FRONTPAGE

«Valerio Olgiati in einer neuen Monografie»

Von Fabrizio Brentini

 

Vor zehn Jahren breitete der Bündner Architekt Valerio Olgiati seine Arbeiten in einem sperrigen, gleichwohl faszinierenden Buch aus, das von Dino Simonett gestaltet wurde. Damals erschien die Publikation im Walther König Verlag Köln. Inzwischen gründete Simonett mit seiner Gattin Martina Baer einen eigenen Verlag, der seit 2017 in Basel domiziliert ist.

Das Team möchte Buchkunst betreiben und nicht Massenware herstellen. Schon die Kataloge sind sorgfältigst gestaltete Buchobjekte, welche die zur Verfügung stehenden Titel wie Kleider in einem exklusiven Fashion Shop ausstellen. Man stösst da auf überraschende Namen, wie zum Beispiel auf Iouri Podladtchikov, den Olympiasieger in der Halfpipe, der in einem schmalen Bändchen seine Fotografien zeigt. Das Oeuvre von Valerio Olgiati ist im Programm des Verlags schwergewichtig vertreten. Dazu zählen nebst der ikonografischen Autobiografie zwei schmale Schriften über die Villa Além, dem neuen Wohnhaus von Olgiati in Portugal, und über das Atelier Bardill sowie die zweite, ambitionierte Monografie, die das Schaffen seit 2009 dokumentiert.

 

Zwei eigenständige Objekte
Es drängt sich der Vergleich zur ersten Publikation von 2008 auf, denn die beiden Bücher teilen miteinander das Format und das Layout, und doch sind es zwei eigenständige Objekte, wie Geschwister, welche die gleichen Wurzeln besitzen, sich aber in ihren Eigenheiten voneinander stark unterscheiden. Besteht die erste Monografie sozusagen ohne Einband, sodass die Bezeichnung «Buch» kaum verwendet werden kann – eher würde der Begriff «Maquette» zutreffen –, ist die zweite eindeutig ein Buch mit einem festen Einband, der mit einem groben, weissen Textil überzogen ist. Die Unregelmässigkeiten in der Webstruktur sind derart, dass jedes Exemplar als Unikat auftritt. Die Unterschiede werden vor allem dann auffallen, wenn die beiden Rücken in der Bibliothek aneinanderstossen. Die unverhüllten, mit vier aus dem Lot gekippten Linien markierten Bünde der ersten kontrastieren mit der makellosen Wölbung der zweiten, in die ein «o», der letzte Buchstabe des Vornamens des Architekten, geprägt ist.

 

Strenge, Klarheit und Askese

Das gemahnt an das japanische Enso-Zeichen, das im Zen-Buddhismus eine grosse Rolle spielt, aber laut Wikipedia ganz allgemein auch für die japanische Ästhetik stehen kann. Diesbezüglich lassen sich Bezüge zur Architektur von Olgiati durchaus herstellen, zeugen seine Bauten doch von einer Strenge, Klarheit und Askese, die Zen-Klöstern eigen ist. Seine Vorliebe für den unverputzten Beton verbindet ihn mit dem japanischen Baumeister Tadao Ando. Die Sehnsucht nach dem perfekten reinen Raum ist derart übermächtig, dass man sich fragen muss, wie man darin wohnen kann, weil der Alltag bekanntlich Unordnung schafft. Es ist eine Architektur, der sich wohl nur Mönche würdig erweisen können.

 

Enigmatische Diskrepenz 
Kennzeichnend für die Architektur von Oligiat ist ferner die Diskrepanz von Innen und Aussen, oder anders ausgedrückt, am Äussern ist das Innere nicht abzulesen. Selbst mit den Plänen vor Augen sind der Aufbau der Grundrisse oder die Verknüpfungen der einzelnen Raumteile kaum erfassbar. Eine geduldige Erkundung vor Ort ist vonnöten, um die ganze Komplexität eines Artefaktes zu erfassen. So kristallin sich die Objekte auf den ersten Blick präsentieren, so vehement entziehen sie sich dem raschen Zugriff. Sie bleiben enigmatisch.
Der Monografie gelingt es ausgezeichnet, dieses Geheimnisvolle zu bewahren. Fotos, Renderings und Pläne wechseln sich ab, ohne dass die Grenzen zwischen diesen Darstellungsarten scharf gezogen sind. Olgiati schrieb zu jedem der 19 präsentierten Arbeiten knappe Kommentare. Es ist jedoch kein Buch für solche, die so etwas wie eine Musterkollektion erwarten, aus der Ideen für die eigenen Entwürfe gewonnen werden können. Eher sind die Abbildungen als Gedichte zu lesen, als reduzierte Manifestationen des architektonischen Denkens. So wie in Lyrikbänden die Verszeilen zu einem Bild komponiert werden, um auch die Sinne anzuregen, so werden in der vorliegenden Monografie die Pläne durch eine dezent farbliche Textur zu eigen-ständigen Kunstwerken, Druckgrafiken ähnlich.

