritischen Phase zu stabilisieren.
Als Schlussfolgerung verdienen drei Punkte ein besonderes Augenmerk.
Zuerst eine Warnung: Ich habe erwähnt, dass sich unser Deutschlandbild versachlicht hat. Trotzdem sehe ich die Gefahr, dass die latente Deutschlandfeindlichkeit von Neuem aufbrechen könnte. Heute leben bei uns fast 270.000 Deutsche, und die Zuwanderung hält an. Die Gefahr liegt darin, dass Globalisierungsängste in antideutsche Aversionen umschlagen und parteipolitisch ausgeschlachtet werden. Dazu könnten sich die verständlichen Frustrationen über deutsche Flugbe-schränkungen und der berechtigte Ärger über eine strafrechtliche Verwendung von gestohlenen Bankdaten beimischen. In der Folge könnten – etwa durch ein Referendum gegen bilaterale Abkommen – die Beziehungen zu Berlin stark belastet werden.
Die emotionale Betroffenheit von einer als bedrohlich empfundenen Einwanderung lässt sich nicht leicht mit dem Argument ihres gesamtwirtschaftlichen Nutzens entkräften. Die Betroffenheit ist ernst zu nehmen; am Interessenkonflikt zu arbeiten ist eine politische Aufgabe. Dabei dürfen wir die grosse Bedeutung der deutschen Einwanderung für den Aufbau der jungen Republik nicht vergessen: 1910 lebten in der Schweiz 220.000 Deutsche – bei einer Bevölkerung, die zahlenmäßig nur halb so groß war.
Zweitens übersehen wir in unseren Beziehungen zu Deutschland leicht, dass es sich dabei vor allem um unsere Beziehungen mit Baden-Württemberg handelt. Das Bundesland hat eine anderthalbmal grössere Bevölkerung als die Schweiz. Dieser Nachbar ist für uns als Handelspartner wichtiger als die USA oder ganz Frankreich. Mit 5,5 Prozent Wirtschaftswachstum im letzten Jahr steht das Bundesland an der Spitze in Deutschland und ist damit die Wachstumslokomotive, die auch unsere Wirtschaft beflügelt. Zwei zentrale bilaterale Probleme mit Deutschland stellen sich hier: das Lärmproblem des Flughafens Zürich und der sich verzögernde Ausbau der NEAT-Zufahrt zwischen Karlsruhe und Basel. Für ein besseres gegenseitiges Verständnis sollten wir auf unsere gemeinsamen alemannischen Wurzeln zurückgreifen. Im Mittelalter lebten wir alle im Herzogtum Schwaben, das sich von Chur bis Straßburg und von Basel bis Augsburg erstreckte. Eigentlich leben wir auch heute in einem alemannischen Wirtschaftsraum, den wir in seiner kulturellen Dimension besser verstehen müssen. Dem Werbespruch des Bundeslandes »Wir können alles ausser Hochdeutsch« können wir uns getrost anschließen.
Drittens liegen unsere Chancen in der kulturellen Nähe zur Großmacht Deutschland. Um sie besser nutzen zu können, müssen wir lernen, zwischen zwei Bedeutungen des Adjektivs »deutsch« zu differenzieren. Einerseits ist die Deutschschweiz Teil des deutschen Kulturkreises. Andererseits unterscheidet sich unsere politische Kultur von der politischen Kultur des deutschen Staates. Wenn wir diesen Unterschied besser verstehen, könnten wir leichter darauf verzichten, uns pauschal von Deutschland abgrenzen zu müssen. Gleichzeitig könnten wir mit größerem Vertrauen in die eigene politische Kultur unserem Nachbarn auf Augenhöhe entgegentreten.
Dann wäre es vielleicht möglich, dass wir den Deutschen für eine zentrale Voraussetzung unseres Wohlstands der letzten 50 Jahre Dankbarkeit entgegenbringen. Der Frieden in Europa und dank ihm der Friedensraum rund um unser Land ist die Folge der europäischen Integration. Die Rechnung dafür bezahlte vor allem Bonn und dann Berlin.
Tim Guldimann
Der 60-jährige Politologe hat als Botschafter der Schweiz in Deutschland den wohl wichtigsten Außenposten des Landes inne. Guldimann war in Tschetschenien, Kroatien, Iran und in Kosovo tätig.
Der Text beruht auf einer Rede von Tim Guldimann am Theater Basel. Der Autor äußert sich als Privatmann. Seine Ansichten sind nicht als offizielle Haltung der Schweiz oder des Außenministeriums zu verstehen.
© Erstveröffentlichung DIE ZEIT, 28.4.2011, Nr. 18