FRONTPAGE

«Vergessen im Erinnern»

Von Daniele Muscionico

Ein junger Fotograf und eine ewige Illusion: unsere Erinnerung. Marc Beckmann fotografiert das öffentliche Inszenieren von Gedenktagen, die als kollektive Merkzeichen einer Gesellschaft Identität stiften sollen. Doch tun sie das wirklich? Und wie?

Erinnern Sie sich? Oder wollen Sie die peinliche Situation besser vergessen? Und vergessen geht leicht, wenn man sich nicht erinnern will, nicht wahr? Am letzten Familientreffen oder Klassentreffen, war es nicht so?

 

Sie erzählten die Episode von damals, mit Elan und Überzeugtheit erzählten Sie – und alle schüttelten den Kopf. Bezichtigten Sie der «falschen» Erinnerung Ihrer gemeinsamen Vergangenheit! Zeigten dann das Foto dazu, und das Dokument brachte Ihre «untrügliche» Erinnerung vollends ins Zwielicht. Und Sie mit dazu, begabt mit zu viel Fantasie und einem Übermass an Einbildungskraft.

 

Und recht haben Sie: Die heutige Gehirnforschung behauptet, belegen zu können, dass Gedächtnisinhalte nicht wie Computerspeicher abgerufen, sondern buchstäblich re-produziert werden. Gedächtnis und Erinnerung sind schöpferische Prozesse. Etwas erinnern heisst es aktiv imaginieren, mithilfe von Einbildungskraft und Fantasie. Dabei verhält sich das Erinnern zur Individualität wie das Löschblatt zur Tinte, es ist ganz und gar von ihr vollgesogen. Es gibt keine authentische Realität, denn es gibt keine authentische Vergangenheit. Die Erkenntnis zu Ende gedacht, müsste uns eigentlich ähnlich erschüttern wie unsere Vorväter die Entdeckungen Kopernikus’. Doch sie tut es mitnichten. Wir halten fest am dauerhaften Bild von Geschichte, an historischer Wahrheit oder zumindest an der «normativen Kraft des Faktischen». Wir glauben sehend blind ans Fixativ Kultur. Davon erzählen die Bilder von Marc Beckmann.

 

Seit 2004 arbeitet der deutsche Fotograf über das Thema des kollektiven Gedächtnisses in Bezug auf seine identitätsstiftende Wirkung. Dabei untersucht er Ähnliches wie der Ägyptologe Jan Assmann, der die Debatte um Geschichte und Gedächtnis befeuert und eine Theorie des «kulturellen Gedächtnisses» entwickelt hat. Welche Rolle spielt Erinnerung bei der Herausbildung kultureller Identitäten? Welche Formen kultureller Erinnerungen gibt es, wie werden sie organisiert, welchen Wandlungen sind sie unterworfen? Nicht dass Assmann, nicht dass Beckmann die Antworten kennen. Aber der eine wie der andere wagt es, Debatten zu lancieren, die in den Spalten des Feuilletons ausgespart werden. Denn wo sind sie, die führenden Kulturwissenschaftler, die sich zu Wort melden, die in öffentlichkeitswirksamer Rede über das Vergessen des Erinnerns im Gedenken sprechen, dem Unterschied zwischen einem Tod in Auschwitz und in Stein nachsinnen?

 

Die Aktualität dieser Bilder hat gute Gründe. Es ist unser Gefühl, in einer Phase der «Nachkultur» (George Steiner) zu leben. Und es ist, schwerer wiegend, die Tatsache, dass die Generation von Zeitzeugen, der Täter und der Opfer, der schwersten Verbrechen und Katastrophen in den Annalen der Menschheitsgeschichte auszusterben beginnt.
Gegen diese weissen Bewusstseinsflecken hält Marc Beckmann dagegen, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, mit seiner Fotografie.

 

Jahrestage heisst sein Langzeitprojekt, motiviert von einem Gefühl der Verantwortung, aber auch von dem Interesse, verstehen zu wollen, wie sich die Idee von Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerung ereignet. Erinnerung, die sich an festen Kodierungen, Inszenierungen und Überlieferungen orientiert. Erinnerung, an die wir aus Gewohnheit zunehmend glauben und die dadurch realitätsbestimmend, realitätsstiftend wird. Denn Kulturen bedürfen kollektiver Merkzeichen. Seien es die umstrittenen «Kranzabwurfstellen», Holocaust-Mahnmale, seien es die Gedenktage in Bergen-Belsen oder Auschwitz-Birkenau, auf den zahllosen Schlachtfeldern der Ideen, Religionen, Gedanken dieser Welt. Marc Beckmann besucht sie, die öffentlichen Gedenkfeiern, die inszenierten Formen geteilter Erinnerung, und er macht seine Bilder. Jahr um Jahr, ein Augenzeuge unter Zeitzeugen, Veteranen in Moskau, Berlin, Prag, Bosnien, Vietnam oder New York.

 

Bilder und immer neue Bilder, denn mehr Bilder liefern ein umfassenderes Bild. Dass sein Fokus längst kein journalistisch-dokumentarischer, sondern ein subjektiv-persönlicher ist, sei ihm unbenommen. Beckmann hat über den Zustand des Archivierens und Memorierens längst den Zustand des Interpretierens erreicht. Beckmann muss, ähnlich wie die Zeitzeugen, nicht mehr nachahmen, um zu bewahren, er kann auslegen, um zu erinnern. Und in diesem Erinnern, wie die Beteiligten, vergessen, was nicht erinnert, was nicht verinnerlicht werden kann. Und soll. Der übergrosse Schmerz, natürlich. Und die Entmenschlichung. Wenn Überlebende von Konzentrations- und Arbeitslagern erzählen, hat dies für sie oft auch die Funktion, sich gegen die De-Individualisierung zu wehren, die sie erlitten haben. In den traumatischen Jahren und auch danach. Ihr Erzählen ist eine zweite Befreiung. Ist Geschichte eine Weiterführung der Geschichtspolitik mit anderen Mitteln? Ist Erinnerung eine Fortsetzung der Erinnerungskultur in neuem Gewand?

 

Ist Erinnerung das, was eine Politik der Gedenkstätten daraus macht? Es sind diese Fragen, die Beckmanns Bilder aufwerfen. Am virulentesten dort, wo Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Dann funktioniert die Erinnerung nach Schopenhauer als ein Tuch, welches die Falten, in die es oft gelegt wurde, in der Vorstellung der Erinnerung gleichsam selbst wirft. Oder die Paraden zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Moskau. Wird hier Vergangenheit erinnert oder Gegenwart behauptet? Der zehnte Jahrestag von 9/11 oder der sechzehnte Jahrestag des Massakers von Srebrenica hingegen, sie tragen den lebendigen, den warmen, den sprachlosen Schrecken noch gegenwärtig in sich. Für die Gräueltaten in Bosnien und Kroatien wurde lediglich ein einziger ranghoher Vertreter des ehemaligen Jugoslawiens, der frühere serbische General Momcilo Perišic vom UN-Tribunal verurteilt. 27 Jahre Haft. Er hatte auf nicht schuldig plädiert. Das war im September 2011. Perišic machte glauben, dass er sich an nichts mehr erinnern könne.

 

 

www.marcbeckmann.com
Courtesy DU-Kulturmagazin. Erstveröffentlichung November 2011.

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