FRONTPAGE

«Vorhang auf: Gomringer & Gomringer»

Von Ingrid Isermann

 

Fast zwei Generationen trennen Vater Eugen (*1925) und Tochter Nora Gomringer (*1980), doch beide verbindet ihre Faszination für Sprache und Wortkunst der Lyrik. Das Literaturmuseum Strauhof in Zürich zeigt ihre Gedichte in Bild, Ton, Text und Video.

Eugen Gomringers «Konkrete Poesie» ist nachhaltig. Sie hat jedenfalls schon Jahrzehnte überdauert. Bald jeder in der Schweiz kennt sein «schweigen» oder «schwiizer sii». Und der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm. So erscheint es folgerichtig, dass die beiden Gomringers – Vater und Tochter – eine Ausstellung im Strauhof Zürich bestreiten. Nora Gomringer hat sich als experimentierfreudige Autorin und Performerin etabliert. Das Duo ist eigentlich ein Trio, denn zu Eugen und Nora Gomringer gehört auch Nortrud Gomringer, die Literaturwissenschaftlerin als Eminenz im Hintergrund.

 

«Ich bin ein Algorithmus»
Ein Wiedersehen mit Eugen Gomringer im Strauhof ist eine besondere Freude, man wähnt sich einem lächelnden Altmeister gegenüber, der mit seinen 91 Jahren Elan und jugendliche Beschwingtheit ausstrahlt. Am Tag zuvor ist er mit dem Auto vom Wohnort im fränkischen Rehau mit seiner Frau Nortrud nach Zürich gefahren und habe unterwegs einen Nagel aus einem Reifen entfernen müssen. Die stundenlange Autofahrt haben beide dennoch gut überstanden.
Am Abend in der Kirche St. Peter hält Gomringer dann eine launige Rede mit seinen Gedichten zur Vernissage der Ausstellung Gomringer & Gomringer im Literaturmuseum Strauhof. Mit seiner Heimatstadt Zürich, wo er aufgewachsen ist, – mit zwei Jahren brachte ihn sein Schweizer Vater aus dem bolivianischen Urwald zum Grossvater nach Zürich -, ist Eugen Gomringer trotz seiner langen Abwesenheit immer noch eng verbunden. Und er erzählt lebhaft von seinen neuen, verschiedenen Buchprojekten wie «Poema», Interpretationen über die Poesie der Konstellationen, was Schriftsteller und Künstler über Gomringer sagen. Eine Fortsetzung seiner biografischen Berichte, die die Poesie kommentiert, steht weiter auf dem Programm.; «I love Bayern» über die bayrische Malerin Rita Karrer in Regensburg; dann eine Zusammenfassung über «100 Sonette 2008-2016» sowie eine Publikation «Stille Reformen» über den Schweizerischen Werkbund. Dazu kommen jährlich sechs Kunstausstellungen im einzigen Museum für konkrete Kunst im fränkischen Rehau, das Gomringer gegründet hat. «Ich bin ein Algorithmus», sagt Gomriger, «über mich laufen viele Fäden, viele beanspruchen mich und können auch etwas von mir beziehen».

 

 

Die Anfänge der Konkreten Poesie
In Anlehnung an die Werke der Zürcher Konkreten hat Gomringer mit spielerischer Anordnung weniger Worte die Konkrete Poesie sozusagen erfunden. Neben der abstrakten Kunst sind zeitgenössische Grafik und Typografie zusätzliche Einflüsse, die sein literarisches Schaffen befruchten.

Nach der Begegnung mit der Konkreten Kunst entwickelte Eugen Gomringer das Konzept der Konstellation und publiziert 1953 die dreisprachige Gedichtsammlung «konstellationen constellations constelaciones». Im Zentrum dieser neuen Dichtung steht die Anordnung von Worten, die durch Reduktion und Präzision sowie durch spielerische Beziehungen einen Sinnzusammenhang bilden.

Ausgangspunkt für die Präsentation der Konkreten Poesie sind die Kataloge der Galerie «Des Eaux Vives» in Zürich, die in den 1940er Jahren Werke der Zürcher Konkreten gezeigt hat, sowie die Publikation «spirale», die Gomringer mit Marcel Weiss und Dieter Roth in den 1950er Jahren herausgegeben hat. Im Zentrum steht jedoch die visuelle Qualität der Konkreten Poesie. Eine Auswahl von Gomringers grafisch komponierten Gedichten bildet in Form freischwebender Tafelbilder eine raumfüllende Gesamtinstallation. Ein Audioguide kommentiert die Konstellationen an den Schnittstellen zwischen Literatur, Grafik und Kunst.

Neben seiner Tätigkeit als Dichter arbeitete Eugen Gomringer u.a. als Sekretär, Kulturbeauftragter oder Werber: Als rechte Hand von Max Bill ist er am Aufbau der Hochschule für Gestaltung Ulm beteiligt. Später wird er Geschäftsführer des Schweizerischen Werkbundes (1961-67), danach Kulturbeauftragter der Selber Rosenthal AG (1967-85). Mit Ursula und Ernst Hiestand ist er für den Werbeauftritt der ABM verantwortlich. Zudem hat Gomringer an diversen Hochschulen, Akademien und Universitäten doziert und über die Jahre zahllose Publikationen über Kunst, Kommunikation und Literatur verfasst und herausgegeben. Seit 2000 leitet er das «ikkp – Institut für konstruktive Kunst und konkrete Poesie» im Kunsthaus Rehau.
Es macht Spass, durch die Ausstellung zu gehen, die mit den grossen freischwebenden Tafeln im Parterre beginnt, auf denen die einprägsamen Wortzaubereien vermerkt sind. (Siehe Literatur & Kunst, Archiv, Nr. 48, 03/2015).

