
Buchcover «Zwischen Zürich und Rio de Janeiro», Bärenreiter-Verlag, 2024

Buchvernissage «Zwischen Zürich und Rio de Janeiro». Autor und Musikwissenschaftler Luiz Alves da Silva

Musikalische Begleitung Mathias Weibel (Violine), Emanuel Forni (Gitarre) und Rafael Oliveira (Tenor)

Luiz Alves da Silva zur Hausmusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Karl der Grosse, Kirchgasse 14, Zürich

Chor in Zürich mit Chorleiter Luiz Alves da Silva

Cécile Däniker-Haller, Selbstporträt, ca. 1836

Porträt von Heinrich Däniker, undatiertes Ölgemälde
«Zwischen Zürich und Rio de Janeiro: Hausmusik im 19. Jahrhundert»
Von Luiz Alves da Silva
In Rio de Janeiro lebte das Schweizer Ehepaar Heinrich und Cécile Däniker-Haller 24 Jahre lang, von 1828 bis 1852. Sie waren nicht nur prosperierende Kaufleute und Kosmopoliten, sondern auch begeisterte Musikliebhaber und hinterliessen zahlreiche Dokumente über ihre hausmusikalische Tätigkeit in Brasilien und in der Schweiz.
Eine spannende historische Geschichte: vor allem die Briefe und Tagebücher stellen eine bislang unerforschte Quelle dar, um Praxis und Repertoire der Hausmusik ausländischer Familien in Rio de Janeiro zu untersuchen und mit der Hausmusik in Zürich zu vergleichen.
Hausmusik in berühmten Salons
Heute sieht die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert eine Epoche des Aufstiegs des Bildungsbürgertums und eine Zeit des Wohlstands einer neuen Gesellschaftsschicht, die infolge der Auflösung von Strukturen des Ancien Régime in Wirtschaft und Politik an Einfluss gewann. Dadurch begann auch die Musikpraxis in den Aktivitäten des Bürgertums eine immer wichtigere Stellung einzunehmen.
Obwohl sich das Spektrum der Forschung in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat, klafft in der Erforschung der Hausmusik nach wie vor eine Lücke: Ich spreche von breit angelegten und detaillierten Studien spezifisch bürgerlicher Familien und der Rolle, die die Musik in ihrem Alltag spielte, da diese nur an den berühmten Salons exemplifiziert wird – dem musikalischen Salon der Familie Mendelssohn, den Salons der Wiener Fürsten, in denen Beethoven verkehrte, oder den grossen literarisch-musikalischen Salons der jüdischen Salonnièren in Berlin -, jedoch nicht auf die Privathäuser des Grossbürgertums und des mittleren oder unteren Bürgertums verwiesen wird. In der bibliografischen Recherche wurde deutlich, dass Studien, die sich auf die privaten Dokumente einer bürgerlichen Familie wie den Däniker-Hallers stützen, bisher nicht existieren.
Die Publikation erforscht im Rahmen der historischen Musikwissenschaft, wie sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Zürich und Rio de Janeiro aufgrund von Dokumenten von Heinrich und Cécile Däniker-Haller die Hausmusikpraxis gestaltete, einem Schweizer Ehepaar, das 23 Jahre lang in Brasilien lebte, bevor es 1852 in die Schweiz zurückkehrte.
Heinrich Däniker (1795-1866), in Zürich in eine Familie von Glasern geboren, hatte von klein auf Geigenunterricht und spielte als Jugendlicher mit dem Gedanken, ob er statt den Beruf seines Vaters als Glaser zu ergreifen, sich als professioneller Violinist versuchen sollte. Seine Grand Tour durch Europa, die er im Alter von 19 Jahren begann, führte ihn in mehrere deutsche, österreichische und polnische Städte, bis er sich schliesslich in St. Petersburg niederliess, wo er in einem Internat für Knaben aus adligen Familien als Mathematik- und Französischlehrer arbeitete.
