Maigret-Schauplatz auf der Île Saint Louis, Foto © Ingrid Schindler
Taverne Henry IV, Foto © Ingrid Schindler
Place Dauphine, Foto © Ingrid Schindler
Bouillon Chartier, Foto © Ingrid Schindler
Im «Ma Bourgogne» Place des Vosges, Foto © Ingrid Schindler
«Unter den Brücken von Paris»
Von Ingrid Schindler
Mit Kommissar Maigret durch das Paris der kleinen Leute
Die Fahrt mit dem TGV von Basel nach Paris dauert gerade lang genug, um entspannt einen Roman von Georges Simenon zu lesen. Zum Beispiel «Maigret und der Weinhändler», auf dessen Spuren man das Paris des Kommissars mit der Pfeife entdecken kann.
«Maigret kannte die Strasse, die nachts an das alte Viertel der Diebe und Bettler erinnerte. In stinkenden Bistros hocken menschliche Wracks, um ihren Rotwein oder eine heisse Brühe zu schlürfen, … noch schäbiger und zerlumpter als unter den Brücken». Der Kommissar ahnt, wo er den Mörder des reichen Weinhändlers Oscar Chabut im gleichnamigen Fall finden wird. Georges Simenon (1903- 89), den erfolgreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen Werke in 55 Sprachen auf der ganzen Welt gelesen werden, interessieren und faszinieren die Abgründe der menschlichen Seele. In den meisten der Maigret-Romane und -Geschichten sowie den sogenannten Non-Maigrets beschäftigt er sich mit der Frage, was den Menschen straucheln lässt.
Die französische Hauptstadt ist für den ‚Flickschuster kaputter Schicksale’, als den sich Simenon selbst bezeichnet, ein ideales Forschungsfeld. «In Paris gibt es Tausende solcher Existenzen, die in keine Kategorie passen», stellt er in Maigret und der Weinhändler fest. Kein Wunder, spielen 63 der insgesamt 75 Maigret-Romane an der Seine. Sie sind berühmt für ihre atmosphärische Dichte und eine knappe, schnörkellose, präzise Sprache. «Wenn dann die Atmosphäre der kleinen Pariser Brasserien, der Bistros oder der kalten ungelüfteten Zimmer … aus seinen Büchern herauskriecht», schreibt Elfriede Jelinek, «ist plötzlich eine unglaubliche Stimmung da».
Diese Stimmung sei es, die Maigret-Fans nach Paris locke, ist Anna von Planta, Simenon-Spezialistin und Lektorin beim Diogenes Verlag, überzeugt. Der Autor habe das Paris-Bild vieler Leser von Japan bis Russland und Amerika geprägt, obwohl er gar kein Pariser, geschweige denn Franzose ist. Georges Simenon stammt aus dem belgischen Lüttich. Als blutjunger Journalist reiste er 1922 mit dem Nachtzug nach Paris, zog drei Monate später her, nahm sich eine billige Absteige und hielt sich mit dem Schreiben von Groschenromanen über Wasser. Als hochtalentierter Vielschreiber fand er rasch Zugang zu elitären Künstlerkreisen, hatte Erfolg und konnte sich 1927 seine erste ‚richtige‘ Wohnung leisten: 21, Place des Vosges im Marais. Die gutbürgerliche Adresse wurde berühmt; sie floss in viele seiner Romane und Geschichten, wie den Weinhändler oder Madame Maigrets Freundin ein, und an der Hausbar der Simenons traf sich Tout Paris.
An der Place des Vosges Nr. 19 befindet sich das Ma Bourgogne, eine der typischen Brasserien, die Simenons kulinarischen Vorlieben entsprechen und mit zuverlässiger Regelmässigkeit desgleichen von Jules Maigret aufgesucht werden. Der Autor gibt unumwunden zu, seine Hauptfigur besässe denselben kulinarischen Geschmack. Ob Kalbsfricandeau, Andouillettes, Burgunderbraten oder Sauerkraut, beiden steht der Sinn nach Hausmannskost, nach klassischer, französischer Bistroküche. Die kann man heute noch auf Maigrets Spuren geniessen. Zahlreiche der in den Büchern erwähnten Bistros existieren noch, wie das Les Côtelettes, 4, Impasse Guémenée, Chez Benoît, 20, Rue Saint-Martin, oder die Taverne Henri Quatre, 13, Place du Pont-Neuf. Dort hängt, wie auch in anderen Maigret-Lokalen, ein Schild, das wie im Fall real existierender Berühmtheiten darauf hinweist, dass hier der berühmte Kommissar mit der Pfeife sein Kalbsragout verspeiste.
Im Gegensatz zu Simenon, der ebenso gern in vornehmen Tempeln der Bourgoisie, wie im Lipps, Bofinger, La Coupole und vor allem im Fouquet‘s auf den Champs Elysées, verkehrte, fühlt sich Jules Maigret, wie es im Weinhändler heisst, ‚in einer gewissen grossbürgerlichen Umgebung unwohl, gehemmt und fehl am Platz’, während der Autor keine Berührungsängste gegenüber den besseren Kreisen hat.