 

Philosophische Reflexionen
Im Grunde würde dies genügen; es bräuchte keine weiterführenden Erläuterungen. Darauf ganz zu verzichten, wollten die Herausgeber offensichtlich nicht. Jacques Lucan, vorgestellt als Architekt, Historiker, Architekturkritiker und Honorarprofessor, schrieb einen Essay, in dem einige verseuchte philosophische Begriffe auftauchen. Ein Abschnitt kreist um den Ausdruck «Erhaben», der in der Ästhetik lange Zeit eine grosse Rolle gespielt hat. Doch wer sich die Mühe nimmt, die Bedeutung dieses Begriffes zu erforschen, wird verzweifeln. Dieser bleibt unscharf. Ein anderer Abschnitt ist mit «Ontologie» betitelt, was üblicherweise übersetzt wird mit «Lehre des Seins». Diese betrifft die in der Philosophiegeschichte eminent wichtige Frage, was es gibt, beziehungsweise was man als gegeben annehmen muss. Das wird natürlich je nach philosophischer Schule unterschiedlich beantwortet. Verbindlich ist aber, dass «ontologisch» nur Dinge sein können. Wenn Lucan schreibt, dass Olgiatis Selbstreflexion ontologisch sei, ist das verwirrend, weil Tätigkeiten zu einer anderen Kategorie gehören. Erhellender sind die Gedanken von Lucan dort, wo Metaphern zur Anwendung gelangen, etwa wenn die vom Innern unabhängigen Gebäudehüllen mit dem Panzer von Krustentieren verglichen werden. Und plausibel ist die von Lucan festgestellte «Vorliebe für labyrinthische Strukturen», die er anhand einiger Beispiele erörtert.
In der ersten Monografie unterteilen drei Texte die Bilderfolge. Das wurde in der zweiten unterlassen. Der Essay von Lucan folgt ganz am Schluss, sodass man sich die poetischen Bilder ohne Unterbrechung vorführen lassen kann, am besten auf einer Liege mit einem knisternden Feuer im Hintergrund und mit einem Glas Wein.

 

 

Valerio Olgiati

Projekte 2009–2017, unpaginiert

Verlag Simonett & Baer Basel 2017

CHF 145, EUR 135.

EUR 58, 978–3–906313–14–6

 

 

 

«Architektur-Buchtipps L&K»

 

«Der Glaube an das Grosse in der Architektur der Moderne» Grossstrukturen der 1960er und 1970er Jahre

 

Betonkolosse aus der Nachkriegszeit prägen das Gesicht vieler Städte – Wie geht Stadtplanung heute mit diesem Erbe um?

 

Grossstrukturen sind ein markantes architektonisches Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und stets höchst umstritten. An Komplexen wie der Ruhruniversität Bochum, dem Klinikum Aachen oder dem Nordwestzentrum Frankfurt scheiden sich bis heute die Geister. Doch ist der Glaube an das Grosse ein konstituierendes Element in der Architektur moderner Gesellschaften.

 

Grosswohnsiedlungen, Einkaufszentren, Hochschulen für Tausende von Studierenden, Konferenzzentren oder Krankenhäuser auf der ganzen Welt zeugen als typische Bauaufgaben davon. Die Bauten wurden gross wie ganze Städte und sollten dabei so effizient wie Maschinen funktionieren. Es bildeten sich drei dominierende Konzepte für die Giganten heraus: Grossform, Bausystem und Megastruktur.
Dieses neue Buch stellt erstmals systematisch den Theoriediskurs um Grossstrukturen dar. Es eröffnet neue Perspektiven für den Umgang mit den viel geschmähten ererbten Riesen und zeigt eindrucksvoll auf, wie aktuell Debatten um das Bauen im grossen Massstab auch heute sind.
Sonja Hnilica

 

 

 

«Der Glaube an das Grosse in der Architektur der Moderne» Grossstrukturen der 1960er und 1970er Jahre
Park Books, 2018
264 Seiten, geb., 96 farbige und 178 sw Abbildungen
21 x 27 cm
CHF 49. € 48.
ISBN 978-3-03860-093-0

 

 

«ARTEC ARCHITEKTEN»

 

Bettina Götz und Richard Manahl untersuchen sowohl in ihren architektonischen Konzepten, Bauten und Wettbewerbsbeiträgen als auch in ihrer Lehrtätigkeit auf theoretischer Ebene das Verhältnis zwischen der Architektur und der Schaffung von urbanen Qualitäten.

 

Dabei geht es ihnen um typologisch-strukturelle wie um gesellschaftliche Bedingungen, um das Entwickeln von robusten Gebäudekonzepten und deren Reaktion auf den urbanen Kontext sowie auf die individuellen Raumbedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner. Mit zahlreichen Bauten, Vorträgen und Texten haben ARTEC Architekten seit ihrer Gründung 1987 wesentliche Impulse zum aktuellen Architekturdiskurs geleistet. Eines ihrer zentralen Themen ist der Wohnbau als eine die Stadt fundamental prägende Typologie.

 

In diesem manifestartigen Buch zur Denkweise von ARTEC Architekten wird eine grosse Auswahl realisierter wie nicht gebauter Projekte vorgestellt und durch sechs programmatische Essays von Bettina Götz und Richard Manahl ergänzt. Das Buchkonzept veranschaulicht, was in den Texten der Architekten theoretisch behandelt wird: Ihre Haltung zu zentralen Themen der Architektur, die spezifische Methodik ihrer Entwurfskonzepte und ihre Beschäftigung mit Geschichte und Gegenwart des Wohnens.

English Edition

 

Autoren und Herausgeber
Bettina Götz, Architektin. Studium der Architektur an der TU Graz, seit 1987 im Büro ARTEC Architekten in Wien. Seit 2006 Professorin für Entwerfen und Baukonstruktion an der Universität der Künste, Berlin.
Richard Manahl studierte Architektur an der TU Graz. 1985 Gründung von ARTEC Architekten. 2015 lehrte er als Gastprofessor an der Università luav di Venezia und 2017 als Gastprofessor an der ENSA Paris – Val de Seine.

 

 

ARTEC ARCHITEKTEN
Bettina Götz + Richard Manahl
Mit Texten von Bettina Götz und Richard Manahl

sowie einem Nachwort von Rainer Köberl
Park Books 2018, broschiert
260 Seiten, 131 farbige und 145 sw Abbildungen
16.5 x 23.5 cm
CHF 49. € 48.

ISBN 978-3-03860-091-6

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