Mit 33 Jahren beschloss er 1828, den Beruf zu wechseln. Er wanderte nach Brasilien aus, um in Rio de Janeiro eine Import- und Exportfirma zu gründen, deren Geschäfte bald florierten. Parallel dazu begann sich Heinrich intensiv als Amateurgeiger zu betätigen, wobei er schliesslich sogar in öffentlichen Konzerten im Theater Sao Francisco de Paula in Rio de Janeiro mitspielte.
Seine erste Begegnung mit Hausmusik in Brasilien hatte Heinrich Däniker schon während seines ersten Aufenthalts in Salvador da Bahia, wo er zum ersten Mal an Land ging. In Rio de Janeiro wohnte Heinrich zuerst im Hause des Barons von Langsdorff, der in Rios Gesellschaft bekannt dafür war, häufige musikalische Soireen mit Orchestermusikern des Teatro Sao Joao zu veranstalten. Einige Jahre zuvor hatten auch Padre José Mauricio Nunes Garcia, Kapellmeister am brasilianischen Königshof, und der österreichische Komponist Sigismund Neukomm an Langsdorffs Soireen teilgenommen. Wie Däniker hatte auch Neukomm viele Jahre am russischen Hof in St. Petersburg gelebt. In der ersten Zeit in Brasilien waren musikalische Soireen für Heinrich Däniker, einem unverheirateten Mann, der daran arbeitete, sein Import- und Exportgeschäft aufzubauen, die einzige Gelegenheit zur Geselligkeit. In die frühen 1830-er Jahre fiel Heinrich Dänikers intensivste Zeit als aktiver Amateurmusiker in Brasilien, wobei er sogar öffentliche Auftritte bestritt.
1834 reiste Heinrich in die Schweiz und heiratete Cécile von Haller (1816-1887), die Tochter einer bedeutenden Berner Patrizierfamilie. Ihr Urgrossvater, Emanuel Haller, Buchhändler und -drucker, war der Bruder von Albrecht von Haller (1708-1777), einer der wichtigsten Denker und Universalgelehrten der europäischen Aufklärung und Verfasser des berühmten Gedichts Die Alpen. Cécile war 16 Jahre alt, als ihre Eltern starben und lebte zu jener Zeit in dem von Pfarrer Reymond geführten Internat Molteno-Favre in Payerne. Dank ihren vielfältigen Fähigkeiten, – sie beherrschte Französisch, Englisch und Italienisch, hatte als Zeichnerin und Malerin grosses Talent (das Buchcover zeigt ihr Aquarell von Rio de Janeiro) und war eine souveräne Reiterin -, erhielt sie eine Anstellung als Lehrerin, als das Internat 1834 nach Lausanne umzog. Dort hatte sie 1835, kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstag, Heinrich Däniker kennengelernt. Im Jahr danach kehrte die junge Familie nach Rio de Janeiro zurück. Da Cécile Klavier und Gitarre spielte und sang, intensivierten sich ihre hausmusikalischen Aktivitäten beträchtlich.
Eine ganze Epoche wird lebendig
Die dokumentarische Sammlung der Däniker-Hallers befindet sich heute im Genealogischen Archiv der Helene und Cécile Rübel Familienstiftung (FA HCR). Vom Ehepaar Däniker-Haller verfügt das Archiv etwas mehr als tausend Briefe, Tagebücher, Notizbücher, Notizen auf losen Zetteln, Entwürfe, Gedichte auf losen Blättern etc. Der nicht handschriftliche Teil besteht u.a. aus Zeichnungen, Gemälden, Daguerreotypien, losen Fotografien, Fotoalben, Postkarten, Landkarten, Zeitungsausschnitten.
Die Lebensgeschichte von Cécile und Heinrich Däniker-Haller gewährt nicht nur einen aufschlussreichen Einblick in zahlreiche Bereiche des europäischen und brasilianischen Musiklebens, sondern auch in die Geschichte Brasiliens, insbesondere die Zeit der Regentschaft (1831-1840) und den Beginn der Herrschaft von Kaiser Pedro II. (gekrönt 1841), sowie in die Schweizer Geschichte – von der Helvetik und Mediation (1798-1814) über den Staatenbund (1814-1847) bis in die ersten Jahre des 1848 geschaffenen Schweizer Bundesstaats.