 

 

Gedichte übersetzen
Mit dem Ziel, die internationale Komunikation nach dem Zweiten Weltkrieg zu fördern, ist Eugen Gomringers Konkrete Poesie mehrsprachig angelegt. Die sprachliche Reduktion und ihre formale Strenge erlauben es, seine Konstellationen in unterschiedlichste Zeichensystem zu übertragen. Dabei wird sichtbar, dass das Übersetzen von Gedichten immer auch eine Verwandlung bedeutet. Es gilt, Inhalt und Form zu wahren und dabei Rhythmus und Klang der Zielsprache zu treffen.

Die Ausstellung im Strauhof ist nicht als Retrospektive konzipiert – sie zeigt anhand ausgewählter Werkgruppen und Themen, wie sich Dichtung über Jahrzehnte und Generationen äussert und ändert. Dabei werden die Arbeiten von Vater und Tochter nicht miteinander vermischt, sondern in jeweils eigenen Räumen gezeigt. So werden im Laufe des Rundgangs durch die Ausstellungsräume die Parallelen und Differenzen zwischen beiden sichtbar. Der Untertitel «Gedichte leben» bezieht sich dabei sowohl auf die Entstehung von Lyrik jenseits von Buchseiten als auch auf die beiden Menschen, die ein Leben als Dichter, als Dichterin führen.

 

 

Nora Gomringer: «Monster Poems» & «Morbus» – gefilmte Gedichte

Nora Gomringer hat in den letzten 15 Jahren nicht nur zahlreiche Bücher veröffentlicht, sie ist auch oft auf den Bühnen Europas anzutreffen und nutzt die unterschiedlichsten Kanäle sowie Social Media, um ihre Lyrik auch jenseits des gedruckten Wortes zu verbreiten. Ihre langjährige Erfahrung als Rezitatorin und Poetry Slammerin bildet die Grundlage für Audio-Aufnahmen ihrer Gedichte, während sich ihre Faszination für Film und Fernsehen sowohl in den verwendeten Motiven als auch in den von ihr produzierten Videoclips ausdrückt. 2015 wurde Nora Gomringer mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt ausgezeichnet. Auszüge aus Nora Gomringers Korrespondenz mit ihrer Übersetzerin Volha Hapeyeva belegen, wie sehr das Verständnis eines Gedichts Voraussetzung für die Übersetzung ist.

 

Nora Gomringer lotet in bildhafter Sprache die Bandbreite menschlicher Abgründe aus: In «Monster Poems» (2013) mixt sie Popkultur, Mythen und Märchen mit alltäglichen Ängsten und präsentiert so ein poetisches Horrorkabinett, das in der Ausstellung im Literaturmuseum Strauhof als Dunkelkammer zum Zuhören einlädt. Gedichte aus dem «Morbus»-Zyklus (2016), der sich mit vielerlei Krankheiten befasst, sind zudem auf den Stühlen eines stilisierten Wartezimmers hörbar.

Ein weiterer Raum ist der Verbindung von Lyrik und Film gewidmet und inszeniert die Video-Clips von Gomringer als Installation aus alten TV-Bildschirmen. Gomringer zeigt ihre Poesie gern als Film. Neben Stimme und Sprechweise halten Videoaufnahmen auch Mimik und Gestik ihrer Performance als Poetry Slam-Künstlerin fest. (Siehe Literatur & Kunst, Archiv, Nr. 52, 07/2015).

 

 

Leben und Werk
Neben der Präsentation von Werken beider Dichter interessiert sich die Ausstellung auch für die Rahmenbedingungen der Entstehung von Dichtung: Wie und wo arbeiten Nora und Eugen Gomringer? Wie hat sie ihr familiäres Umfeld geprägt? Und wie arbeiten sie jetzt? Der Strauhof hat dazu ein Interview produziert, in dem Gomringer & Gomringer abwechselnd Fragen zu Dichtung und Digitalität, Arbeit und Familie beantworten. Grossformatige Fotografien dokumentieren die jeweiligen Arbeitsorte von Eugen und Nora Gomringer in Rehau bzw. Bamberg, wo Nora das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet.
Zudem sind wandfüllende Mindmaps entstanden, um zugleich fokussiert und fragmentarisch Einblick in ihre Biografien und Archive zu geben.

 

 

Die Begleitpublikation zu «Gomringer & Gomringer – Gedichte leben» mit Gedichten, Texten und Fotografien zur Ausstellung ist im Strauhof zum Vorzugspreis von CHF 12 erhältlich. Herausgeber Rémi Jaccard und Gesa Schneider, gestaltet von Jacques Borel, 104 Seiten, Zürich 2016.

 

Diverse Veranstaltungen, u.a. «Werbung konkret, Oral History-Abend» mit Eugen Gomringer, Ernst und Ursula Hiestand, Moderation Martin Heller,

Donnerstag 8. Dezember 2016, 19.30 Uhr. Literaturhaus Zürich
Finissage, Samstag, 7. Januar 2017, 19 Uhr, mit Nora Gomringer im Strauhof.
www.strauhof.ch

 

 

 

 

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