«Von der Poetik des Nationalsozialismus»
Eine Wirtshausrede mit fataler Wirkmacht: Selbst den Nazi-Eliten galt <Mein Kampf> als platte, phrasenhafte Schmähschrift, mehr Wirtshausrede als subtile Verführungsprosa erklärt sich nicht aus dem Text. Dennoch war für ihr Verständnis vielleicht weniger der Inhalt als die Form entscheidend.
Albrecht Koschorke analysiert in seinem brillanten Essay die Poetik des Nationalsozialismus und warnt vor verführerischen radikalen Reden in der Gegenwart. Seit Anfang 2016 ist Adolf Hitlers «Mein Kampf»im Rahmen einer wissenschaftlich kommentierten Edition zum ersten Mal seit Kriegsende wieder in Deutschland zu kaufen.
Die Veröffentlichung bietet Anlass, aufs Neue den furchtbaren Erfolg der <Bibel der Nazis> zu ergründen. Es ist nämlich keinesfalls klar, warum das politisch wirre, peinlich geifernde und eigentlich nicht ernstzunehmende Machwerk eine solche Wirkung erzielen konnte. Angesichts offensichtlicher inhaltlicher Absurditäten, die auch schon zu Zeiten der Originalveröffentlichung bemerkt wurden, nähert sich Albrecht Koschorke dem Buch mit literaturwissenschaftlichem Instrumentarium.
Welche Erzählstrategien hat Hitler benutzt, welche Lesepraxis hat er angeregt? Und was hat es damit auf sich, dass das Buch trotz enormer Verbreitung kaum gelesen wurde? Der literaturwissenschaftliche Blick enthüllt, dass es Hitler entgegen allem Anschein nicht in erster Linie um die fanatische Verbreitung einer Wahrheit ging, sondern darum, Anhänger wie Gegner zu einer Reaktion zu zwingen.
Albrecht Koschorke
Adolf Hitlers »Mein Kampf«
Zur Poetik des Nationalsozialismus
Matthes & Seitz Berlin, 2016
Reihe: Fröhliche Wissenschaft
93 Seiten, € 7.99
ISBN: 978-3-95757-291-2
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Schauspielhaus Zürich: «Nathan der Weise» im Ascheregen
Von Ingrid Isermann
Lessings dramatisches Gedicht «Nathan der Weise», uraufgeführt am 14. April 1783 in Berlin, scheint aktueller denn je. Der islamistische Terror hat den brüchigen Religionsfrieden zwischen Juden, Christen und Moslems herausgefordert.
Das erste Bühnenbild prägt sich ein, ringsum Stille, der rieselnde Ascheregen spricht mit leiser Poesie. Aus drei riesigen Lautsprechern ertönen scheppernd Muezzingesänge und unterbrechen die Stille, schwarz gekleidete Frauen im Burkagewand knien zum Gebet nieder.
Die 35jährige Berliner Regisseurin Daniela Löffler arbeitet mit starken Zeichen, noch bevor ein Wort gefallen ist. Die Bühnenbildnerin Claudia Kalinski gruppiert in ihrem minimalistischem Bühnenbild um schwarze Bretter herum nur weisse Plastikstühle für das neunköpfige Ensemble.
Nathans christlicher Diener Sascha (Gottfried Breitfuss) betritt das Szenenbild in blauer Alltagsmontur und pafft genüsslich eine Kräuterzigarette. Der Ascheregen fällt lautlos unentwegt weiter auf Haupt und Boden. Denn während Nathans (Robert Hunger-Bühler) geschäftlicher Abwesenheit brannte sein Haus ab, seine Tochter Recha (Elisa Plüss) wurde vom christlichen Tempelherr (Johannes Sima) gerettet, der seinerseits von der Gnade des Sultans (Klaus Brömmelmeier) abhängt. Sascha jedenfalls kann sein Geheimnis nicht für sich behalten, dass Recha keine Jüdin und nicht die Tochter von Nathan ist, wie sie selbst annimmt, sondern von verstorbenen christlichen Eltern abstammt.