Die Briefe des Ehepaars stellen, insbesondere aus ihren Jahren in Rio de Janeiro, ein Ensemble von Zeugnissen dar, die sich deutlich von dem unterscheiden, was wir in den Reiseberichten aus dem Brasilien des 19. Jahrhunderts finden, da sie Ereignisse, die sie miterlebten, zu ihrem eigenen Vergnügen festhielten, doch nie in der Absicht, sie zu veröffentlichen.
Familienleben in Rio de Janeiro
Bei ihrer Ankunft in Rio de Janeiro gleichen Céciles erste Eindrücke denjenigen vieler anderer Reisenden des 19. Jahrhunderts: zuerst das Staunen über die Naturwunder, die Schönheit der Bucht von Rio de Janeiro, danach das Entsetzen über die Sklavenarbeit und den Schmutz in der Stadt. Nachdem sie sich niedergelassen und in einem neuen Haus eingerichtet hatten, nahm ein intensives Gesellschaftsleben seinen Anfang, an das sich Cécile Jahre später, als sie wieder in Zürich lebte, mit grosser Sehnsucht erinnerte.
Cécile hatte sich rasch eingelebt und in die Gesellschaft der ausländischen Kaufleute und Diplomaten integriert, ihr gefiel das Leben in Brasilien. Im November 1837 erzählt sie in Briefen an ihre Zürcher Freundinnen von Ausflügen, die sich in der Umgebung von Rio de Janeiro lohnen, wie etwa in die kaiserlichen Gärten: «Der angenehmste Spaziergang, der die schattigsten Alleen darbietet, ist in den kaiserlichen Gärten, denn wir wohnen ganz nahe bei dem Palaste von Christovao, wo sich der junge Kaiser gewöhnlich aufhält». Der Kreis der Personen, die in Brasilien mit den Däniker-Hallers verkehrten, bestand im Wesentlichen aus ausländischen Kaufleuten, Grossgrundbesitzern, Künstlern, Klerikern, Diplomaten, Militärs und Adligen aus verschiedenen Nationen.
Zum Thema Hausmusik schreibt Cécile ihren Freundinnen Luise und Rosalie Meyer in Zürich schon im Jahr 1836 aus Rio de Janeiro: «Ich habe ein sehr gutes Piano». Sie erzählt von ihrem Alltag und der Rolle, welche die Musik darin spielt. In den Briefen und Tagebüchern finden sich 59 Personen, die im Zusammenhang mit Hausmusik erwähnt werden. Die Frauen sangen und spielten Klavier, die Männer sangen und spielten Violine oder Flöte. Die Gitarre scheint für beide Geschlechter gleich geeignet gewesen zu sein, sie wurde ebenso oft von Frauen wie von Männern gespielt. Zwei andere Instrumente, sind das Cello – stets von Männern gespielt – und die Harfe, die wiederum von Frauen und Männern gespielt werden konnte.
Eine weitere bedeutende Rolle im gesellschaftlichen und musikalischen Umfeld der Däniker-Hallers spielte eine Reihe von Berufsmusikern, die in privatem Rahmen auftraten. Im 19. Jahrhundert war es selbstverständlich, dass Berufsmusiker bei Haus- und Salonanlässen spielten, oft auch gemeinsam mit Amateurmusikern. Die Dänikers hatten oft Gelegenheit, gemeinsam mit Berufsmusikern Musik zu machen, sowohl in Rio de Janeiro wie auch in Zürich.
Im Jahr 1852 zogen die Dänikers mit ihren sechs Kindern zurück nach Zürich, genau zu der Zeit, als Richard Wagner hier seine Triumphe feierte. Heinrich spielte im Orchester der Allgemeinen Musik-Gesellschaft Zürich (AMG) sogar mehrere Konzerte unter Wagner. Nach zwei weiteren Aufenthalten Heinrichs in Brasilien starb er 1866 in Zürich; seine Frau Cécile überlebte ihn um 21 Jahre und starb im Jahr 1887 in Zürich.
Eine spannende vielschichtige Exkursion in eine musikalische Lebensgeschichte in zwei Welten.
