«Winzigkeiten»
Von Hedi Wyss
Einer fällt buchstäblich aus dem gewohnten Trott, nämlich auf die Nase. Der Schmerz schärft den Blick, die Wirklichkeit schlägt über ihm zusammen.
Vor den Augen ein Fleck auf der Strasse, hell mit dunklen Rändern, die feinen Risse, wo eine Wurzel den Asphalt aufwirft, ein rosa Bonbonpapier zerknüllt, der weisse Akzent eines Zigarettenstummels. Die Welt im Detail.
Ein anderer wird krank, fällt aus dem Alltag ins Bett, aus der Hektik in lange, gleichförmige Tage. Der Ast vor dem Fenster, sein Wippen im Wind, seine Unbeweglichkeit bei ruhigem Wetter, das Grün, das wechselt je nach Licht, die Schatten die wandern im Tageslauf, ein Blatt das sich entrollt, eines das fällt. Eine Geschichte, ein Bilderbogen, die Welt im Detail.
Das Ende einer Türfalle, ein grosser Messingknopf, die Stelle, wo das Glanzlicht sitzt wie strahlendes Gold. Kleine Kratzer auf dem Metall, etwas dunkler die Schattierung unten am Knauf. Eine Komposition im Blickfeld, da ich anhalte auf der Treppe, bevor ich läute. Ein Augenblick, ein Bild, das ich im Kopf in einen Rahmen setzen kann, wenn ich warte an der Tür.
Ein Stück getünchte Mauer in einer alten Stadt. Ich hebe den Blick nicht zum historischen Turm, den die andern abknipsen. Gehe nah heran an das Weiss, aus der Nähe betrachtet wird sie zum Relief von zarten Schatten, Linien ineinander verschobenen Ebenen. Ausschnitte aus der Wirklichkeit, das Objektiv des Auges ganz nah gebracht, ausgeblendet der weitere Horizont, die grosse Sicht.
Ein Stück Haut auf einer Hand, ein Dschungel das Haar an einem Nacken, Schrunden und Risse darin, und die zarte Rötung an einem Ohr, dessen Windungen wie verwunschene Höhlen wirken. Und ein zarter Flaum am Wangenbogen wie falbes Gras auf einer trockenen Wiese.
Kinder nehmen es wahr, zeigen es uns. Noch sind sie nahe an der Erde, den Sandkrümeln in der Furche zwischen zwei Pflastersteinen, den winzigen forteilenden Insekten. All dem, was wir neu entdecken, vielleicht, wenn wir fallen.
Der Blick in die Nähe bringt Abenteuer des Sehens.