Auf die Frage des Sultans, der mit dem zurückgekehrten Nathan gute Geschäftsverbindungen pflegt, nach dem wahren Glauben, antwortet dieser mit der Ringparabel. Die Parabel von den drei Ringen als Symbol für Juden, Christen und Muslime, von deren Religionen letztlich keine besser sei als die andere. Es komme allein auf den einzelnen Menschen an, ob gut oder schlecht.
Die Hauptrolle spielt hier eindrücklich Lessings Textdialog, der dem Stück seinen Glanz verleiht. Nathan bricht zusammen in Erinnerung an seine von Christen umgebrachte Familie.
Der leutselige Sultan Saladin übt die Fechtkunst mit seiner temperamentvollen Schwester Sittah (Julia Kreusch) in muslimischer Kopftuchkleidung, die vehement den christlichen «Aberglauben» ablehnt, während sich der Tempelherr in soldatischer Uniform abschätzig über Juden äussert und seine Fitness mit Liegestützen demonstriert. Währenddessen rieselt weiter unablässig der Ascheregen, wobei man sich fragt, ob der Brand nicht schon langsam gelöscht wäre. Der Patriarch von Jerusalem (Ludwig Boettger) sorgt ambivalent, aber doch aufklärend für Klarheit der verzwickten Familienverhältnisse, dass nämlich Recha und der Kreuzritter-Tempelherr Geschwister sind, die sich ineinander verliebt haben, aber nicht zusammen kommen können, und der Sultan deren Onkel ist. Der bedächtige Nathan, der Recha als Tochter annahm im Wissen, dass ihm dafür die Todesstrafe drohte, glaubt an die Vernunft und das Verzeihen können, welches ihm letztlich das Prädikat «der Weise» einbrachte.
Die Aufführung dauert drei Stunden (mit Pause) und dürfte manchen Zuschauer der Länge und Langatmigkeit wegen erschöpft haben; die existentiellen Fragen nach der Ursache von Aggressionen und Feindschaft bleiben des Nachdenkens wert.
Premiere: 5. März 2016 Schauspielhaus am Pfauen
Infos: www.schauspielhaus.ch
Schiffbau-Box: «Nachtstück» als musikalische Pantomime
Von Ingrid Isermann
Eine Box in der Box: das ist die Idee zum «Nachtstück» der Schauspielhaus-Intendantin und Regisseurin Barbara Frey, ausgehend von Edward Hoppers Bild von einer Frau im Nachthemd allein auf einem Bett sitzend («Hotel Room, 1931), die sinnierend ein Buch in der Hand hält. Formidabel: Percussionist Fritz Hauser.
Einsamkeit hat viele Gesichter. Ein Stück ohne Worte, das dennoch eine beredte Sprache spricht. Von Annäherungen, von Distanzierungen, von Schüchternheit und Begehren. Dazu treten wechselseitig Einzelpersonen auf, oder auch Gruppen, die sich tanzend finden und wieder auseinander gehen. Untermalt wird das Ganze von Percussion-Klangmeister und Komponist Fritz Hauser, der mit Pauken, Cymbals, Gongs und Glockenspielen Atmosphären schafft, in die mitunter hämmernde harsche Maschinenmusik einbricht.
Die Lichtregie beleuchtet im oberen Teil der Box das Schlafzimmer, in dem eine Frau leblos auf dem Bett liegt, um sie herum stehen einige Personen, die nacheinander betroffen den Raum verlassen. Den Interpretationen sind keine Grenzen gesetzt, beim Reigen der vier männlichen (Hans Kremer, Michael Maertens, Markus Scheumann, Milan Zerzawy) und vier weiblichen (Chantal Le Moign, Dagna Litzenberger Vinet, Lisa-Kathrina Meyer, Friederike Wagner) Schauspieler, die sich begegnen, beschnüffeln und vor dem schwarzen Kubus verweilen, auf einer Bank unter der Laterne. Variationen der Mimik, Kommunikationen und Assoziationen kommen und gehen in Raum und Zeit. Eine Meditation im Theater ohne das übliche Theater.
Premiere: 4. März 2016, 75 Minuten (ohne Pause)
Infos: www.schauspielhaus.ch