Dem Kommissar sind Glanz und Gloria zuwider. Im Zweifelsfall zieht er Bier mit Butterbrot aus der Brasserie Dauphine vor. Wenn ein Fall klemmt, schickt er ohnehin ‚seine Kinder’, die Inspektoren, zur Place Dauphine, um Nachschub zu holen. Die Brasserie gibt es nicht mehr, der gleichnamige Platz auf der Ile de la Cité wirkt aber heute noch so provinziell-idyllisch wie in Pietr der Lette, Maigrets erstem Fall von 1929. Baguette mit Paté, Schinken und einem Glas Rotwein oder Bier bestellt man heute in der Bar du Caveau. Ausserdem ist das Henri Quatre gleich um die Ecke, wo sich nach wie vor Anwälte, Richter und Inspektoren treffen, im Roman wie in der Realität. Schliesslich befindet sich der Quai des Orfèvres mit dem Polizeihauptquartier und Justizministerium quasi nebenan.
«Der Quai des Orfèvres, an dem die Handlung in der Regel beginnt und endet, ist ein guter Ausgangspunkt für Stadtwanderungen auf Maigrets Spuren», empfiehlt Anna von Planta. Ihre Litera-Tour geht bei den Bouquinisten an der Seine entlang, an Notre Dame vorbei, durchquert die Rue St-Louis-en-l’Ile auf der benachbarten Seine-Insel und führt schliesslich am rechten Seineufer ins Marais. rund um die Place des Vosges und die Rue Turenne häufen sich die Krimischauplätze.
Von hier ist es nicht weit zu Maigrets fiktiver Wohnung am Boulevard Richard Lenoir Nr. 132, die weiteren einen Fixpunkt im Paris Maigrets darstellt. Die Wohnung befindet sich am Kanal Saint Martin, der den Autor so magisch anzog, dass er sich auf einem Hausboot darauf niederliess. Selbstverständlich wurde der Kanal auch literarisch verewigt, u.a. in Maigret und die kopflose Leiche. Darin kommt das an der Schleuse gelegene Bistro Chez Popaul, 49, Rue Lucien Sampaix, vor, das sich heute bezeichnenderweise Atmosphère nennt. Der Name ist programmatisch für die Kriminalromane Simenons, ein passender Ort, um einen Spaziergang auf Maigrets Spuren abzuschliessen – auch wenn das Bistro keine üble Kaschemme mehr ist, ‚in der man harte Sachen trinkt, lärmende Unterhaltungen führt und die Luft immer blau vom Rauch ist’ und sich das Quartier längst gemausert hat.
Der Welt der Schiffer, Vagabunden, Artisten und Clochards, der Buchhalter, Conciergen und Kneipenwirte bleibt Simenon zeitlebens verbunden. «Das rastlose Vagabundieren war ihm zutiefst vertraut, er wechselte selbst 33mal den Wohnsitz und lebte immer wieder auf Booten», erzählt von Planta. «In Paris hielt er sich nur bis 1938 auf und das mit Unterbrechungen». Zeit genug, um den Kosmos der kleinen Leute und Randexistenzen, wie er ihn wahrnahm, als zeitlos klassisches Paris abzubilden. Und auch späte Werke wie der Weinhändler, der 30 Jahre nach Simenons Pariser Zeit entstand, vermitteln dieses atmosphärisch dichte Bild der Stadt. Nur eine Stelle im Weinhändler verweist auf die Zeit, in der Simenon das Buch geschrieben hat: Dass die Markthallen, die alle anziehen, die aus der Bahn geworfen sind, Ende der 60er Jahre aus der Stadt verbannt werden sollen, macht Simenon Sorgen. Er fragt sich mit Maigret: «Ich weiss nicht, wohin sie sich wenden, wenn die Markthallen in einigen Monaten nach Rungis verlegt werden».
Bei Diogenes (www.diogenes.ch/maigret) sind 2009 alle 75 Maigret-Kriminalromane anlässlich des 80. Geburtstags des Kommissars und 20. Todestags Georges Simenon in einer neuen Gesamtausgabe erschienen. Maigret und der Weinhändler ist der 71. Band der Maigret-Romane.
Infos zu Maigret in Paris: Atout France/ Französisches Verkehrsbüro, www.franceguide.ch; Unterkunft: www.parisinfo.com.
Georges Simenon
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 in Liège/Belgien, begann nach abgebrochener Buchhändlerlehre als Lokalreporter. Nach einer Zeit in Paris als Privatsekretär eines Marquis wohnte er auf seinem Boot, mit dem er bis nach Lappland fuhr, Reiseberichte und erste Maigret-Romane verfassend. Schaffenswut und viele Ortswechsel bestimmten 30 Jahre lang sein Leben, bis er sich am Genfersee niederließ, wo er nach 75 Maigret-Romanen und über 120 Non-Maigrets beschloss, statt Romane ausgreifende autobiographische Arbeiten (wie die monumentalen ›Intimen Memoiren‹) zu diktieren. Er starb am 4. September 1989 in Lausanne.