Luiz Alves da Silva
Zwischen Zürich und Rio de Janeiro
Hausmusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Aus dem Portugiesischen von Daniel Schnurrenberger
Hrsg. Hans-Joachim Hinrichsen, Matthias Schmidt, Cristina Urchueguía
Bärenreiter Verlag, Kassel 2024
Softcover, 352 S., div. Abb.
CHF 69.90
ISBN 978-3-7618-2616-4
Luiz Alves da Silva promovierte nach seiner Karriere als Solosänger mit der vorliegenden Publikation in historischer Musikwissenschaft an der Universidade Nova von Lissabon. Er lebt und arbeitet in der Schweiz als Chorleiter und engagiert sich in sozialen Musikprojekten in Brasilien.
Luiz Alves da Silva wurde in Brasilien geboren, wo er auch seine erste musikalische Ausbildung erhielt. 1982 gewann er den ersten Preis beim Wettbewerb des São Paulo-Symphonieorchesters für junge Sänger. 1983-89 studierte Luiz Alves da Silva an der Schola Cantorum Basiliensis bei Kurt Widmer Gesang, bei Christoph Schmidt gregorianische Musik und bei Hans Martin Linde Chorleitung. 1989-90 war er Mitglied des Internationalen Opernstudios Zürich. Er ist Gewinner des Studienpreises des Migros-Genossenschaftsbundes, der Ernst Göhner-Stiftung und des Präsidialdepartementes der Stadt Zürich.
Aufgrund seines sozialen Engagements wurde Luiz Alves da Silva Ehrenbürger seiner Heimatstadt Videira. 2005 wurde er mit der Auszeichnung „Medalha do Mérito Cultural Cruz e Sousa“ vom Staat Santa Catarina geehrt.
Der Kanton Zürich hat ihm in Anerkennung für seine musikalischen und sozialen Verdienste im Jahre 2011 den «Nikolaus-Harnoncourt-Preis» verliehen.
In Europa hat er eine rege Konzerttätigkeit entfaltet, so u.a. mit dem „Clemencic-Consort“ Wien, „Istitutioni Harmoniche“ Bologna, „Ensemble 1492“ London, „Ensemble Turicum“ Zürich, wie auch „Hesperion XX“ und „Capella Reyal“ Barcelona unter der Leitung von Jordi Savall, wo er auch bei zahlreichen Aufnahmen mitgewirkt hat.
Im Dezember 1990 sang Luiz Alves da Silva im Wiener Konzerthaus die Titelrolle in Mozarts Oper „Ascanio in Alba“. Weitere Konzert-und Opernengagements folgten: am Stadttheater Ulm (Ligetis „Le Grand Macabre“), dem Theatre des Champs Elysees Paris, dem Opernhaus Zürich (Ligetis „Le Grand Macabre“, Händels „Deidamia“), Bieler Musiktheater (Brittens „Sommernachtstraum“), Konzertgebow Amsterdam, Fundação Gulbenkian Lisboa, Galway und Kilkenny Festivals in Irland, Victoria Hall Genf, Filharmonia Warschau, Auditorio Nacional Madrid, Styriarte Graz, Festival Taegu in Südkorea, Teatro Amazonas in Manaus, Festival Tartu in Estland, etc.
Sein besonderes Interesse gilt der zeitgenössischen Musik für Kontratenor. Verschiedene Komponisten haben auf seine Anregung Werke für diese Stimmlage komponiert, wie z.B. J.H. Lehmann, M.Käser und A. Stahl. Im Januar 2000 erschien ein CD „Gramond-Porträt“ von Luiz Alves da Silva mit Werken, die für ihn geschrieben worden sind.
Das Vokalensemble TONanTON präsentiert Konzerte mit nur selten rezipierter Musik. Das Repertoire reicht von Renaissance bis Romantik, wobei auch Arrangements und Kontrafakturen des musikalischen Leiters, Luiz Alves da Silva, zu Gehör gebracht werden. Zentrales Anliegen des Chors ist es, dem Publikum mit Werken ausserhalb des gängigen Chorrepertoires Freude zu bereiten.